Brahms, Johannes: Balladen, op. 10

  • Brahms schrieb die Werke 1854 und widmete sie dem Komponisten und Dirigenten Julius Otto Grimm. 1854 ist übrigens auch Brahms' Mentor Robert Schumann in ein Santorium eingewiesen worden und vielleicht spielt das bei den langsamen, melancholischen Phasen der Stücke eine Rolle? Die vier Balladen sind als Zyklus gedacht und werden in der Regel auch zusammen gespielt. Die erste Ballade, ein Andante in d-Moll ist eine "Vertonung" von Edward aus Johann Gottfried Herders "Stimmen der Völker".


    Insgesamt fällt mir vor allem die Bandbreite an Stimmungen und Emotionen auf, die Brahms in diesem Noch-Frühwerk präsentiert. Vieles deutet schon auf die späten, entrückten Klavierwerke der op. 116-119 hin.


    Bisher habe ich die Einspielungen von Katchen, Michelangeli, Sokolov, Gould und Afanassiev gehört, dazu müsste ich aber eigenlich noch Gilels, Arrau und Kempff (mono) hören. Deswegen jetzt auch nur ein Zwischenfazit.


    Michelangeli hat mich ein wenig enttäuscht. Pianistisch ist da natürlich nichts auszusetzen, er beherrscht die Balladen nach Belieben. Aber er macht nichts daraus. Er spielt alle Noten und das war's dann auch schon. Nach ein paar Minuten ist da jeder Eindruck vergessen. Der relativ schwache Klang (frühes DDD) hilft da auch nicht weiter.


    Interpretation: 4-5
    Klang: 4


    Gould ist natürlich ein ganz anderes Kaliber. Sehr eigenwillig, zerdehnt er die Balladen teilweise bis zum Zerreissen. Aber die Spannung bleibt erhalten, selbst wenn die Musik fast schon stehenbleibt. Zum Klavierspiel Goulds kann man eigentlich nur sagen: Entweder man mag es oder man hasst es. Indifferent kann man bei ihm nicht bleiben. Ich mag es, allerdings kann man diese Interpretation wegen ihrer Eigenwilligkeit nicht sehr oft hören, sonst verlieren sie ihren Charme:


    Interpretation: 7-8
    Klang: 5-6 (typisch Gould/Sony)


    Katchen bläst zur Attacke, spielt die Balladen ungehört schnell. Dass er dabei auch die kleinen Zwischentöne und Nebenthemen erklingen lässt, zeugt von einer hervorragenden Musikalität. Katchen drängt vorwärts, blickt nicht zurück, spielt romantisch und expressiv - leider verschleiert die schlechte Tonqualität das ein wenig.


    Interpretation: 8
    Klang: 3-4


    Sokolov ist dagegen sehr fragil, fast zerbrechlich. Mir kommt es vor, als will er manche Stücke gar nicht zu Ende spielen. Er ist deutlich schneller als Gould, dennoch wirkt das ganze langsamer. Das Intermezzo wird bei Sokolov fast schon in klagendem Ton gespielt. Live-Aufnahme mit Zuschauergeräuschen. Sehr intensiv und eigenwillig, aber nicht ganz so individuell wie Gould


    Interpretation: 7
    Klang: 6-7


    Afanassiev! Vielleicht weil ich sie neu habe? Mir gefällt sie zur Zeit am besten. Als eiskalt ist sie glaube ich mal beschrieben worden von einem Kritiker. Ich empfinde (erstmals) das komplette Gegenteil. Liebevoll ist mir in den Sinn gekommen als ich die Scheibe gehört habe. Mittlerweile läuft sie zum dritten Mal. Auch zerdehnt er die Balladen nicht, wie man es von seinem Schubert oder Schumann kennt. Es ist alles im Fluss, allerdings nicht unbedingt in einem reißenden Strom. Wundervoller Klang des Klaviers und Afanassiev nutzt das weidlich aus, musiziert bis ins letzte Detail.


    Interpretation: 9
    Klang: 9-10

    Gruß,
    Gerrit

  • Hallo Thorsten,


    die Klaviermusik von Brahms liegt mir besonders am Herzen. Bereits in den frühen Werken ist ein melancholischer, grüblerischer Zug zu erkennen. Die späteren Werke (Rhapsodien op. 79, Klavierstücke 116 - 119) sind resignativer, zurückgenommener, tiefgründiger.


    Die Balladen op.10 habe ich in 3 Einspielungen:


    Idil Biret (Naxos)
    Afanassiev (Denon)
    Gould (CBS)


    Idil Biret:


    Über die Interpretation von Biret läßt sich das sagen, was Du über ABM gesagt hast. Die Noten werden gespielt, ohne einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Die Aufnahme hat mich enttäuscht.


    Andere Brahms-Aufnahmen von ihr sind meiner Meinung nach gelungener (Klavier-Sonaten 1-3, Konzerte Nr. 1 und 2).


    Afanassiev:


    Mit Deiner Ansicht bin ich grundsätzlich einverstanden. Hier wird interpretiert, eigensinnig und höchst individuell. Eine gewisse Einschränkung möchte ich jedoch bei der 4. Ballade (Andante con moto) machen. Ich habe hier den Eindruck, als ob Afanassiev das thematische Material unter den Händen zerfließt. Eine gewisse Eintönigkeit herrscht vor. Er benötigt denn auch eine Minute mehr als z.B. Gould, was natürlich an sich nichts über die Qualität einer Interpretation aussagt. Zudem spielt er sehr leise, so daß ich des öfteren den Wunsch habe, am Lautstärkenregler zu drehen, um dem Verlauf des Stückes besser folgen zu können.


    In jeder Hinsicht begeistert bin ich von Afanassievs Lesart der späten Stücke op. 116 - 119. Bei dieser Aufnahme sollte man sich mit einer Tasse Tee oder einem Glas Rotwein ans Fenster setzen und bei nebligem Wetter in die Ferne starren und grübeln.


    Gould:


    Gould hat einen ähnlichen Ansatz wie Afanassiev. Die Werke wirken teilweise wie erstarrt. Im Falle von Gould wird diese Erstarrung durch den trockenen, metallischen Klavierklang unterstützt. Insgesamt ziehe ich Gould vor, insbesondere wegen der 4. Ballade, siehe oben.


    Gruß Martin

  • Meine vier Favoriten, die ich gleich gerne höre, sind:


    Benedetti Michelangeli
    Gould
    Gilels
    Sokolov

    Gruß ab


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    Und ich meine, man kann häufig mehr aus den unerwarteten Fragen eines Kindes lernen als aus Gesprächen mit Männern, die drauflosreden nach Begriffen, die sie geborgt haben, und nach den Vorurteilen ihrer Erziehung.
    J. Locke

  • Kennt jemand die Aufnahme von Alexei Lubimov und kann etwas dazu sagen? Inzwischen ist die Erato-Aufnahme bei Apex wieder veröffentlicht worden.

    Gruß ab


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    J. Locke

  • Ich meine übrigens bei ABM und Gilels nicht die Studioprduktionen bei der DG, sondern die Konzertaufnahmen: Bei ABM die aus dem Jahre 1973 aus Lugano (nicht die von 1981!) und bei Gilels die bei RussianRevelation, die nun auch – so ich das recht sehe – in der BrilliantClassic-Box enthalten ist.

    Gruß ab


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    Und ich meine, man kann häufig mehr aus den unerwarteten Fragen eines Kindes lernen als aus Gesprächen mit Männern, die drauflosreden nach Begriffen, die sie geborgt haben, und nach den Vorurteilen ihrer Erziehung.
    J. Locke

    Einmal editiert, zuletzt von a.b. ()

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  • Kennt jemand die Aufnahme von Lars Vogt und kann etwas dazu sagen? Die ist bei EMI erschienen.

    Gruß ab


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    Und ich meine, man kann häufig mehr aus den unerwarteten Fragen eines Kindes lernen als aus Gesprächen mit Männern, die drauflosreden nach Begriffen, die sie geborgt haben, und nach den Vorurteilen ihrer Erziehung.
    J. Locke