BWV 21: Ich hatte viel Bekümmernis
Kantate zum 3. Sonntag nach Trinitatis (vermutlich Weimar, 1714)
Lesungen:
Epistel: 1. Petr. 5,6-11 (Alle eure Sorge werfet auf ihn; denn er sorget für euch)
Evangelium: Luk. 15,1-10 (Gleichnisse vom verlorenen Schaf und verlorenen Groschen)
Elf Sätze, Aufführungsdauer: ca. 44 Minuten
Textdichter: unbekannt, möglicherweise Salomon Franck (1659-1725)
Choral: Georg Neumark (1641/ 57)
Besetzung:
Soli: Sopran, Tenor, Bass; Coro: SATB; Oboe, Fagott, Trompete I-III, Posaune I-IV, Pauken, Violino I/II, Viola, Continuo
1. Sinfonia (c-moll) Oboe, Streicher, Continuo
2. Chorus SATB, Oboe, Fagott, Streicher, Continuo
Ich hatte viel Bekümmernis in meinem Herzen;
aber deine Tröstungen erquicken meine Seele.
3. Aria Sopran, Oboe, Continuo
Seufzer, Tränen, Kummer, Not,
Ängstlich’s Sehnen, Furcht und Tod
Nagen mein beklemmtes Herz,
Ich empfinde Jammer, Schmerz.
4. Recitativo Tenor, Streicher, Continuo
Wie hast du dich, mein Gott,
In meiner Not,
In meiner Furcht und Zagen
Denn ganz von mir gewandt?
Ach! kennst du nicht dein Kind?
Ach! hörst du nicht das Klagen
Von denen, die dir sind
Mit Bund und Treu verwandt?
Du warest meine Lust
Und bist mir grausam worden:
Ich suche dich an allen Orten;
Ich ruf’ und schrei dir nach,
Allein mein Weh und Ach!
Scheint itzt, als sei es dir ganz unbewusst.
5. Aria Tenor, Fagott, Streicher, Continuo
Bäche von gesalz’nen Zähren,
Fluten rauschen stets einher.
Sturm und Wellen mich versehren,
Und dies trübsalsvolle Meer
Will mir Geist und Leben schwächen,
Mast und Anker wollen brechen,
Hier versink’ ich in den Grund,
Dort seh’ ich der Hölle Schlund.
6. Chorus SATB, Oboe, Fagott, Streicher, Continuo
Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir?
Harre auf Gott!
Denn ich werde ihm noch danken, dass er meines Angesichtes Hilfe und mein Gott ist.
Nach der Predigt
7. Recitativo Sopran, Bass, Streicher, Continuo
Seele
Ach Jesu, meine Ruh’,
Mein Licht, wo bleibest du?
Jesus
O Seele, sieh! Ich bin bei dir.
Seele
Bei mir?
Hier ist ja lauter Nacht.
Jesus
Ich bin dein treuer Freund,
Der auch im Dunkeln wacht,
Wo lauter Schalken seind.
Seele
Brich doch mit deinem Glanz und Licht des Trostes ein!
Jesus
Die Stunde kömmet schon,
Da deines Kampfes Kron’
Dir wird ein süßes Labsal sein.
8. Aria Duetto Sopran, Bass, Continuo
Seele
Komm, mein Jesu, und erquicke
Und erfreu mit deinem Blicke!
Jesus
Ja, ich komme und erquicke
Dich mit meinem Gnadenblicke.
Seele
Diese Seele,
Die soll sterben
Und nicht leben
Und in ihrer Unglückshöhle
Ganz verderben.
Ich muss stets in Kummer schweben,
Ja, ach ja, ich bin verloren,
Nein, ach nein, du hassest mich.
Jesus
Deine Seele,
Die soll leben
Und nicht sterben
Hier aus dieser Wundenhöhle
Sollst du erben
Heil durch diesen Saft der Reben.
Nein, ach nein, du bist erkoren,
Ja, ach ja, ich liebe dich.
Seele
Ach, Jesu, durchsüße mir Seele und Herze!
Komm, mein Jesu und erquicke
Mich mit deinem Gnadenblicke.
Jesus
Entweichet, ihr Sorgen, verschwinde, du Schmerze!
Ja, ich komme und erquicke
Dich mit meinem Gnadenblicke.
9. Chorus + Choral SATB, Oboe, Posaune I-IV, Streicher, Continuo
Sei nun wieder zufrieden, meine Seele, denn der Herr tut dir Gut’s.
Was helfen uns die schweren Sorgen,
Was hilft und unser Weh und Ach?
Was hilft es, dass wir alle Morgen
Beseufzen unser Ungemach?
Wir machen unser Kreuz und Leid
Nur größer durch die Traurigkeit.
Denk’ nicht in deiner Drangsalshitze,
Dass du von Gott verlassen seist,
Und dass Gott der im Schoße sitze,
Der sich mit stetem Glücke speist.
Die folgend’ Zeit verändert viel
Und setzet jeglichem sein Ziel.
10. Aria Tenor, Continuo
Erfreue dich, Seele, erfreue dich, Herze,
Entweiche nun, Kummer, verschwinde, du Schmerze!
Verwandle dich, Weinen, in lauteren Wein!
Es wird nun mein Ächzen ein Jauchzen mir sein.
Es brennet und flammet die reineste Kerze
Der Liebe, des Trostes in Seele und Brust,
Weil Jesus mich tröstet mit himmlischer Lust.
11. Chorus SATB, Trompete I-III, Oboe, Fagott, Pauken, Streicher, Continuo
Das Lamm, das erwürget ist, ist würdig zu nehmen
Kraft und Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre und Preis und Lob.
Lob und Ehre und Preis und Gewalt sei unser’m Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Amen, alleluja!
Diese besonders schöne Bach-Kantate (sie zählt zu meinen persönlichen Favoriten!) ist - was ihre Entstehungsgeschichte betrifft - nicht ganz eindeutig zu datieren:
Eventuell ist sie bereits im Jahre 1713 komponiert worden, anlässlich einer Bewerbung Bachs um eine Organistenstelle in Halle.
Definitiv wurde sie - einem eigenhändigen Vermekr Bachs zufolge - jedoch zum 3. Sonntag nach Trinitatis des Jahres 1714 in Weimar aufgeführt.
Auch Bach scheint diese Kantate sehr geschätzt zu haben, denn es sind weitere Aufführungen in späteren Jahren nachweisbar, darunter eine in Köthen und auch eine am 13. Juni 1723 in Leipzig, wiederum zum 3. Sonntag nach Trinitatis.
Die Leipziger Aufführung war damit die dritte Kantate, die Bach dort als neuer Thomaskantor zu Gehör brachte - und schon die erste, die er zuvor nicht extra vor Ort für diesen Anlass komponiert hatte!
Wahrscheinlich war in den ersten Wochen in Leipzig für Bach und seine Familie einfach zu viel zu regeln und zu organisieren, so dass er gerne auf ein älteres Werk zurückgriff.
Vermutlich hat er jedoch die 4 Posaunenstimmen im Choral Nr. 9 für die Leipziger Erstaufführung hinzugefügt.
Auch in den folgenden Jahren lassen sich weitere Aufführungen nachweisen, so dass der Zusatz, dass diese Kantate für den 3. Sonntag nach Trinitatis aber auch "per ogni tempo" (also auch für "jede Zeit" des Kirchenjahres) bestimmt sei, diesem Umstand sicherlich Rechnung trägt, denn die in der Kantate behandelte Thematik ist nicht besonders eng auf die Bibelstellen bezogen, die für diesen 3. Sonntag nach dem Trintatisfest vorgesehen waren.
Thematisiert werden vorrangig allgemeine Erfahrungen der Gläubigen: Das Gefühl des von Gott Verlassenseins, des Kummers und der Hilflosigkeit, sowie der Bedrohung durch das Böse auf der einen Seite und im zweiten Teil der Kantate dann die Beruhigung durch die Zusage Jesu, dass er jede gläubige Seele liebe, worauf sich dann noch Freude und Lobpreis der Gläubigen anschließt.
Diese Thematik passt eigentlich wirklich in jede Zeit des Kirchenjahres und Bach hat daraus eine sehr abwechslungsreiche Kantate geschaffen, die das ganze Spektrum seines Könnens präsentiert.
Auffällig an dieser Kantate ist die Häufung von zu vertonenden Bibelworten, die in 4 Sätzen erscheinen und alle dem Chor zugeordnet sind.
Als Textdichter der Kantate könnte man Salomon Franck vermuten, der als Weimarer Hofdichter dieser Zeit viele Texte für Bachs Kantaten beisteuerte. Eine 100%-ige Sicherheit hinsichtlich der Autorenschaft besteht jedoch nicht.
Nach der die Kantate einleitenden Sinfonia, einem langsamen, ausdrucksvoll klagenden Satz in c-moll, der ebensogut der langsame Satz eines Oboenkonzerts sein könnte, folgt der erste Bibelwort-Chor, in dem Bach in motettischer Form einen Psalmvers vertont (Psalm 94 Vers 19 Zerknirscht und bedrückt erklingt die mehrfach wiederholte "Bekümmernis", bevor sich nach dem wie ein musikalischer Doppelpunkt wirkenden "aber" im schnelleren Vivace-Teil die Stimmung, den im Text erwähnten "Tröstungen" entsprechend, etwas aufhellt.
Die nächsten Sätze der Kantate (bis zum Ende des ersten Teils) stehen weiterhin alle in moll-Tonarten, schließlich sollen noch weitere Aspekte der Klage, des Schmerzes und der empfundenen Bedrängnins anschaulich gemacht werden.
So z. B. in der wundervollen Arie Nr. 3, die ohne Weiteres auch in einer Bach-Passion ihren Platz verdient hätte.
Die klagende Oboe, die schon zu Beginn die typische textausdeutenden "Seufzer"-Figuren erklingen lässt und dann mit dem Solosopran zusammen einen eindrucksvollen Klagegesang anstimmt, der sich stets aus den anfänglichen Seufzerfiguren speist - das hat schon was!
Auch in der Arie Nr. 5 malt Bach den vertonten Text plastisch aus, wenn z. B. "Sturm und Wellen" erwähnt werden oder die Stimme "in den Grund versinkt".
Der Chor Nr. 6 beschließt den ersten Teil der Kantate erneut mit einem zur Thematik passenden Bibelwort (Psalm 42 Vers 12), das jetzt schon auf die im zweiten Teil eintretende Wende hinweist. Bach hat auch diesen Chorsatz in Motetten-Form gestaltet und ans Ende auf die Worte "Dass er meines Angesichtes Hilfe und mein Gott ist" eine Fuge komponiert.