Wie ich sehe, gab es bis jetzt noch keinen Thread über einen der interessantesten russischen Komponisten neben Schostakowitsch – und diesen Umstand möchte ich jetzt beenden. Sprechen wir also über
Sergej Iwanowitsch Krasnyj (Krasnyj-Raskajanin).
Sergej Iwanowitsch Krasnyj im Kreis einer Gruppe der Komsomol (Krasnyj steht in der 1. Reihe, dritter von rechts).
Biografisches
Krasnyj wurde am 25. März 1910 im damaligen St. Petersburg geboren. Sein tatsächlicher Name war Sergej Iwanowitsch Narodoslawskij. Seine Mutter Olga war Klavierlehrerin, sein Vater Grigorij Posaunist im Orchester des Mariinskij-Theaters.
Sergej erhielt schon in seiner Kindheit durch seine Eltern eine musikalische Ausbildung und fiel in der Schule durch seine außerordentliche Begeisterung für alles auf, was mit Musik zu tun hat. Erste Kompositionsversuche zeigen den Elfjährigen beim Versuch, Melodien in der Art der russischen Volkslieder zu erfinden.
Sergej bestand die Aufnahmeprüfung am Konservatorium als einer der jüngsten jemals dort aufgenommenen Hörer bravourös. Seine Hauptfächer waren die schon durch die Eltern erlernten Instrumente Klavier und Posaune sowie zusätzlich Komposition. Mit siebzehn Jahren erlebt er am Konservatorium die Uraufführung seines Orchesterwerks „Morgenröte“, ein Jahr später wird auf Empfehlung von Dmitri Schostakowitsch die „Revolutionssymphonie“ von der Leningrader Philharmonie uraufgeführt.
Sergej beginnt sich in dieser Zeit immer intensiver für die Sache der Bolschewiken zu begeistern und nimmt schließlich den Künstlernamen „Krasnyj“ (der Rote) an.
Die Werke dieses eben zum Krasnyj gewordenen Komponisten tragen zwar alle Titel, die auf eine Nähe zur Sowjetmacht verweisen (etwa die symphonischen Poeme „Kommunisten voran“, „Die Zukunft ist rot“ oder „Uns leuchtet der Stern“), die musikalische Sprache ist aber völlig eigenständig: Sie basiert auf einem nicht tonartengebundenen Satz, die Melodietypen der Agitationsmusik werden zitiert, stehen aber wie Fremdkörper in der frei dissonanten Umgebung.
Im Orchesterwerk „Sowjetische Pioniere“ verwendet Krasnyj als erster russischer bzw. sowjetischer Komponist ein System von Reihen, das entfernt jenem Josef Matthias Hauers verwandt ist: Krasnyjs Basis sind fünfstimmige Akkorde, von einem Akkord zum nächsten muß immer ein Ton liegen bleiben, die anderen Töne können in der Reihe sowohl vor- als auch zurückschreiten, der größte Schritt zwischen zwei Tönen darf aber nicht größer als eine große Sekund sein. Allerdings können die Stimmen ihre Lagen innerhalb des Akkordes wechseln. Tonartengebundene Akkorde sind erlaubt, werden aber nicht angestrebt. Innerhalb eines Akkordes darf kein Ton verdoppelt werden.
Ich will das an einem Beispiel veranschaulichen – bitte die Töne jeweils von unten nach oben gelesen vorstellen (geschrieben c-e-g bedeutet, daß c der tiefste und g der höchste Ton ist). Nehmen wir also zwei aufeinander folgende Akkorde: c-e-fis-a-h / b-d-fis-gis-cis. Der gemeinsame Ton ist fis. Die Stimmführung lautet eigentlich c->b, e->d, a->gis, h->cis; es ist aber erlaubt, daß die Trompete etwa c->gis spielt, die Violine e->b, die Klarinette h->d usw.
In seinem nächsten Werk, „Rote Sonne“, erlaubt Krasnyj auch, daß die Oktavlagen von Akkord zu Akkord wechseln dürfen, es sind also Intervallsprünge von jeweils einem Sekundschritt plus ein bis drei Oktaven möglich. Die Tonfolge e-fis kann theoretisch also zwischen Kontra-E und zweigestrichenem fis aufgeteilt werden.
Krasnyj erreicht damit eine extreme Geschmeidigkeit des Tonsystems, das kaum noch nach einer konstruktiven Grundlage klingt. In seiner sechssätzigen Symphonie „Sieg der Revolution“ stülpt Krasnyj seinem eigenen System verschiedene Züge der Musik Skrjabins über (es werden Akkorde angestrebt, deren hauptsächliche Intervalle Quarten und Tritonus-Intervallen sind), wodurch dieses Werk sich bereits stark von der kratzig dissonanten frühen Phase wegbewegt.
Dmitri Schostakowitsch, obwohl nur unwesentlich älter als Krasnyj, aber bereits eine fixe Größe am sowjetischen Komponistenhimmel, ist in dieser Zeit Krasnyjs vehementester Fürsprecher. In einem Artikel für die „Kulturnaja Gaseta“ bezeichnet Schostakowitsch seinen jüngeren Kollegen als „die große Hoffnung unseres Zeitalters“.
Angesichts dessen kann man sich unschwer vorstellen, wie nahe Krasnyj der Bruch mit seinem Mentor Schostakowitsch gefallen sein muß. Im Zuge der berühmt-berüchtigten Auseinandersetzungen um Schostakowitschs Oper „Lady Macbeth“ (1936) bestärkte Krasnyj die Gegner dieser Oper in ihren Argumenten. In mehreren Artikeln äußerte Krasnyj seine Befürchtung, daß die von Schostakowitsch betriebene Anhäufung von Dissonanzen die moderne sowjetische Musik von den Zuhörern trennen und nur den Geschmack einer Elite bedienen würde. Aus dieser verbalen ästhetischen Klärung seiner künstlerischen Ziele erwächst Krasnyjs neuer Stil, der ein melodiebetontes tonales Idiom bevorzugt. Sämtliche Behauptungen, es handle sich um einen „Kniefall vor Stalin“ und einen Verrat an Schostakowitsch müssen zurückgewiesen werden. Krasnyjs Position ist nicht das Resultat von Opportunismus, sondern entspringt seinem ureigenen Lebensgefühl.
In das Jahr 1936 fällt auch Krasnyjs erstes großes Vokalwerk, die Kantate „Lob der Partei“. Krasnyj schreibt das einstündige Werk in einem „Sturm von Inspiration und Verantwortung“ (Zit. Krasnyj) in nur sieben Wochen. Das Werk als reine Propaganda-Musik abzutun, ist allzu einfach. Vor allem im Finalsatz „Die Helden des Oktober“, einem hymnischen Chor über einer Passacaglia, deren Thema von der Melodie der „Internationalen“ abgeleitet ist, spürt man die starke Emotion hinter Krasnyjs nun kräftiger, geradliniger Musik.
Im Krieg versieht Krasnyj wichtige Verwaltungstätigkeiten in diversen Parteibüros, unter anderem tritt er als Redner für die Komsomol (kommunistische Jugend) auf und hilft bei der Reorganisation des KGB. Diese Arbeiten nehmen Krasnyj so gefangen, daß er während des Krieges nur die knapp viertelstündige Festouvertüre „Junge Helden“ komponiert.
1946 begeistert Krasnyj dann aber mit seiner abendfüllenden Kantate „Der Sieg der Roten Armee“, mit der er sich in die Annalen der sowjetischen Musik unauslöschlich einschreibt. Es wäre unredlich zu verschweigen, daß diese Kantate Stalin gewidmet ist. Man muß allerdings akzeptieren, daß Stalin als siegreicher Feldherr angesehen wurde. Krasnyj ist weder Mitläufer noch Opportunist, sondern ein Komponist, der sich für eine von ihm für gerecht gehaltene Ideologie begeistert.
1947 erzielt Krasnyj mit seiner Symphonie „Stalingrad“ für zwei Männerchöre, vier Blechbläsergruppen und großes Orchester einen seiner nachhaltigsten Erfolge. Das Werk wird 1971 von Jewgenij Swetlanow auf zwei Melodija-Schallplatten herausgebracht (wurde aber bis jetzt nicht auf CD veröffentlicht).
1948 schreibt Krasnyj dann seine erste Oper, die lyrische Musikkomödie „Arbeit, Tanz und Liebe“ (davon mehr im Abschnitt über die Opern weiter unten).
Die kurzen Orchesterstücke „Gratulationen“ entstehen ab 1950 und sind sozusagen musikalische Danksagungen an bedeutende Persönlichkeiten; unter diesen so geehrten befinden sind Lenin, Stalin, Breschnjew, Molotow, Schdanow, Gagarin, Berija und Dserschinskij (die beiden letztgenannten waren Leiter des KGB). Es spricht für Krasnyjs extrem selbstkritische Haltung, daß er die „Gratulationen“ an Boris Pasternak, Alexander Solschenizyn und Nikita Chruschtschow zurückgezogen hat.
1951 komponiert Krasnyj das abendfüllende Chorwerk „Atheistisches Manifest“ für Sprecher, sechs Solisten, Kinderchor, gemischten Chor, Militärkapelle und großes Orchester, das als ein Hauptwerk Krasnyjs gilt. Krasnyj weist in diesem Werk antireligiöse Aussagen diverser Persönlichkeiten den Solisten zu, während der Sprecher die Fehler der Religionen referiert. Der große Chor bezieht Stellung und lobt die Errungenschaften des Kommunismus. Damit wird Religion als etwas Individualistisches (Solisten!) dargestellt, während der Kommunismus die Volksbewegung (Chor!) symbolisiert. Erst am Schluß bündelt Krasnyj alle Kräfte zum jubelnden Finale „Hoch über uns blinkt rot ein Stern“. Das „Atheistische Manifest“ wird 1974 von Jewgenij Swetlanow aufgenommen und auf zwei Schallplatten bei Melodija herausgebracht (bis jetzt aber nicht auf CD umgeschnitten).
1950 hat Krasnyj die um 20 Jahre jüngere Nadja Tschernezowa geheiratet. Die Ehe hält nur bis 1952: Nadja Tschernezowa wird von anonymer Seite wegen konterrevolutionärer Umtriebe denunziert. Krasnyj läßt sich der von seiner Frau scheiden. Nadia Tschernezowa wird nach Gorkij verbannt, wo sich ihre Spuren verlieren. Krasnyj heiratet nie wieder, allerdings werden ihm zahlreiche Affären nachgesagt.
1954 komponiert Krasnyj seine Oper „Lenin lebt in uns“ (siehe unten stehenden Beitrag) und beginnt den Symphoniezyklus „Die Jahre der Revolution“, der erst 1970 mit der Chorsymphonie „Die Partei ist unsere Heimat“ seinen krönenden Abschluß findet. Die aus diesem Zyklus stammenden Symphonien „Das Joch der Zaren“ und „Blühendes Leningrad“ nimmt Gennadij Roschdestwenskij 1979 für Melodija auf (diese Aufnahmen sind kurze Zeit auf Olympia-CDs erhältlich gewesen, derzeit aber nicht im Handel).
Krasnyj nach einer Aufführung seiner der Komsomol gewidmeten Kantate "Für immer jung"; Krasnyj ist rechts im Bild.
Krasnyj tritt ab der zweiten Hälfte der 60-er Jahre wiederholt vehement gegen Bestrebungen auf, auch in der Sowjetunion diverse Stilrichtungen der Neuen Musik durchzusetzen. Krasnyjs Abhandlungen „Die Schädlichkeit des Amerikanismus für die sowjetische Musik“ und „Die Dissonanzen des Westens“ (letzteres auf deutsch im Verlag der Volksstimme, Wien, 1976) sind kluge, mit spitzer Feder geschriebene Auseinandersetzungen über den Einfluß der Demokratie auf die musikalische Ästhetik. Später wird er in heftigen Pamphleten die Komponistin Galina Ustwolskaya vor allem wegen ihrer Religiosität angreifen, in der er eine Anbiederung an den Westen zu erkennen glaubt. Krasnyj nennt Galina Ustwolskaya den „Onkel Sams gefallenen Engel der Dissonanz“. In Kreisen sowjetischer Künstler wird ein Zitat aus Krasnyjs „Schädlichkeit des Amerikanismus“ zum geflügelten Wort: „Der wahre sowjetische Künstler braucht Brot für den Bauch und Lenins Schriften für das Herz.“
Als die Sowjetunion 1979 in Afghanistan einmarschiert, feiert Krasnyj diesen Schritt mit der Kantate „Sturm der Freiheit“. Auch sein Orchesterwerk „Wir folgen der roten Fahne“ ist diesem Feldzug gewidmet. 1990 komponiert Krasnyj die Kantate „Lenin, Schirmherr der Völker“, die mit ihrem optimistischen Schwung zu Krasnyjs eingängigsten Werken zählt.
Der Zerfall der Sowjetunion (1991) ist ein tiefer Schnitt im Leben des mittlerweile 80-jährigen Komponisten. Schon zuvor hatten Krasnyj eigener Aussage zufolge wiederholt Zweifel am Kommunismus gequält, ohne daß er sich zu einer künstlerischen Aussage zu diesem Thema durchringen konnte. Nun aber findet Krasnyj zu einer neuen Religiosität. Nicht nur, daß er seinem Namen „Raskajanin“ (etwa: „Der Reumütige“) hinzufügt, es scheint auch, daß ihm sein neuer Glaube die alten Schöpferkräfte zu bewahren hilft. Krasnyjs Werkliste ist tatsächlich gewaltig:
1992: Orthodoxe Symphonie für Horn und Orchester, Klavierliederzyklus „Demütige Lieder“
1993: Klarinettenkonzert „Im Glauben bin ich stark“ und Erstes Klavierkonzert „Heilige Ikonen“
1994: Kantate „Maria wacht über mich“
1995: Erstes Violinkonzert „Der Engel tritt zu mir“
1996: Kantate „Orthodoxes Manifest“
1997: „Gratulation“ für Jelzin
1998: Orgelkonzert „Die Heiligen sind unter uns“
1999: Zweites Violinkonzert „Auferstehung“
2000: Erstes Streichquartett „Weihnachtsquartett“, Zweites Klavierkonzert „St. Basilius“
2001: „Gratulation“ für Putin
2005: Zweite „Gratulation“ für Putin
Ab 2001 entsteht ein Zyklus mit orchestralen Porträts biblischer Gestalten. Bis jetzt liegen vor: „Maria“ (für Streichorchester mit konzertanter Harfe), „Judas“ (ein dämonisches Scherzo für Trompete und 13 Schlagzeuger), „Johannes“ (für Violoncello und großes Orchester), „Maria Magdalena“ (für Sopran und Orchester, Anna Netrebko gewidmet, für 2009 als Uraufführung unter Valeryj Gergiew bei den Salzburger Festspielen geplant – eine Aufnahme soll für die DG für Anna Netrebkos zweites "Russisches Album" mitgeschnitten werden).
Typisch für die Spätphase in Krasnyjs Werk ist die Besinnung auf die Melodie und Harmonik des orthodoxen Gesanges und eine Betonung der konzertanten Haltung. Mitunter fließen Elemente des Blues und der Zwölftontechnik ein. Die Abläufe werden mitunter seriell präfixiert, allerdings ohne die immer noch als Basis dienende Tonalität aufzulösen. Bis zu seinem Spätwerk war Krasnyj übrigens dem Konzert als „Ausdruck eines schädlichen Individualismus“ aus dem Weg gegangen. Nun empfindet er das Konzert als die „erregendste Möglichkeit für einen Komponisten, den individuellen Menschen in seinem Glauben zu feiern“ (Zit. Krasnyj).
Der nun 97-jährige Komponist lebt derzeit in Moskau und ist nach wie vor kompositorisch tätig. Sein Rezept, sich auch im hohen Alter eine ungebrochene Schaffenskraft zu bewahren: „Zwiebel zum Frühstück, Borschtsch zu Mittag, Wodka und ein Gebet am Abend“.
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Geschichten über Krasnyj
Über Sergej Iwanowitsch Krasnyj existieren zahlreiche Geschichten, von denen die meisten allerdings ins Reich der Legende gehören. Ich zähle nur fünf kommentarlos auf.
- Krasnyj soll ein hochrangiger KGB-Offizier gewesen und am Sturz Chruschtschows maßgeblich beteiligt gewesen sein.
- Krasnyj soll sich geweigert haben, den Namen Schostakowitsch korrekt auszusprechen. Erst nach Schostakowitschs Tod soll Krasnyj den Namen richtig ausgesprochen haben.
- Krasnyj war ursprünglich mit Tichon Chrennikow befreundet, wurde von diesem dann aber mit Haß verfolgt, nachdem Krasnyj vom KGB ein Verdienstabzeichen zugesprochen bekommen hatte, das Chrennikow für sich selbst beansprucht hatte.
- Den Text zu Krasnyjs „Atheistischem Manifest“ soll Stalin selbst geschrieben haben.
- Für sein „Orthodoxes Manifest“ soll Krasnyj weite Teile seiner Kantate „Rote Erde“ (1949) verwendet haben.
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Die Opern von Sergej Iwanowitsch Krasnyj
Arbeit, Tanz und Liebe (1948 )
Inhalt
In einer Kolchose. Die junge Traktorfahrerin Sonjetka hat zwei Probleme: Immer wieder ist der Traktor kaputt, weshalb die Kolchose hinter dem Plansoll zurückbleibt; und sie liebt Boris, den Vorsitzenden der örtlichen KPdSU-Sektion. Sonjetkas Vater ist allerdings alten Traditionen verhaftet. Er will seine Tochter nur einem Mann zur Frau geben, der beim großen Revolutionsfest im Oktober beim Gopak-Tanzen siegt. Da Boris im Krieg ein Bein verloren hat, ist er beim Gopak chancenlos.
Sieger beim Wetttanzen ist Igor, ein übler Trunkenbold und Weiberheld. Ihn soll Sonjetka nun nach dem Willen ihres Vaters zum Mann nehmen.
In ihrer Verzweiflung wendet sich Sonjetka an Stalin selbst. Stalin besucht unter dem Vorwand, er müsse in dieser bemerkenswert unproduktiven Kolchose selbst nach dem Rechten sehen die Kolchose. Er erkennt in Igor einen gesuchten Saboteur. Igor gibt zu, den Traktor Sonjas sabotiert zu haben und dadurch für die Produktionsausfälle verantwortlich zu sein. Er wird abgeführt.
Nun geht Stalin selbst als Brautwerber für Boris zu Sonjetkas Vater, der dem Generalsekretär der Kommunistischen Partei natürlich nichts abschlagen kann. Boris und Sonjetka dürfen heiraten, und Sonjetkas Vater gelobt, der KPdSU beizutreten. Mit einem Hymnus auf Stalin und die Partei schließt die Oper.
Auf den ersten Blick nimmt sich „Arbeit, Tanz und Liebe“ (das brillant witzige Libretto stammt von Krasnyj selbst) wie ein Propaganda-Machwerk aus, aber es ist eine wesentlich tiefschürfendere Oper, als man zuerst annimmt. Der Konflikt zwischen Tradition (Sonjetkas Vater) und dem neuen Lebensgefühl (Sonjetka) wird deutlich herausgearbeitet . Sowohl das Liebespaar als auch Stalin werden mit typisch russischer Melodik gezeichnet, während der Saboteur Igor mit Zwöltonreihen charakterisiert ist. Den Orchesterklang bestimmt ein Quintett aus Balalaikas (inklusive Kontrabaß-Balalaika), dazu treten zwei Ziehharmonikas . Die Musik ist frisch und vital, wo das Volk und seine Vertreter geschildert werden. Hier begegnet man immer wieder typisch russischen Singweisen, aber auch Revolutionsliedern und Märschen. Sonjetkas Vater indessen gewinnt die Sympathie des Komponisten erst, wenn er den Parteibeitritt verspricht.
Die Oper war nach ihrer Uraufführung in Frunse in den Jahren bis 1953 ein großer Erfolg, verschwand aber im Zuge der Entstalinisierung schlagartig von den Spielplänen. Die Bänder einer Gesamtaufnahme des Werkes durch die Oper von Alma-Ata (1952) sollen gelöscht worden sein.
Lenin lebt in uns (1954)
Die Oper „Lenin lebt in uns“ entwirft ein kühnes Panorama der Sowjetunion in Form einer berührenden Handlung.
Inhalt
Der Kolchosarbeiter Iwan ist als Freiwilliger in den Krieg gezogen. Seine Geliebte, die Maschinistin Anna, ist allein zurückgeblieben. Da erhält sie die Nachricht, Iwan sei im Kampf gegen die Hitler-Truppen gefallen. Nun gibt Anna dem Maschinenbauers Nikolaj nach, der sich schon lange um die Frau bemüht hat. Wirklich lieben tut Anna Nikolaj allerdings nicht.
Die Kolchose feiert ein Freudenfest: Der Krieg ist zu Ende. Allmählich kehren auch fast alle Kolchos-Arbeiter zurück, die in den Krieg gezogen waren. Nur Iwan ist gefallen.
Ein Agrar-Kommissar kommt auf Inspektionsreise in die Kolchose. Die Männer tauschen Kriegserlebnisse aus. Da erzählt der Agrar-Kommissar vom tapfersten Mann, den er je kennengelernt habe: Ein gewisser Iwan Iwanowitsch habe in einem Feuergefecht beide Beine verloren, sei aber auf seinen Stümpfen zurückgekrochen und habe dabei einen Kameraden mitgeschleift und ihm so das Leben gerettet. Dieser Kamerad sei er, der Agrar-Kommissar.
Schlagartig wird allen klar: Iwan Iwanowitsch – das kann nur Annas Iwan sein. Anna ist verzweifelt: Ihr Iwan lebt – aber sie ist mit Nikolaj verheiratet und hat mittlerweile auch ein Kind von ihm. Doch der Agrar-Kommissar läßt nicht locker: Anna muß Iwan sehen.
Der Agrar-Kommissar führt Anna zu Iwan, der mittlerweile ein hoher KPdSU-Funktionär ist. Anna und Iwan müssen sich eingestehen, einander noch immer zu lieben. Anna verläßt Nikolaj und zieht zu Iwan in die Stadt.
Einige Zeit später: Anna und Iwan haben erkannt, daß sie nicht mehr die Menschen sind, die sie waren. Der Krieg hat sie verändert und neue Prioritäten gesetzt. Anna gehört in die Kolchose, wo ihre Tatkraft und Klugheit längst schmerzlich abgehen. Und Iwan gehört mit seinen ganzen Kräften der Arbeit für die Partei.
Nikolaj holt Anna ab. Iwan bittet Nikolaj, diese Frau zu beschützen, denn Frauen wie sie sind die Säulen der Sowjetunion. Zu Anna sagt Iwan, sie solle sich bemühen, Nikolaj ehrlich lieben zu lernen, denn kein anderer Mann verdiene ihre Liebe so sehr wie er, der ihr auch in schweren Stunden beigestanden ist. Anna verspricht es. In einem Terzett verkünden sie, daß jeder erkennen müsse, wo sein Platz im Räderwerk der Sowjetunion ist – und vereint sind sie alle dadurch, daß Lenin in ihren Herzen lebt.
Krasnyjs Oper thematisiert sowohl den Krieg als auch die Nachkriegszeit. In seinem eigenen, dichterisch hochstehende Libretto entwirft Krasnyj mit großem Einfühlungsvermögen seine Gestalten. Die Entscheidung gegen die eigenen Gefühle zum Wohl des Ganzen werden in Form minutiös durchstrukturierter Monologe getroffen. Iwans Kriegsverletzung steht für das durch den Krieg verwundete Volk der Sowjetunion. Wenn Iwan sich am Schluß in den Dienst seines Landes stellt, wandelt er seine physische und psychische Verwundung um in politische Aktivität. Damit wird der Kriegsversehrte aus eigener Kraft zum Helden auch in Friedenszeiten. Jeder Hauptpersonen ist ein eigener Singstil zugewiesen: Anna singt in Kantilenen, die der Volksmusik abgelauscht sind, Iwan sind Melodietypen des Revolutionsliedes zugewiesen, Nikolaijs Stil ist eine leidenschaftliche Deklamation. Der Agrar-Kommissar pendelt als Verhandler zwischen den Stilen, er kann mit jedem in seiner Sprache sprechen.
Interessant ist, daß die Oper den Chor nur spärlich miteinbezieht. Allerdings treten die Einzelpersonen als Stellvertreter des Volkes auf, ihre Schicksale sind individuell, greifen aber auf Schicksale sowjetischer Menschen zurück. Letztendlich handeln sie nicht als Individuen, sondern als Vertreter ihres Volkes.
Zu den Höhepunkten der Oper zählen die Szenen in der Kolchose, für die Krasnyj schon in seiner ersten Oper eine besonders glückliche Hand hatte. Speziell die in einer gewaltigen Chorszene gipfelnde Klimax der Kriegserzählungen und das Schluß-Terzett müssen als Höhepunkten der Oper des 20.Jahrhunderts angesprochen werden.
„Lenin lebt in uns“ wurde in Alma-Ata uraufgeführt und schon im folgenden Jahr in Frunse nachgespielt. Weitere Aufführungen folgten in Gorkij, Togliatti, Swerdlowsk, Semiplatinsk, Kasan, Perm, Woronesch und Archangelsk. „Lenin lebt in uns“ gilt nach Inszenierungen auch in China und Nordkorea als eine der international erfolgreichsten sowjetischen Opern. Die Aufführung des Opernhauses von Woronesch wurde von Melodija auf drei Schallplatten veröffentlicht, ist aber bisher nie auf CD erschienen.
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Wertung Sergej Iwanowitsch Krasnyj einfach als Parteikomponisten abzutun, der schließlich zum Mitläufer der neuen Religiosität in Rußland wurde, wäre zu einfach. Krasnyjs frühe Phase zeigt einen Komponisten, der Schostakowitsch und Prokofjew an Originalität möglicherweise sogar überlegen ist. Aber auch die mittlere und die späte Phase zeigen Krasnyj als einen glänzenden Melodiker und originellen Harmoniker, der immer mit verblüffenden Wendungen begeistern kann. Krasnyj hat sich zweifellos nicht dem Westen angebiedert, erscheint gerade dadurch aber als ein zutiefst ehrlicher, im Denken und in der Kultur seines Volkes fest verwurzelter Komponist. Obwohl die Titel seiner Werke diese zu kompromittieren scheinen, ist die Musik selbst zu wertvoll, um der Vergessenheit anheim zu fallen. Es sollte zu einer der wichtigsten Aufgaben zumindest der jüngeren Dirigentengeneration werden, etwaige ideologische Inhalte zu ignorieren und der Musik Krasnyjs eine Chance zu geben.