Ist Instrumentation Substanz?

  • Immer wieder habe ich festgestellt, dass die Kunst der Instrumentation unter Kommentatoren einen sekundären Rang einnimmt - hinter so langweiligen musikalischen Sekundärtugenden wie beispielsweise Kontrapunkt. Klangfarbenkünstler wie Graupner oder Berlioz stehen im Schatten berühmterer Zeitgenossen. Sogar ein so genialer Instrumentator Wagner wird in diesem Forum viel öfter wegen seiner zumindest umstrittenen Libretti gelobt als wegen seines unstrittig Epoche machenden Orchesterklangs. Warum ist das so? Ist denn gute Instrumentation wirklich nur Beiwerk und keine Substanz?

    Dem Amateur ist nichts zu schwör.

  • Salü,


    sicherlich gehört die gute Instrumentation zu den wichtigen Zutaten einer guten Komposition, sofern es sich nicht um Solowerke handelt. Ein gutes Notenkonsommée leidet ebenso an schlechter Instrumentation, wie eine gute Instrumentierung an einem an sich schlechten Stück. Die Frage ist, was in diesem Zusammenhang "gut" und "schlecht" ist? Ein hervorragender Orchestersatz macht aus einem Haufen Noten noch lange kein Meisterwerk; in wenigen Ausnahmefällen ist eine schlichte Melodie dermassen genial, dass sie auf ausgetüftelte Instrumentationskniffe verzichten kann bzw. dass ihr die Klangfarbe egal ist. Für den durchschnittlichen [?] Hörer zählt wohl eher der Gesamteindruck einer Komposition.


    Die Frage sollte also m. E. eher lauten: "Was macht eine gute Instrumentation aus" ?


    Viele Grüße
    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Zitat

    Original von Ulli
    Die Frage sollte also m. E. eher lauten: "Was macht eine gute Instrumentation aus"


    Lieber Ulli,


    das ist auch eine interessante Frage, aber meine Wissbegier richtete sich tatsächlich erst einmal darauf, warum gute Instrumentation als "Zutat" gilt und nicht als Substanz. Mein Verdacht ist, dass viele große Meister, deren größte Stärke die Instrumentation war, als etwas minderwertiger gelten als Komponisten, deren Stärken in anderen Bereichen lagen. (Objektivieren lässt sich Größe natürlich nicht, aber das ist auch nicht notwendig: es geht mir um das subjektive Gefühl). Rameau wird immer hinter Bach liegen, obwohl er in Sachen Instrumentation sicher das größere Genie war. In ähnlicher Weise halte ich Graupner, Keiser und sogar Berlioz für unterbewertet. Bei Strauss und Wagner hingegen sind es nicht die Komponisten selbst, die unterbewertet sind, wohl aber die Rolle, welche die Instrumentationskunst im Bouquet ihrer Talente spielt. Meine ich jedenfalls. Aber vielleicht bin ich auch der einzige, den das nervt. ?(


    Viele Grüße


    Amateur

    Dem Amateur ist nichts zu schwör.

  • Ist es denn tatsächlich so, dass gute Instrumentation mehr als "Zusatz" gilt, denn als "Substanz". Ausgehend vom Vorgang des Komponierens kann ich mir dies kaum vorstellen, ist doch die Instrumentation selbst ein wesentlicher Abschnitt des Komponierens, der z. B. Bruckner ums eine oder andere mal fast an den Rand der Verzweiflung gebracht hat. Oder Bach, der machte daraus eine wahre Kunst, indem er Werke mehrfach umarangierte. Ich denke, dort wo Instrumentation notwendig ist (also abseits des Streichquartets etc.) ist es sehr wohl Substanz.

    29.08.1958 - 25.06.2009
    gone too soon

  • Ist doch eigentlich der Unterschied zwischen Klavierauszug und Partitur. Hier das Destillat, das zwar die Binnenstrukturen, sozusagen das Skelett erkennen läßt. Aber eben nicht das "Fleisch", die Hautfarbe, den Geruch, Informationen, die erst die komplette Partitur verrät.
    Es gibt wohl schon auch Werke, z. B. die Kunst der Fuge, die scheinbar unabhängig von der Instrumentation existieren können, egal ob es Glenn Gould an der Orgel versucht oder Hermann Scherchen mit großem Orchester.
    Ich halte aber die Instrumentierung bei den allermeisten Stücken für absolut substantiell. Schon allein, weil sich die Handschrift des Komponisten hier, im individuellen "Sound", besonders deutlich zeigt.
    Ich glaube auch nicht, dass es verbreitet ist, bei Strauss und Wagner die Instrumentationskunst unterzubewerten. Angesichts der feinsten Klangschattierungen etwa im "Abendrot" oder der beinahe kammermusikalischen Raffinessen in der Walküre wäre das auch völlig unangebracht.

    Man kann wirklich sagen, daß ich Mozart sehr, sehr viel verdanke; und wenn man sich ansieht, wie z. B. meine Streichquartette gebaut sind, dann kann man nicht leugnen, daß ich das direkt von Mozart gelernt habe. Und ich bin stolz darauf!
    Schönberg

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  • Zitat

    Original von Amateur
    es geht mir um das subjektive Gefühl). Rameau wird immer hinter Bach liegen, obwohl er in Sachen Instrumentation sicher das größere Genie war.


    Amateur


    Bei mir nicht. Es ist eine stark simplifizierende Aussage, wenen man Rameau als "Meister der Instrumentation" und Bach als "Meister der musikalischen
    Aussage" bezeichnet. Beide verfügten - so Christophe Rousset - über hervorragende Kenntnisse der Instrumentation. Ihre Ansätze sind bloß sehr verschieden. Rameau macht aus fast gar nichts fast alles. Das ist seine Stärke. Bei Bach sieht das anders aus. Auch diese Aussage ist noch zu simpel. Es stecken auch ganz andere Intentionen hinter den Werken beider Komponisten, so daß sich diese ar nicht so direkt vergleichen lassen -. oder wie will man eine tragedie-lyrique mit einem Orgelwerk oder einer Messe Bachs vergleichen??


    Es ist - ich wiederhole das gerne :P - eine wohl typisch deutsch/österreische Sicht, daß Instrumentation zweitrangig ist und das die Musik v.a. Tiefen ausloten und Seelenspiegel sein soll. Franzosen sehen das anders - laut Ansermet. Die Deutschen drücken sich selbst aus, die Franzosen drücken etwas - stark vereinfacht formuliert.


    Außerdem ist Instrumentation und musikalische Idee auch nicht immer zu trennen. Spätestens seit Schönbergs "Klangfarbenmelodie" - die Erzeugung musikalischer Strukur durch Klangfarben der Instrumente - sind Strukur/Gehalt und Klangfarbe untrennbar miteinander verbindbar.


    :hello:

  • Zitat

    Original von Wulf



    ... Rameau macht aus fast gar nichts fast alles. Das ist seine Stärke. Bei Bach sieht das anders aus...
    :hello:


    ...macht bach aus fast allem nichst...?!
    Das musste leider sein... :D


    Auf die Frage kann ich leider keine Antwort geben, da ich ja selbst kein Meister meines Faches bin... aber mit etwas Größenwahn wird das noch... :P

  • Unbedingt !



    Bar aller Kenntnisse über all das, mit dem Musikwissenschaftler sich beschäftigen, hörend, versuchend, ganz subjektiv die Musik zu verstehen, ist die Klanglandschaft, die Klangfarbe ein ganz wesentliches Element für mich.


    Allerdings wird man beim ersten Hören eines Stückes nur sagen können, oh, das klingt für mich aber gut.


    Ich selbst habe ein und dasselbe Stück sehr oft hören müssen, um hinter die Raffinessen der Instrumentierung zu kommen.
    Meiner Meinung nach ist es notwendig, seine Hörkonzentration gezielt auf die Instrumentierung zu lenken. Nur dann kann man die Einzelheiten hören.
    Ich bin jedenfalls nicht in der Lage, mir darüber schnell ein Urteil zu bilden.


    Lieben Gruß aus Bonn :hello:

    Was Du nicht willst, das man Dir tu, das füg auch keinem andern zu

  • Ich finde, aus ähnlichen Gründen wie Ulli, die Frage etwas problematisch.


    Aber wie wär's mit einem kleinen Gedankenexperiment, das man eventuell sogar auf dem heimatlichen Klavier durchführen kann?
    Nehmen wir also eine Symphonie von Brahms und spielen wir sie auf dem Klavier (oder stellen wir sie uns auf dem Klavier gespielt vor): Geht sehr viel Substanz verloren? Das Werk könnte trotz des Farbentzugs überleben.
    Und jetzt nehmen wir Debussys "Sirènes" als Klavierstück: Das Stück verliert merklich, also wird die Substanz durch den Farbentzug angetastet.
    Womit wir Tristan Murails "Gondwana" aufschlagen - und erkennen müssen, daß dieses Werk selbst dann auf dem Klavier rettungslos verloren wäre, wenn das Klavier Mikrointervalle spielen könnte.


    Soll heißen: Es gibt Stücke, in denen, unabhängig vom Wert der Stücke, die Instrumentierung ein wesentlicher Parameter ist. Andererseits gibt es Stücke, in denen, abermals unabhängig von deren Wert, die Instrumentierung schlicht Mittel zum Zweck ist. Und natürlich gibt es eine Menge von Werken, in denen die Instrumentierung für den spezifischen Klang sorgt, ohne für die eigentliche Substanz zu- oder abträglich zu sein.


    :hello:

    ...

  • Ich erlaube mir, Edwins Gedankenspiel noch ein wenig auszubauen. Ravels Bolero wäre als Klaviertranskription nicht mehr als eine Karikatur, selbst dann, wenn Samuil Feinberg oder Kaikhosru Sorabji das Arrangement erstellt hätten und Martha Argerich am Klavier säße. Auch der Strawinsky der Petruschka-Klaviersuite hätte den Bolero nicht transkribieren können. Feinbergs Arrangement des Scherzos aus Tschaikowskys Pathetique dagegen funktioniert als Klavierstück nicht schlecht, aber auch hier fehlt gegenüber dem Original einiges, obwohl der pianistische Aufwand und Einfallsreichtum enorm sind.


    Ebensowenig wie den Bolero kann man die Orchesterwerke von Charles Koechlin oder von Olivier Messiaen auf ein anderes Instrumentarium übertragen. Tatsächlich gehört hier die Instrumentation genauso zur musikalischen Gestalt wie jede Oktavverdopplung oder jede einzelne Note in einem 20-stimmigen Akkord.


    Liegt die Sache bei einer Symphonie von Beethoven oder Brahms anders? Wenn auch hier die sich durch die Instrumentation ergebenden Farben gegenüber der Thematik und den harmonischen Entwicklungen weniger stark in den Vordergrund treten als bei den vorher genannten Komponisten, verändert der Eingriff in das instrumentale Arrangement auch hier den Charakter und den Gehalt der Musik. Tatsächlich dürfte es schwierig sein, überhaupt bedeutende Kompositionen zu finden, in denen die Instrumentation nicht entscheidend in das Gesamtbild eingebunden ist.


    Möglicherweise ist es umgekehrt leichter: Ravels "Gaspard de la nuit" als Orchesterstück ist vorstellbar, es gibt sogar einen entsprechenden Versuch von Marius Constant, und warum sollte nicht einmal jemand versuchen, Messiaens "Catalogue des Oiseaux" zu orchestrieren oder die zweite Sonate von Rachmaninoff? Oder Stockhausens Klavierstück 10?

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  • Und - das erstaunlichste - wenn man ein "Negativbild" anfertigt und das Spiel in die andere Richtung macht, funktioniert der Gedankengang auch.


    Nehmen wir ein Werk wie "Iberia" von Albeniz oder ein Klavierwerk von Debussy, das ebenso für Orchester instrumentiert wurde, sagen wir "Danse". Man kann sich des Eindrucks nicht erwähren, daß die Klavierfassung schlüssiger, farbiger ist.
    Nun könnte man denken, die Instrumentierung würde Substanz abbauen.


    Daß das Werk aber genau für Klavier geschrieben wurde und wir in Debussy und Ravel, vielleicht auch in dem Albeniz der "Iberia" Meister der Farbsetzung auf dem Klavier haben, sagt doch daß die ursprüngliche Instrumentierung f. Klavier von höchster Bedeutung ist....


    :hello: