Komponisten als Bearbeiter eigener Werke

  • Hallo allerseits,


    gelegentlich kommt es vor, dass Musikstücke vom Komponisten selbst bearbeitet werden und so zwei gleichberechtigte Fassungen entstehen. Zwei Beispiele möchte ich zum Einstieg nennen:


    Luigi Cherubini komponiert 1815 eine viersätzige Sinfonie in D-dur, ein Auftragswerk für die Londoner Philharmonic Society. 14 Jahre später arbeitet er dieses Sinfonie zu einem Streichquartett in C-dur um, wobei er den zweiten Satz neu komponiert.



    Luigi Cherubini


    Knapp 100 Jahre später geht Hans Pfitzner den umgekehrten Weg: Sein viersätziges Streichquartett cis-moll op. 36 bearbeitet er für grosses Orchester; so entsteht die Sinfonie op. 36a.



    Hans Pfitzner


    Als Hörer steht man etwas ratlos vor den beiden Fassungen - welcher soll man den Vorzug geben? Der jüngeren, da sie sozusagen dem letzten Stand entspricht? Oder der ursprünglichen? Oder sind beide gleichberechtigt?


    Sicher gibt es noch weitere Beispiele für diese Bearbeitungspraxis. Welche kennt Ihr und wie beurteilt Ihr die beiden Fassungen? Ich bin schon sehr gespannt...


    Viele Grüsse von Fugato

  • Hallo Fugato,


    Ich denke sofort an Beethovens Violinkonzerte. Er hat ja selbst die Violine durch eine Klavierstimme ersetzt.
    Und Dvoraks Waldesruhe, daß m.E. in drei Versionen besteht; Haydns „Gott erhalte Franz der Kaiser“.
    Und was zu denken von Haydns „Die sieben letzte Worte unseres Erlösers am Kreuze“. Es besteht in Orchester-, in Streichquartett- und in Oratoriumfassung.


    Wenn ich weiter suchen würde, fände ich ohne viel Mühe noch viel mehr. Und dann rede ich nicht von Dingen wie Mozarts abgeänderte Grafarie.


    LG, Paul

  • Hallo Fugato,


    mir fallen da spontan die beiden Faust-Kompositionen von Berlioz ein. Nach der Lektüre einer französischen Prosafassung von Goethes Faust hatte Berlioz zunächst einzelne Szenen des Dramas vertont, die »Huit Scènes des Faust«, die 1829 als Berlioz' op. 1 im Druck erschienen. Die Partitur hat er Goethen geschickt, der sie Zeltern gezeiget hat, der sie verworfen hat. Berlioz hat nie eine Antwort von Goethen erhalten.
    Die »Huit scènes de Faust« bestehen aus acht, mehr oder weniger unverbundenen Sätzen, teils auf geschlossene Gedicht- bzw. Liedpassagen aus dem Faust (etwa dem »König von Thule« oder dem Flohlied aus der Szene in Auerbachs Keller), teils auf einzelne Szenen (etwa die Szene, in der Faust in seinem Studierzimmer die Choräle aus der Ostermesse hört). Die Szenen sind für verschiedene Stimmlagen (Sopran, Mezzo, Tenor, Bariton) mit Chor komponiert , ohne daß diese bestimmten Rollen oder Charakteren zugewiesen werden (Ausnahme sind die Sätze 5 [Chanson de Méphistophélès] und 8 [Sérénade de Méphistophélès]).
    16 Jahre später entschloß sich Berlioz, seine Beschäftigung mit dem Fauststoff nochmals aufzunehmen. Das Ergebnis ist sein - neben der Symphonie fantatstique - wohl populärstes Werk (gut das Requiem ist auch recht bekannt ;) ): »La damnation de Faust. Légende dramatique en quatre parts« op. 24. Sämtliche Sätze des »Huit Scènes« sind in »La damnation« eingegangen, zum Teil in überaus stark überarbeiteten Fassungen. »La damnation« ist gegenüber der früheren Fassungen ein klanggewordenes dramatisches Gedicht, mit einer geschlossenen Handlung und eindrucksvoll gezeichneten Charakteren. Dabei bewahrte Berlioz die letztlich symphonische, wenn auch dramatische, so doch nicht theatralische Form (ich habe inzwischen zwei verschiedene Versuche einer Inszenierung gesehen - eine live, eine auf DVD - und muß sagen: es geht nicht so recht, ist halt keine Oper, sondern ein überaus eindringliches Drama für die Ohren).


    Also, um es auf den Punkt zu bringen: das op. 1 ist eine interessante Vorstudie zu einem Meisterwerk. Wenn Berlioz allerdings nicht den zweiten Anlauf zu einer Beschäftigung mit dem Faust-Stoff genommen hätte, dann hatte sein op. 1 bereits das Zeug zum Meisterwerk gehabt.


    Herzlichst,
    Medard

  • Fugato

    Zitat

    Als Hörer steht man etwas ratlos vor den beiden Fassungen - welcher soll man den Vorzug geben? Der jüngeren, da sie sozusagen dem letzten Stand entspricht? Oder der ursprünglichen? Oder sind beide gleichberechtigt?



    ich halte das für einen Irrtum, irgendwelche Bewertungen über den "letzten Stand" einer Komposition machen zu wollen.
    Als Beispiel nehme ich die zahlreichen Bearbeitungen, die Bach gemacht hat - abgesehen von der "praktischen Verwendung" geistlicher und weltlicher Kantaten ist diese Vorgangsweise IMO wertneutral.


    Hat Brahms wirklich eine "Verbesserung" an seinen Jugendwerken (Klaviersonaten) vorgenommen oder nicht eher eine Angleichung an seinen veränderten Geschmack. (Bzw sein kompositorisches Wissen)


    durch die Exklusivität der Melodienerfindung wurde die Transskription eigener Werke wahrscheinlich allmählich verdächtig,


    die Frage ist recht aktuell in der Diskussion um Urfassungen, um die "eigentliche Intention des Komponisten", die erstaunlicherweise immer neu entdeckt wird... am Beispiel der Bruckner-Symphonien...ist es nicht einfach egal?


    Mir scheint, daß Beethovens selbstzweiflerische Skizzenarbeit zu dieser Situation geführt hat, ich halte es für falsch, Kompositionen ständig durch geistige Kontrollmechanismen laufen zu lassen, ob man nicht doch eine bessere Version findet... dieses Herumfeilen bewirkt IMO keine Verbesserung


    Klawirr

    Zitat

    Also, um es auf den Punkt zu bringen: das op. 1 ist eine interessante Vorstudie zu einem Meisterwerk


    ein ähnlicher Fall sind die Liszt- Jugendetüden, die später zweimal umgearbeitet wurden.
    Hier sind die kleinen Stück wirklich nur Vorstudien zu nennen... in anderen Fällen scheint mir diese Bewertung problematisch (woher nehmen wir das Recht, etwas zu einem Meisterstück zu erheben?)

    Im übrigen bin ich der Ansicht, dass gepostete Bilder Namen des Fotografen, der dargestellten Personen sowie eine genaue Angabe des Orts enthalten sollten.
    (frei nach Marcus Porcius Cato Censorius)

  • Guten Abend


    Zitat

    Original von Fugato
    Hallo allerseits,


    Sicher gibt es noch weitere Beispiele für diese Bearbeitungspraxis. Welche kennt Ihr


    Viele Grüsse von Fugato


    J.S. Bachs Cembalokonzerte sind (größtenteils) Bearbeitungen früherer Instrumentalkonzerte.


    Gruß aus der Kurpfalz


    Bernhard

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  • Zitat

    Original von tastenwolf
    Klawirr


    ein ähnlicher Fall sind die Liszt- Jugendetüden, die später zweimal umgearbeitet wurden.
    Hier sind die kleinen Stück wirklich nur Vorstudien zu nennen... in anderen Fällen scheint mir diese Bewertung problematisch (woher nehmen wir das Recht, etwas zu einem Meisterstück zu erheben?)


    Nun, nun, da hast Du mich ja nicht so ganz korrekt zitiert... Ich hab da ja noch ein Sätzchen angehängt, oder?


    Herzlichst,
    Medard

  • Zitat

    J.S. Bachs Cembalokonzerte sind (größtenteils) Bearbeitungen früherer Instrumentalkonzerte


    ...und zum Glück :D stehen BVW 1053 und 1055 durch Rekonstruktionen wieder als Oboenkozerte zur Verfügung! :D :D -


    Mir fällt zum Thema sofort mein Leib-und Magenkomponist ein. Von Pfitzner gibt es sein Op.36 einmal als Streichquartett und einmal als Sinfonie (Op. 36a). Ein großartiges Werk aus dem Grenzbereich der Tonalität, daß den Komponisten von seiner durchaus vorhandenen "progressiven" 8) Seite zeigt. Ein Vergleich der beiden Versionen lohnt sich.


    Beste Grüße


    Bernd

  • Bla,


    bei Mozart gibts da nur zwei nennenswerte Ausnahmen:


    KV 426 --> KV 546 und
    KV 388 --> KV 406


    Viele Grüße
    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Lieber Paul,


    KV 314 ist alles andere als gesichert. Da stellt sich zunächst die Frage, ob es überhaupt eine Henne vor dem Ei gab... [bevor man sich fragt, welches von beiden zuerst da war].


    :hello:


    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

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  • Brahms wurde schon angesprochen, da gibt es ja bekanntermaßen einiges.


    Das Klavierquintett op. 34 gibt es auch in einer sehr schönen Fassung für 2 Klaviere. Die Serenaden sind wohl anfangs für kammermusikalische Besetzung geschrieben, ich glaube Nonett.
    Und mit dem 1. Klavierkonzert war das ja auch so eine Sache. Sinfonie? Klavierquintett? Irgendwann wurde es dann ja doch ein Klavierkonzert.



    Gruß, Peter.

  • Zitat

    Original von Bernd Schulz
    Mir fällt zum Thema sofort mein Leib-und Magenkomponist ein. Von Pfitzner gibt es sein Op.36 einmal als Streichquartett und einmal als Sinfonie (Op. 36a).


    Aha, noch ein Pfitzner-Begeisterter :)


    Pfitzners op. 36 hatte ich bereits am Anfang dieses Threads erwähnt ;)


    Viele Grüsse von Fugato

  • Guten Tag



    BWV 1053a u. BWV 1055a z.B. hier



    eingespielt :jubel:.


    BWV 1053 hier



    und BWV 1055 hier



    vom Ensemble "cafe zimmermann" noch etwas spriziger eingespielt :jubel: :jubel:



    Gruß aus der Kurpfalz


    Bernhard

  • :O Fugato, Hand aufs Herz - ich habs gelesen, aber gleich danach wieder verdrängt.... :O :O :O...naja, doppelt gemoppelt hält besser...


    Von Pfitzner fällt mir aber auch gleich noch ein anderes Beispiel ein, nämlich das Duo für Violine, Violoncello und kleines Orchester op. 43 . Von diesem intimen und trotzdem musikantischen Spätwerk gibt es auch eine "gleichberechtigte" Trio-Fassung mit Klavier.


    Viele Grüße


    Bernd

  • Zitat

    Original von Bernd Schulz
    Von Pfitzner fällt mir aber auch gleich noch ein anderes Beispiel ein, nämlich das Duo für Violine, Violoncello und kleines Orchester op. 43 . Von diesem intimen und trotzdem musikantischen Spätwerk gibt es auch eine "gleichberechtigte" Trio-Fassung mit Klavier.


    Hallo Bernd,


    wieder etwas dazugelernt: von op. 43 kenne ich nur die Fassung mit Orchester. Vielen Dank für den Hinweis!


    Viele Grüsse von Fugato

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  • Zitat

    Original von tastenwolf
    die Frage ist recht aktuell in der Diskussion um Urfassungen, um die "eigentliche Intention des Komponisten", die erstaunlicherweise immer neu entdeckt wird... am Beispiel der Bruckner-Symphonien...ist es nicht einfach egal?


    Das meinte ich eigentlich nicht, denn hier entstehen ja zwei Fassungen, die nicht gleichberechtigt sind. Für die Entscheidung, welche von beiden Fassungen denn nun die "bessere" sei, scheint es keine objektiven Kriterien zu geben - deshalb die ganze Diskussion.


    Zitat

    ich halte es für falsch, Kompositionen ständig durch geistige Kontrollmechanismen laufen zu lassen, ob man nicht doch eine bessere Version findet... dieses Herumfeilen bewirkt IMO keine Verbesserung


    Nichtsdestotrotz haben viele Komponisten so gearbeitet. Was mag der Grund dafür sein - nur Selbstzweifel?


    Viele Grüsse von Fugato

  • Salut,


    die "Sieben letzten Worte" von Joseph Haydn [oder sprach da jemand anderes? :rolleyes: ] gehören dann wohl auch hier hinein. Wenn ich nicht irre, scheint dies eins der meistselbstbearbeitetsten Werke überhaupt zu sein:


    Orchesterfassung
    Chorfassung
    Streichquartettfassung
    Klavierfassung


    :hello:


    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Zitat

    Original von Fugato


    Das meinte ich eigentlich nicht, denn hier entstehen ja zwei Fassungen, die nicht gleichberechtigt sind. Für die Entscheidung, welche von beiden Fassungen denn nun die "bessere" sei, scheint es keine objektiven Kriterien zu geben - deshalb die ganze Diskussion.



    Nichtsdestotrotz haben viele Komponisten so gearbeitet. Was mag der Grund dafür sein - nur Selbstzweifel?


    Haben wirklich viele Komponisten so gearbeitet? Ich glaube hier muß man unterscheiden.
    Bei Bach dürften Bearbeitungen hauptsächlich zwei Gründe haben. Hauptsächlich die erneute Verwendung eines gelungenen Musikstücks, um dies zu erhalten oder aus Zeitmangel (all die Parodien wie im Weihnachtsoratorium oder der h-moll-Messe). Dann aus pädagogischen Gründen, um sich selbst oder Schüler mit bestimmten Gattungen vertraut zu machen. Ähnliches gilt wohl für viele Barockkomponisten.
    Dann gibt es kommerzielle Gründe: Bevor jemand anders für die Bearbeitung Geld einsackt, macht man es lieber schnell selbst. Das hat gewiß bei den 7 letzten Worten eine Rolle gespielt. Oder bei Beethovens Bearbeitung des Violinkonzerts. Die Pfitzner-Stücke kenne ich alle nicht, aber von Bruckner mal abgesehen, kommen wiederholte Bearbeitungen sonst eher selten vor.
    Bei Mozart und Beethoven nur sehr selten, fast immer aus kommerziellen oder praktischen Gründen (Bläseroktett -> Streichquintett, Quintett mit Bläser -> mit Streichern, Trio -> Quintett usw.). Und oft ist die Bearbeitung das weniger interessante Werk.


    Ich bin ehrlich gesagt etwas skeptisch, wie ein und dasselbe Werk, einmal als Quartett und dann als Sinfonie funktionieren soll. Aber wie gesagt, der Pfitzner ist mir unbekannt.


    Damit ist natürlich nicht ausgeschlossen, dass VOR der Fertigstellung, Auffürhung, Veröffentlichung ein Werk zigmal überarbeitet wird. Aber das ist m.E. was völlig anderes.


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Haben wirklich viele Komponisten so gearbeitet? Ich glaube hier muß man unterscheiden.


    Genau! Folgende beiden Fälle gilt es zu unterscheiden:


    Fall 1: Ein Komponist bearbeitet eine bereits vorhandene Fassung zu einer neuen Fassung, wobei beide Fassungen gleichberechtigt sind. Über die Gründe, die zu dieser Bearbeitung führen, ist damit noch nichts ausgesagt. Beispiele hatte ich eingangs schon genannt (Cherubini, Pfitzner).


    Fall 2: Ein Komponist überarbeitet eine bereits vorhandene Fassung zu einer neuen Fassung, wobei die ursprüngliche Fassung verworfen wird. Grund hierfür ist, aus Sicht des Komponisten eine Verbesserung zu erreichen. Beispiele hierfür sind die Bruckner-Sinfonien. Ich bin zwar kein Bruckner-Experte, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Bruckner die unterschiedlichen Versionen als gleichberechtigt verstanden wissen wollte.


    Meine Bemerkung, dass viele Komponisten so gearbeitet haben, bezog sich auf Fall 2, während es in diesem Thread ja eigentlich um Fall 1 geht.


    Zitat

    Bei Bach dürften Bearbeitungen hauptsächlich zwei Gründe haben. Hauptsächlich die erneute Verwendung eines gelungenen Musikstücks, um dies zu erhalten oder aus Zeitmangel (all die Parodien wie im Weihnachtsoratorium oder der h-moll-Messe). Dann aus pädagogischen Gründen, um sich selbst oder Schüler mit bestimmten Gattungen vertraut zu machen. Ähnliches gilt wohl für viele Barockkomponisten.


    Das stimmt - eine Bearbeitung eines eigenen Werkes war im Barock offenbar gängige Praxis. Auch bei Händel finden sich Beispiele.


    Zitat

    Dann gibt es kommerzielle Gründe: Bevor jemand anders für die Bearbeitung Geld einsackt, macht man es lieber schnell selbst.


    Auch Komponisten müssen von irgendetwas leben :D


    :hello: Andreas

  • Zitat

    Original von Fugato
    Das stimmt - eine Bearbeitung eines eigenen Werkes war im Barock offenbar gängige Praxis. Auch bei Händel finden sich Beispiele.
    :hello: Andreas


    Hallo Fugato,
    bei Händel finden sich nicht nur Beispiele, Händels Werk ist vielleicht DAS Beispiel, hat er doch gewissermaßen sein Gesamtwerk einem mehr oder minder dauerhaften Recyclingprozess unterzogen - und dabei einzelnen Themen, Phrasen, ganzen Sätzen immer wieder neue, faszinierende Momente abgewonnen. Kammmusiksätze werden so zu Oratorienarien, Oratorienarien/-chöre zu Sätzen in seinen Orchesterwerken, etwa in den Concerti a due cori. Dort kann man z.B. einige Passagen des »Messias« in ganz neuem Gewande hören. Ob in den Orgelkonzerten Nr. 14-16 überhaupt ein »Originalsatz« enthalten ist, vermag ich augenblicklich gar nicht zu sagen. Das 15. beruht - bis auf die ad Libitum Passagen - vollständig auf älterem Material - allerdings nicht aus einer Eigenkompositio, sondern auf einer Sonate für Flöte und B.c. aus Telemanns Tafelmusik. Das 16. ist - was das Material anbetrifft - in jede Fall weitgehend identisch mit einem der drei Concerti a due cori.
    Diese Praxis der Wiederverwertung, Umschreibung und Neusetzung empfinde ich persönlich übrigens als einen für den Hörer hochinteressanten und spannenden Aspekt der Musik des Generalbasszeitalters.
    Herzlichst,
    Medard

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  • Ein interessanter Fall ist Franz Liszt. "Die Zahl der Werke Liszts, die nur in einer Version vorliegen und nicht thematisch auf andere zurückgreifen, macht nur wenig mehr als ein Fünftel seines Gesamtwerks aus" (D. Redepennig). Dazu gehören auch Umarbeitungen, die der Komponist eindeutig als Verbesserung alter Versionen verstanden hat: die "Ungarischen Melodien" werden zu den "Ungarischen Rhapsodien", das "Album d'un voyageur" wird zum ersten Band der "Années de pèlerinage" überarbeitet. In solchen Fällen wehrt sich Liszt auch gegen Neuauflagen der Erstfassungen.


    Oft sind die verschiedenen Fassungen aber als gleichberechtigt zu betrachten. Zum einen bei den Klavierfassungen eigener (oder auch fremder) Orchesterwerke: Hier fertigt Liszt meist keine reinen Klavierauszüge an, sondern nimmt einschneidende Änderungen vor, komponiert das ursprüngliche Werk weiter. Die vielen "Transkriptionen" von Werken anderer Komponisten wollte Liszt ja auch als eigenständige Kompositionen verstanden wissen. Gerade im Spätwerk Liszts finden sich dann viele Stücke, die von vornherein für verschiedene Besetzungen komponiert werden: Das kurze Klavierstück "Am Grabe Richard Wagners" (mit Zitaten des Abendmahls- und des Glockenmotivs aus "Parsifal") existiert auch in einer Orgel- und in einer Streichquartettfassung.


    Schließlich Werke, die bei gleichem "poetischen" Inhalt, der sich in der identischen Überschrift manifestiert, unterschiedlich ausfallen: die beiden "Trauergondeln" (wobei die zweite selbst wiederum in zwei Fassungen für Klavier solo und für Klavier mit Violine oder Violoncello vorliegt) oder die beiden thematisch verwandten, aber sonst sehr verschiedenen Fassungen von "Aux cyprès de la Villa d'Este". Bereits für die Dante-Symphonie hat Liszt zwei ganz verschiedene Schlüsse komponiert, wobei er die Entscheidung für die eine oder andere Variante dem Dirigenten überlässt.


    Wolfgang Dömling hat zu Recht darauf hingewiesen, dass eine solche Ästhetik im 19. Jahrhundert, das einen Kult um das "Originalwerk" betrieb, absolut unzeitgemäß war. Die Verweigerung einer eindeutig fixierten Werkgestalt (die bei Zeitgenossen Liszts zu Irritationen führte) gibt dem Gesamtwerk des Komponisten eher einen bemerkenswerten, durchaus (post-)modernen "work-in-progress"-Charakter.


    Viele Grüße


    Bernd

  • Ich hoffe ich habe beim flüchtigen Durchlesen des Threads nichts übersehen...


    Auch Dvorák kann hier genannt werden. Sinnfrei wäre es nun hier die kleineren Werke aufzuführen, darum beschränke ich mich einmal auf zwei mir bekannte und sicherlich auch etwas populäre Werke:


    Slawische Tänze op.46 & op.72


    Einmal in der Version für Orchester, welche natürlich die gängigere ist, aber auch für Klavier zu vier Händen.
    Eindrücke gibt es im entsprechenden Thread hier im Forum: Slawische Tänze.



    Des Weiteren Dvoráks Legenden op.59.
    Wiederum die Fassung für Klavier zu vier Händen und für Orchester.
    Hier schaut es schon schwieriger mit Eindrücken aus. Ich kann mich an keine Diskussion im Forum erinnern und mir persönlich gefallen beide Versionen. Je nach Stimmung die eine mehr und die andere weniger.


    Gruß, Maik

    Wie ein Rubin auf einem Goldring leuchtet, so ziert die Musik das Festmahl.


    Sirach 32, 7

  • Salü,


    nicht selten kommt es vor, dass Komponisten eigene Werke nocheinmal bearbeiten. Mir geht es hier um solche Bearbeitungen, in denen an der Instrumentation geschraubt wurde. Um einige [bekannte] Beispiele zu nennen:


    Ludwig van Beethoven
    Klaviersonate op. 14 Nr. 1 in der Fassung für Streichquartett
    Sinfonie Nr. 2 op. 36 in der Fassung für Klaviertrio
    Violinkonzert op. 61 in der Fassung als Klavierkonzert [anzweifelbar, aber offenbar vom Komponisten geduldet]


    Wolfgang Amadeus Mozart
    Fuge für 2 Klaviere KV 426 in der Fassung für vier Streicher [KV 546]
    Serenade c-moll KV 388 in der Fassung für Streichquintett KV 406 [516b]


    Bei Beethoven gefallen mir jeweils die bearbeiteten Fassung besser als die Originale. Das liegt zum einen daran, ich ich zur Zeit mehr "streichende" Kammermusik mag - gleichzeitig aber Violinkonzerte verabscheue. Bei Mozart ist mir KV 388 lieber als 406 - bei der c-moll-Fuge bevorzuge ich ebenfalls wieder die Streicherfassung, obschon sie der Urfassung für 2 Klaviere nur sehr schwer den Rang ablaufen kann.


    Wie steht's bei Euch? Welche Bearbeitungen durch die Komponisten selbst kennt ihr noch und was haltet Ihr von solchen Zweitfassungen? Machen Sie Sinn, sind sie überflüssig, bereichern sie oder lassen sie unter Umständen ein Werk ganz neu erscheinen? Was waren die Gründe für derlei Aktivitäten der Musikschöpfer? Hatte es zu bedeuten, dass sie ein nochmals bearbeitetes Werk besonders schätzten oder dass es im neuen Gewand erst "richtig" zur Geltung kam? Oder war es gar Faulheit? :D Welchen Stellenwert haben solche Bearbeitungen heute?


    :hello:


    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Guten Abend


    kann man dazu auch die "Sechs Choräle von verschiedener Art" (BWV 645-650) von J.S. Bach hinzuzählen ?
    Mindestens fünf davon sind Bearbeitungen aus Kantaten.



    Gruß aus der Kurpfalz


    Bernhard

  • Bei diesem Thema fällt mir natürlich sofort Johannes Brahms ein. Dieser war sich ja des öfteren unschlüssig, für welche Instrumente er seine wunderbare Musik eigentlich schreiben sollte.
    Es gibt daher:
    Variationen über ein Thema von Joseph Haydn in den Fassungen für Orchester (op. 56 a) und in der Fassung für 2 Klaviere (op. 56 b). Die Ungarischen Tänze wurden ebenfalls für Orchester und Klavier á 4 herausgegeben, wohl aber wegen der besseren Vermarktung. Das Klavierquartett op. 34 liegt außerdem in Fassungen für 2 Klaviere oder Streichquintett vor. Ferner sind noch die Sonaten op. 120 zu erwähnen, die (authorisiert) sowohl mit Klarinette als auch mit der Bratsche gespielt werden können.


    Diese Zweit- oder gar Drittfassungen sind m. E. meist ein Nebenprodukt, welches im Laufe des eigentlichen Schöpfungsprozesses mitentstand und dem Endprodukt wohl kaum als gleichwertig gegenübergestellt werden kann.
    Brahms war oft im Nachhinein mit der Klangfarbe eines Stückes unzufrieden und berarbeitete es deshalb noch einmal (vgl. op. 34). Darum schätze ich solche Neubearbeitungen auch eher nicht so hoch ein - waren sie doch auf für den Komponisten eher nicht zufriedenstellend.
    Andererseits werfen sie oft ein ganz anderes Licht auf das Werk selbst und können so wertvolle, weitere Hörerfahrungen bringen.
    Der Stellenwert dieser "Recycling-Ware" im heutigen Musikleben darf wohl als verschwindend gering bezeichnet werden. Höchstens eingefleischte Fans werden mit ihnen irgendetwas anfangen können... Also sind sie für das Tamino-Forum doch wieder recht bedeutend... :D


    Liebe Grüße,
    Gerald

    "Das Höchste in der Kunst - vor Gott besagt's nicht viel.
    Hat doch die Welt zuletzt nur ein moralisch Ziel."
    (Hans Pfitzner)

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  • In der Tat, und nicht nur gestreift. Der andere Thread muss unbedingt in diesem Zusammenhang gelesen werden, und hier erscheint mir eine baldmögliche Zusammenlegung mehr als sinnvoll.


    Liest ein Moderator mit? Wenn ja, dann sollte diese EInleitung bei einer Zusammenlegung gelöscht werden.


    Ich mache aus Aktualitätsgründen hier weiter.


    Als jemand die Gesamtausgabe seiner Werke in Angriff nehmen wollte, wies Rossini schamhaft darauf hin, dass dann wohl auffallen würde, dass er sich diverse Male wiederholt habe. Das betrifft nicht nur die fast wörtlich Übernahme der Ouvertüre des BARBIER aus ELISABETTA, REGINA D'INGHILTERRA, die er zwei Jahre vorher geschrieben hatte, und die ein glatter Fall von Selbstplagiat war, sondern, viel interessanter, die Übernahme eines Großteils seiner IL VIAGGIO DE REIMS in seine vorletzte Oper LE COMTE ORY. Auch hier lag natürlich zunächst einmal ein Fall von "Ökonomie" vor. Da die Musik aber auf neinen völlig anderen Stoff angepasst werden musste, gibt es eine ganze Reihe von Überarbeitungen, in denen die Musik einen völlig anderen Charakter bekommt.


    Ich denke, Rossini hielt beide Werke für gleichwertig, wobei uns aus heutiger Sicht die lange verschollene und vergessene VIAGGIO als das bessere Werk erscheint. Schade, dass die originalen Passagen des ORY dadurch zunehmend in den Hintergrund verschwinden.


    :hello: Rideamus

  • Ich hab ein WoO Klaviertrio von Beethoven, das aus der 1. und 3. Klaviersonate zusammengestellt erscheint. Es gefällt mir teilweise wirklich besser, als die Originale!

    "Das Große an der Musik von Richard Strauss ist, daß sie ein Argument darstellt und untermauert, das über alle Dogmen der Kunst - alle Fragen von Stil und Geschmack und Idiom -, über alle nichtigen, unfruchtbaren Voreingenommenheiten des Chronisten hinausgeht.Sie bietet uns das Beispiel eines Menschen, der seine eigene Zeit bereichert, indem er keiner angehört." - Glenn Gould

  • Igor Strawinsky hat mehrere seiner Werke größtenteils nach dem 2.Weltkrieg in "revidierten Fassungen" vorgelegt:


    Pulcinella (1920/ revidiert 1947)
    Apollon Musagète (1928/ revidiert 1947)
    Le sacre du printemps (1913/ revidiert 1922/1943)
    Le Baiser de la fée (Der Kuss der Fee) (1928/ revidiert 1950)
    Petruschka (1911/ revidiert 1946)


    Das Ballett Petruschka liegt auf heutigen CD-Aufnahmen in beiden Fassungen vor.


    Petruschka (1911):
    Abbado, Solti, Boulez


    Petruschka (1947):
    Chailly, Ansermet, Bernstein


    Eine Bearbeitung soll ja eine gewisse Verbesserung bringen.
    ?( Nur bei diesen beiden Fassungen bei Petruschka höre ich keine Unterschiede (bis auf die Interpretationsunterschiede der Interpreten).


    :hello: Wer weiss wo die Unterschiede liegen ? Die Texthefte der jeweiligen CD´s geben keine Auskunft.

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Hallo Ulli,


    Du schreibst, daß die Bearbeitung von Op. 61 durch Beethoven anzweifelbar sei.


    Im Rahmen des diesejährigen Beethovenfestes wurde die Klavierbearbeitung durch Olli Mustonen und Järvi aufgeführt.


    Im Programmheft wurde von Egbert Hiller folgendes geschrieben:


    "Davon unbeeindruckt schien indes der Komponist und Pianist Muzio Clementi, der einige Wochen nach der Uraufführung des Violinkonzerts nach Wien kam und Beethoven überzeugte, eine Fassung für Klavier und Orchester einzurichten. Zwar mochten finanzielle Gründe für Beethoven den Ausschlag gegeben haben, dennoch setzte er markante künstlerische Akzente - zumal in der Solo-Kadenz des Kopfsatzes, die er für die Klavierversion neu komponierte und in der er die Pauke solistisch einbezog. Ansonsten verlegte er den Violinpart mit kleineren Veränderungen in die rechte Hand des Klaviers, während er für die linke Hand eine zweite Stimme notierte, in der traditionelle Begleitfiguren und Oktavverdoppelungen vorherrschen. Den Orchesterpart ließ er unangetastet. Auch wenn er in der Transskription das spezifisch Violonistische in einigen Passagen nur mit Einschränkung auf den gänzlich anderen Klangcharakter des Tasteninstrumentes zu übertragen vermochte, so hat die Fassung für Klavier und Orchester doch ihren speziellen Reiz. Schließlich ist das Klavier Beethovens ureigenstes Instrument."


    Ich gehe davon aus, daß - wie immer - die Texte mit dem Beethoven-Haus abgesprochen sind. Ich jedenfalls verlasse mich darauf, habe auch sonst nirgends etwas anderes gelesen in diesem Falle.


    Lieben Gruß aus Bonn :hello:

    Was Du nicht willst, das man Dir tu, das füg auch keinem andern zu

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