Zeitgenossen oder Nachwelt ? Die Beurteilung klassischer Werke

  • Liebe Taminoianer


    Immer wieder dürfen wir erleben (und dies ist in diesem Zusammenhang wörtlich gemeint), daß die Einschätzung von Komponisten zu ihren Lebzeiten anders war, als wir das heute beurteilen würden.


    Bei einigen Komponisten kann man sogar die wechselnden Einschätzungen im Laufe der Jahrhunderte anhand von Musikliteratur verfolgen.


    Da ergibt sich nun die Frage: Wer hat recht ?


    Oder anders formuliert: Wer ist die letzte Instanz: Zeitgenossen oder Nachwelt ?


    Wobei das Wort "Nachwelt" ja eine nie abgeschlossene Zeitspanne mit andauernd wechselnden Werten beinhaltet.


    Man kann hiezu verschiedene Standpunkte einnehmen:


    Beispielsweise "Geschrieben wurden die Werke letztlich für ein "zeitgenössisches Publikum. Der Komponist musste versuchen diesem zu gefallen - sonst hätte er nicht überlebt, bzw wäre nie berühmt geworden...."



    Man kann aber auch sagen:


    "Nur was überlebt, die diversen Zeiten überdauert hat ist wirklich gut"


    Daß diese Binsenweisheit sehr leicht anfechtbar ist weiß glaube ich jeder von uns......



    ein anderer Bewertungsschlüssel:


    " Desto komplexer ein Thema aufgebaut ist, desto wertvoller ist die Komposition"


    oder aber:


    "Mit geringsten kompositorischen Mitteln solch ein naives, aber doch eindringliches Thema zu erfinden, das ist wahre Kunst."


    etc etc.


    Dann gibt es noch jene, die von einem Komponisten ein "Voranbringen" der Kompositionstechnik" verlangen, Innopvationen etc, und die es als Positivum sehen, wenn der Komponist zu Lebzeiten als unanhörbar galt......



    In diesem Sinne:


    Das Therma ist eröffnet...


    mfg
    aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Lieber Alfred,


    vielen Dank für die schöne Vorlage. Ich werde versuchen Deine Fragen (vorläufig) zu beantworten.


    Letzte Instanz kann eigentlich immer nur die (=unsere) Gegenwart sein. Nur ist dieses Urteil relativ, es kann von der nächsten Generation in Frage gestellt und revidiert werden. Oder anders: jedes Urteil wird von einer nachfolgenden Generation als ein erklärbarer Sonderfall genommen eines Gesetzes, das die Gegenwart besser und umfassender zu formulieren versteht.


    Die Achtung der Zeitgenossen wird man in einem Fall als Mode, im anderen Fall als Kennerschaft charakterisieren, je nachdem ob die Meinung mit der der jeweiligen Gegenwart übereinstimmt oder nicht übereinstimmt.


    Das Modell, das eine Kontinuität mit den Urteilen der Vergangenheit herstellt, ist die Vorstellung, dass jede Gegenwart die Strukturen und damit die Urteile der Vergangenheit enthält und sich in spezifischer Weise ihnen gegenüber verhält.


    Insofern ist es möglich, auch heute von einem Werk von Ockeghem ergriffen zu werden, obwohl man die Voraussetzungen der Komposition allenfalls implizit durch die gesellschaftliche Vermittlung erfassen kann.


    Die Gefahr ist allerdings, dass sich das ästhetische Verweisungssystem, die gebrauchten Zeichen, inzwischen so geändert haben, dass die ästhetische Information missverständlich ist.


    Das Positive des gegenwärtigen Historismus ist, dass er den Eigenwert der Komposition gegenüber einer naiven Aneignung behauptet. Dies geht allerdings nur, indem eine Bringschuld gegenüber dem Werk eingefordert wird. Der Rezipient ist aufgefordert, sich die Grundlagen der ästhetischen Kommunikation anzueignen, der das Werk zu verdanken ist.


    Es wäre aber eine Illusion, dass das ursprüngliche Erlebnis des Kunstwerks rekonstruierbar wäre. Selbst wenn man alle Konstituenten herstellen könnte (Instrumente, Spielweise, Akkustik, Aufführungsbedingungen), der Mensch, der das Werk heute erlebt, ist der gegenwärtige, nicht der historische Mensch.


    Dies erst wenige unvorgreifliche Gedanken zum Einstieg.


    Liebe Grüße Peter

  • Salü,


    Zitat

    Original von pbrixius
    Letzte Instanz kann eigentlich immer nur die (=unsere) Gegenwart sein.


    da bin ich ganz anderer Ansicht - Instanzen haben für mich in der Musik bzw. Kunst im Allgemeinen nicht viel verloren, zudem klingt wir das wörtlich zu rechtswissenschaftlich orientiert.


    Im Laufe meiner Hörerfahrung habe ich mich dazu entwickelt, mit den Ohren des damaligen Publikums zu hören. Das klingt ziemlich unmöglich und ich kann es auch nicht weiter Beschreiben, als es als Tatsache hinstellen. Ich bin aber der Meinung, dass es durchaus funktioniert. Wie anders ließe sich der Wert eines aus der Mode gekommenen Werkes/Stiles "beurteilen"?


    Der "Wert" eines Werkes, der ja im Prinzip nicht darstellbar ist, kann sich auch m. E. nur durch den durchaus nachweisbaren Erfolg zur Zeit der Uraufführung ablesen lassen - was heute, also in einem kurzen Abschnitt der "Nachwelt" davon übrig geblieben ist, ist mehr oder weniger Zufall, der allerdings offenbar bei der "Bewertung" eine allzu große Rolle spielt, was ich persönlich nicht verstehe. Wenn ich z. B. die Bekannte Mona Lisa anschaue, dann frage ich mich durchaus, was die Allgemeinheit daran so toll findet? Ich akzeptiere aber, dass es heute als Kunstwerk angesehen wird, wenn ich auch selbst solch ein Bild nichtmal auf dem Speicher einmotten würde...


    :untertauch:


    Interessant wäre für mich da zunächst, was das Bild zu Lebzeiten des Malers bewirkte - in welchem Kontext es stand, wie die Betrachter der damaligen Zeit reagierten. Dann würde ich auch das Kunstwerk begreifen.


    Viele Grüße
    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Hallo!


    Ich persönlich vertraue eher auf die Ansicht der Zeitgenossen des Komponisten, aber auch auf die heutigen "Kritiken". Ein konkretes Beispiel war für mich der Fall Mozart 2006.


    Durch das elende Mozartjahr war ich schon so von dem Tam-Tam rund um seine Person gelangweilt und hatte einen regelrechten Hass auf seine Musik!


    Also dachte ich mir, das kann doch nicht alles aus dieser Epoche sein. Also hab ich mir einige Briefe Mozarts durchgelesen, in der Hoffnung Aufschlüsse über Komponistenkollegen zu bekommen. Und siehe da, es gelang:
    Salieri
    Rosetti
    Cannabich
    Rosetti
    Lernte ich durch das Studium dieser Briefe kennen.


    Ich, als angehender Geschichtestudent, achte immer sehr genau auf das damalige Urteil, denn mMn hat die Meinung von damals durchaus Gewicht. Die Leute waren auch nicht blöd und wenn etwas damals Erfolg gehabt hat, muss es gut sein, denn Schrott schaut man sich (Fast) nie freiwillig an, oder?


    Dass manche Werke erst heute in den Himmel gejubelt werden, ist legitim, aber ich halte davon nicht viel. Das Urteil der Zeitgenossen achte ich höher, als das der heutigen Kritiker. Denn wenn ich auf die hören würde, müsste man 80% der Donizetti-Opern in die Tonne treten, obwohl er damals Volksheld war!


    LG joschi


  • Dass Rosetti überhaupt und gleich zweimal in Mozarts Briefen vorkommt ist mir neu - da werde ich auch gleich mal blättern.


    :yes:


    Viel eher findet man Gluck, Kozeluch, Myslivecek, Vanhal, Dittersdorf...


    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Banner Trailer Gelbe Rose
  • Lieber Joschi,


    für einen Historiker halte ich Dein Vorgehen auch für das gegebene. Wenn ich aber heute künstlerische Werke der Vergangenheit beurteile, ist es meiner Meinung nach nicht so einfach.


    Ich kann Deinem Urteil voll und ganz zustimmen, wenn ich vorher geklärt habe, wer die Zeitgenossen sind, denen ich in meinem Urteil folge. Ein Plebiszit kann in Sachen Kunst nicht geben. Wenn ich nun aber - und das werde von wenigen Ausnahmen abgesehen immer antreffen - zwei widersprechende Meinungen vorliegen habe - nach welchem Kriterium verfahre ich.


    Des Beispiels wegen nehmen wir einmal an, Händels Ausspruch über Gluck hätte tatsächlich so gelautet, wie anekdotenhaft überliefert. Dass Bach in den Augen von Händel so uninteressant war, dass er ihn quasi nicht wahrnahm, wäre ein anderer Fall. Auf der anderen Seite kann ich für Bach und Gluck natürlich eine Reihe von Zeitgenossen zitieren, die für die beiden sprechen.


    Kurz: das Urteil der Zeitgenossen ist nicht eindeutig, übrigens in Sachen Donizetti auch nicht. Populär war Kozeluch und nicht Mozart usw.


    Als Historiker untersuche ich die Gründe der zeitgenössischen Wertung und der Rezeption, als Musikwissenschaftler komme ich allerdings an einer eigenen begründeten Wertung nicht vorbei (ebenso als Kritiker) - die ist natürlich nie endgültig und immer hinterfragbar.


    Ein Werk, das für die Gegenwart seine Bedeutung verloren hat, ist (zumindest vorläufig) ein historisches Dokument. Es sagt eben etwas über die damalige Zeit aus. Damit ist es für mich als Historiker interessant.


    Ein Kunstwerk, das den heutigen Hörer nicht ins Herz trifft, hat die Aura verloren, die es zum Kunstwerk macht.Wenn ich also ein klassisches Werk als Kunstwerk beurteilen will, hilft mir die damalige Zustimmung nichts, wenn sie nicht mit der heutigen korrespondiert.


    LG Peter

  • Hallo Peter!


    Man sollte, wie du schon sagtest, zuerstmal klären, welchen Zeitgenossen ich glaube und welchen nicht. Ein Urteil von einem großen Komponisten, der einen heute unbekannten Meister als genial und großartig beschreibt, dem glaube ich natürlich, denn der Mensch hat von Musik Ahnung! :D


    Auch der Publikumsgunst, vor allem bei den Opern, ist zu trauen, auch wenn viele Händel-Opern damals stark unter Wert gehandelt wurden (Deidamia, Giustino).


    Zitat

    Ein Kunstwerk, das den heutigen Hörer nicht ins Herz trifft, hat die Aura verloren, die es zum Kunstwerk macht.


    Das würd ich für mich nicht so stehen lassen. Wenn ich mir manche Opern anhöre, denke ich mir, dass das damals sicherlich nicht angekommen ist und es auch heute nicht tut. Aber trotzdem hat der "Schaffer" es als Kunstwerk gesehen und daher sollte man sich nicht anmaßen, das Werk nicht als solches zu sehen. Jedes Musikalische Werk, egal, ob es bewegt oder nicht ist mMn ein Kunstwerk.


    Zitat

    Wenn ich also ein klassisches Werk als Kunstwerk beurteilen will, hilft mir die damalige Zustimmung nichts, wenn sie nicht mit der heutigen korrespondiert.


    Oh doch, die hilft mir schon. Bei genauem Quellenstudium kann man natürlich herausfinden, was damals die Begeisterung an diesem Werke auslöste. Bei den Barockopern haben wir allerdings das Problem, dass viele Menschen damals nur wegen den Kastraten in die Oper gegangen sind.


    Und da hängt die heutige Wahrnehmungsform. Keiner weiß, wie sich das angehört hat. Wir können es nur erahnen. Wie können die Begeisterung, die damals herrschte nie verstehen und werden es niemals können. Trotzdem ist das Werk ein geniales Kunstwerk, obwohl es heute nicht mehr so bewegt, wie damals!


    LG joschi

  • Zitat

    Original von pbrixius
    Ein Kunstwerk, das den heutigen Hörer nicht ins Herz trifft, hat die Aura verloren, die es zum Kunstwerk macht.


    Lieber Peter,


    Natürlich ist das subjektiv. Denn viele Menschen werden gerührt von Wagner. Mich dagegen ekelt seine Musik an. :yes:
    Bei mir ist es so: werde ich gerührt von einem Werk, auch wenn jene Komposition an sich völlig unwichtig ist, dann ist das für mich ein Kunstwerk.


    Ein guten Beispiel habe ich in einem Orgelkonzert von John Stanley (1712-1786). Manche Taminos sagten, die Orgelwerke von Stanley (nur für die Orgel übrigens) fanden sie schlechthin langweilig oder nicht interessant.
    Dieser langsamen Satz aus jenem Orgelkonzert (Orgel + Orchester) finde ich aber bezaubernd schön. Ich gestehe sofort, die andere Konzerte von ihm auf jener LP sind gut für Unterhaltungsmusik. Aber dennoch...


    Solche Musik ist - nochmals - für mich ein Kunstwerk. Was andere Menschen auch behaupten, Experte oder nicht.
    Es bleibt, wie immer, eine reine Geschmackssache.


    LG, Paul

  • Hallo Joschi,


    wenn man es einmal vom praktischen Standpunkt aus ansieht, ist die Menge der Komponisten, die von ihren Zeitgenossen hoch geschätzt wurden, und die der Komponisten, die heute hoch geschätzt werden, weitgehend identisch. Die Unterschiede ergeben sich nur in einer (immer fragwürdigen) Reihenfolge und die Gründe, warum sie geschätzt werden. Wenn Verdi wegen seiner Engagements beim Risorgimento gefeiert wird, ist das für uns heute kein Gesichtspunkt, ebenso wenig wie die Kritik an ihm, die ihm Wagnerismus vorwarf.


    Wenn ich die Kriterien von heute als die maßstäblichen nannte, dann in diesem inhaltlichen Sinn



    Zitat

    Original von DonBasilio
    Man sollte, wie du schon sagtest, zuerstmal klären, welchen Zeitgenossen ich glaube und welchen nicht. Ein Urteil von einem großen Komponisten, der einen heute unbekannten Meister als genial und großartig beschreibt, dem glaube ich natürlich, denn der Mensch hat von Musik Ahnung! :D


    Wenn ich mir mal die Urteile von Strawinsky über zeitgenössische Komponisten ansehe :pfeif:


    Zitat

    Auch der Publikumsgunst, vor allem bei den Opern, ist zu trauen, auch wenn viele Händel-Opern damals stark unter Wert gehandelt wurden (Deidamia, Giustino).


    Bekanntlicherweise ging es Bizet und Offenbach auch so ...


    Zitat


    Das würd ich für mich nicht so stehen lassen. Wenn ich mir manche Opern anhöre, denke ich mir, dass das damals sicherlich nicht angekommen ist und es auch heute nicht tut. Aber trotzdem hat der "Schaffer" es als Kunstwerk gesehen und daher sollte man sich nicht anmaßen, das Werk nicht als solches zu sehen. Jedes Musikalische Werk, egal, ob es bewegt oder nicht ist mMn ein Kunstwerk.


    Da korrigiere ich mich - und suche nach einem neuen Begriff ;) Du hast natürlich Recht, unabhängig von dem Rang, dem wir ihm beilegen, ist und bleibt es ein Kunstwerk (ich ziehe auch diese "informelle" Zuordnung vor). Es hat sich allerdings in die "Erstarrungsform" eines Kunstdokuments verwandelt.


    Zitat


    Oh doch, die hilft mir schon. Bei genauem Quellenstudium kann man natürlich herausfinden, was damals die Begeisterung an diesem Werke auslöste. Bei den Barockopern haben wir allerdings das Problem, dass viele Menschen damals nur wegen den Kastraten in die Oper gegangen sind.


    Womit ich sehe, dass wir uns einig sind :)


    Zitat

    Und da hängt die heutige Wahrnehmungsform. Keiner weiß, wie sich das angehört hat. Wir können es nur erahnen. Wie können die Begeisterung, die damals herrschte nie verstehen und werden es niemals können. Trotzdem ist das Werk ein geniales Kunstwerk, obwohl es heute nicht mehr so bewegt, wie damals!


    Ich habe auch dagegen nichts einzuwenden - denn das bedeutet auf jeden Fall, dass wir noch Kriterien benennen müssen, die dieses Werk "genial" machen. Zum "Genialen" gehört das Neuschöpferische, das Innovative - damit müssen wir das Werk positiv in Beziehung setzen zu Werken, zu denen es sich innovativ verhält - und (das wäre mein zusätzliches Kriterium) zu Werken, die es beeinflusst.


    LG Peter

  • Banner Trailer Gelbe Rose
  • Banner Interviebanner 1 Gelbe Rose
  • Ich habe jetzt diesen Thread sehr interessiert verfolgt.
    Manches fand meine Zustimmung - manches weniger, alles kann man ja leider nicht ausdiskutieren.


    Aber dann habe ich EINEN Satz gefunden - und hier möchte ich mich einklinken:


    Zitat

    Zum "Genialen" gehört das Neuschöpferische, das Innovative


    Mag sein. Man könnte darüber diskutieren, aber das würde nur wenig bringen


    Mir drängt sich in diesem zusammenhang eine Frage auf:


    Muß Musik, die gefällt (schon an diesem terminius technicus stoßen sich viele) unbedingt genial sein ??
    Man stelle sich vor Mozart hätte Nachfolger gehabt, welche in gleicher Qualität und im gleichen Stil bis heute komponiert hätten ? - Ohne Innovation - aber hervorragen gemacht, so daß Publikum und Kritikern das Wasser im Munde zusammenliefe ...


    Das wäre dann gewiss keine "geniale" Musik - aber doch "hervorragende" (??)


    Wohin haben uns denn all diese Innoivationen gebracht ?


    Zu einer Musik die kaum jemand hören möchte...


    mfg
    aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !