Wenns gleichzeitig vor allem an den Enden des Zeitstrahls interessant wird - Alte und neue Musik

  • Hallo zusammen,


    seit ca. einem Jahr stelle ich eine zunehmende Tendenz in meinen musikalischen Interessensschwerpunkten fest, ein Streben weg von der Mitte sozusagen. Lag dieser Schwerpunkt anfangs vor allem bei Klassik und Romantik, schiebt sich in letzter Zeit unaufhaltsam vor allem ältere und neuere Musik in den Fokus, mit Tendenz nach "außen". Also angefangen bei Bach und Schostakowitsch geht’s dann über Monteverdi und Webern langsam aber sicher auf Dufay und Messiaen oder Ligeti zu.
    Wohlgemerkt ist damit keine Verschiebung der musikalischen Wertschätzung oder Begeisterung verbunden, ich höre nach wie vor eine Haydnsinfonie und ein Schubertlied mit großer Begeisterung.


    Nur das Interesse für Neuerwerbungen, somit Neuentdeckungen verschiebt sich permanent in die Randbereiche. Wobei ich aber explizit auf den Dualismus zwischen dem Interesse für alte und neue Musik hinaus will.


    Die Interessante Frage nämlich: Ist die Erklärung einfach und es handelt sich halt nur um einen Drang hin zu Werken abseits vom "Mainstream", - oder lassen sich musikalisch begründete (Interessens)-Brücken zwischen der "alten" und "neuen" Musik aufbauen ?


    :hello:
    Sascha

  • Zitat

    Original von Antracis
    Die Interessante Frage nämlich: Ist die Erklärung einfach und es handelt sich halt nur um einen Drang abseits vom "Mainstream", oder lassen sich musikalisch begründete (Interessens)-Brücken zwischen der "alten" und "neuen" Musik aufbauen ?


    Beides. Wobei ich als Brücken eher das Fehlen von Funktionsharmonik und klassisch-romantischer Formgebung ansehe, die (beide) wohl die Verantwortung dafür haben, dass beim "Klassikliebhaber" Klassik und Romantik den Mainstream bilden.


    Je nach Ausbaustufe der Sammlung kann man dann natürlich wieder zu einem anderen Teilbereich zurückkehren, aber das 20. Jahrhundert mit seiner immensen Fülle an divergierenden Personalstilen ist nun mal am allerbesten geeignet, permanent weitere Lücken zu finden, die gefüllt werden möchten, während in älteren Epochen das Gehen vom Hundertste ins Tausendste zwar auch reizvoll ist aber eventuell eher irgendwann als übertrieben empfunden wird.
    :hello:

  • Zitat

    Original von Kurzstueckmeister
    ...aber das 20. Jahrhundert mit seiner immensen Fülle an divergierenden Personalstilen ist nun mal am allerbesten geeignet, permanent weitere Lücken zu finden, die gefüllt werden möchten, während in älteren Epochen das Gehen vom Hundertste ins Tausendste zwar auch reizvoll ist aber eventuell eher irgendwann als übertrieben empfunden wird.
    :hello:


    Das Statement verstehe ich nicht. Weshalb sollten Personalstile in der Moderne interessanter sein als bei Alter Musik bzw. bei letzterem als übertrieben empfunden werden? ?(

    Da freute sich der Hase:
    "Wie schön ist meine Nase
    und auch mein blaues Ohr!
    Das kommt so selten vor."
    - H. Heine -

  • Hallo Thomas,


    ehrlich gesagt bin ich mir ohnehin unsicher, da ich in alten Stilen auch die Kleinmeister sammle, soviele ich mir halt merken kann (vor allem in der Malerei) ...


    Dann denke ich mir aber tatsächlich: Das hättest Du Dir sparen können, wozu musst Du jetzt auch noch diese vielen Namen kennen, Du bist ja kein Kunstgeschichtler, der Zuschreibungen machen muss ...


    Ich finde also (bei mir selbst) manchmal die Fülle der bekannten Kleinmeister übertrieben.


    In der Moderne ist das insofern etwas weniger der Fall, als die Personalstile weiter auseinander liegen. Man hat also nicht das Gefühl, eine weitere sehr ähnliche Variante kennengelernt zu haben, wodurch man zum Schluss kommen könnte, dass das im Grunde etwas unnötig war, sondern man erkennt recht leicht das sehr spezifisch andersartige des neu kennengelernten Künstlers. Ob mans dann lieber hört oder sieht, ist eine andere Frage. Dennoch ist für mich der Anreiz, möglichst viele Künstler aus der Zeit des postmodernen Auseinanderdriftens der Personalstile (also vor allem ab den 60er Jahren) größer. Allerdings gibt es dort als hemmendes Element die Tatsache der noch nicht so guten Ausgesiebtheit - soll heißen, die Gefahr, etwas zu erwischen, was man dann nicht gut findet, ist größer. Somit sammle ich die Musik ab 1960 eigentlich nicht wesentlich ausführlicher als frühere.
    :hello:

  • Ich mache seit etwa 1 Jahr die gleiche Entwicklung durch. Zwar kaufe ich nach wie vor Beethoven, Schubert oder spätere Meister, auch meine Wertschätzung diesen Komponisten gegenüber hat sich nicht verändert.


    Der Schwerpunkt hat sich jedoch eindeutig in die gleichen Gebiete verschoben, die Du aufzählst. Bei mir macht sich diese Entwicklung auch hinsichtlich der Werkgattungen bemerkbar, weg von großorchestraler Symphonik hin zur Kammer- und Klaviermusik, Orchestermusik in kleinen Besetzungen, Vokalmusik.


    Der Drang (ich benutze lieber den Begriff musikalische Neugier) ist sicher eine Ursache, wobei durchaus nicht jeder diesen besitzt. Viele - auch hier im Forum - begnügen sich mit der Berieselung durch "schön" klingende Musik ;) , von Neugier ist da nicht viel zu merken.


    Welche Brücken das sein könnten, würde mich auch sehr interessieren. KSM hat schon einen Gesichtspunkt genannt. Mir fehlt einfach die musikwissenschaftliche Bildung ;(



    Der Zeitbegriff im Mittelalter und in - einiger - zeitgenössischer Musik könnte so eine Brücke sein, siehe hier:



    Auch in diesem Buch ist davon viel die Rede: Arvo Pärt - Die Musik des Tintinnabuli-Stils, Hrsg. v. Hermann Conen (01.2006), ohne Abb bei jpc.

  • Tamino XBeethoven_Moedling Banner
  • Also erstmal, ein "Strahl" (Halbgerade) hat gar kein Ende, sondern nur einen Anfang... :D


    Ich finde das eine relativ normale Entwicklung, wenn man, wie die meisten Hörer im 19. oder späten 18. Jahrhundert begonnen hat. Jedenfalls naheliegender als sich auf alle möglichen Kleinmeister des 18. & 19. Jhds. zu stürzen...
    Ich lernte vereinzelte Stücke aus dem 20. Jdh. (besonders Bartok, Strawinsky) schon in den ersten Jahren meines Klassikhörens kennen. Vor Bach und Händel sah es jedoch, von ein wenig Purcell und Monteverdi abgesehen sehr lange ziemlich flau aus. Musik der Renaissance und des Mittelalters ist erst seit recht kurzer Zeit in den Blickpunkt gerückt. Ein Madrigal des 16. oder gar Musik des 13. u. 14. Jhds. ist mir erstmal sehr viel fremder als Musik von Schostakowitsch.
    Am anderen "Ende", also im 20. Jhd. kenne ich vermutlich ein wenig mehr als beim alten Zeugs, aber unsystematisch, mit großen Lücken und blinden Flecken, aus welchen Gründen auch immer. Einige Schostakowitsch-Sinfonien und -quartette kenne ich seit über 10 Jahren, aber ich kenne immer noch nicht alle...
    Und von der Musik der letzten 30 Jahre ist mir kaum etwas bekannt...


    Momentan interessieren mich wirklich die ersten Jahrhunderte der abendländischen Musik, seit der Etablierung der Polyphonie, also ca. 1200-1500 am meisten, u.a. weil mir bis vor einigen Wochen wirklich nicht klar war, was es damals schon alles gab. Wobei ich einräumen muß, dass es teils ein eher intellektuelles Interesse ist, wirklich "drin" bin ich hier noch lange nicht.


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Servus,


    da den meisten Klassikhörern die zeitgenössische Musik nicht genießbar ist, aber doch gelegentlich einen gewissen Drang nach Neuem verspüren, werden einfach Unmengen alter Werke aus der Versenkung geholt und mit dem Prädikat "Wiedererstaufführung" quasi zu neuer Musik gemacht. Solange also Nachschub von Gestern besteht, dürfte die zeitgenössische Musik kaum eine Chance haben, größere Breitenwirkung zu entfalten.


    Die Alte Musik ist die Neue Musik von Heute. :D


    Da ist es nur konsequent, dass es etliche HIP-Combos gibt, die gerne auch mal Zeitgenössisches in ihre Konzertprogramme einflechten. Auf CD würde sich sowas wahrscheinlich schlecht verkaufen, aber im Konzert werden die Leute wegen ein paar Minuten kaum weglaufen.


    Ich persönlich finde dieses Zumischen eine prima Sache. So bin ich beispielsweise mal in den Genuß gekommen, Pärts Stabat Mater mit Barockinstrumenten zu hören. Wie scharf und obertonreich da die Dissonanzen waren, so ganz ohne Vibrato und auf Darmseiten. Das war ein sensationelles Erlebnis!



    herzliche Grüße,
    Thomas

    Da freute sich der Hase:
    "Wie schön ist meine Nase
    und auch mein blaues Ohr!
    Das kommt so selten vor."
    - H. Heine -

  • Zitat

    Wobei ich einräumen muß, dass es teils ein eher intellektuelles Interesse ist, wirklich "drin" bin ich hier noch lange nicht.


    Dieser Satz könnte auch von mir stammen.


    In erster Linie fülle ich meine Sammlung mit sogenannten "Kleinmeistern" des 18. Jahrhunderts auf. Dies liegt darin begründet, daß ich es immer schon als eine Tragik der Musikgeschichte empfunden habe, daß Mozart - aber auch Schubert viel zu früh verstorben sind - was hätte da nicht alles noch kommen können....!!


    Mir stellte sich in relativ jungen Jahren die Frage ob es denn nicht noch andere (fast) gleichwertige Komponisten gäbe - sol landete ich bei Johann Christian Bach - dem im Laufe der Zeit viele andere Komponisten des 18. Jahrhunderts folgten - und es stellte sich heraus, daß das,was ich an Mozart so liebte - im Wesentlichen der Stil des 18. Jahrhunderts war. Die Musik des späten 19. Jahrhunderts erschien mir zu sperrig und zu dick instrumentiert, Brahms erschien mir bereits als zu spröde, und auch Tschaikowsky war - im Gegensatz zu Mendelssohn - nicht mein Fall.
    Nach und nach gewann aber auch diese Musik an Bedeutung - bis hin zu den "gefalligeren" Mahler Sinfonien. Im Bereich des Barock war immer schon Vivaldi "mein" Mann, Bach brauchte bedeutend länger um mich zu erobern. Hingegen hatte ich schon in jungen Jahren eine Vorliebe für englische Lautenlieder, die mir melancholisch und beruhigend gleichzeitig erschienen. Mittelalterliche Musik erschien mir nicht unbedingt "schön" sie hat mich jedoch schon aus "historischen" Gründen Interessiert - und tut es - noch immer. Ich ertrage diese Musik jedoch lediglich in kleinen Dosen....
    Kommen wir zur "modernen " Musik - also jener ab Mahler.
    Es wird manche verwundern - aber auch hier gibt es einiges in meiner Sammlung - wenngleich hauptsächlich aus intellektuellem Interesse - weniger, weil mir diese Musik wirklich gefällt.
    Dennoch gab es immer wiedr Überraschungen - etwa als ich (vor etwa 6 Jahren) eine ungeliebte Schostakowitsch CD hervorkramte und feststellen musste, daß ich diese Musik urplötzlich als vertraut empfand.- was zum sprunghaften Ansteigen meiner Schostakowitsch Sammlung führte....
    Meine Sammlung im Bereich des 20. Jahrhunderts ist vor allem geprägt von Komponisten, die - jeder auf seine Art - versuchten Brücken in die Vergangenheit herzustellen - es sei dahingestellt aus welchen Motiven.


    Somit sind Schostakowitsch, vor allem aber Strawinsky und Mahler Fixpunkte in meiner Sammlung, desgleichen Orff.
    Meine Mutter behauptet, mein musikalischer Geschmack habe sich durch das Forum radikal verschlechtert, ich höre nunmehr durchwegs ungeniessbares (sie drückt das allerdings drastischer aus).


    Überhaupt nichts am Hut habe ich mit Musik ab 1950.
    Lange Zeit habe ich über diese Frage gegrübelt, und mich gefragt WARUM denn das so sei.
    Irgendwann ist mir dann klar geworden, daß eine Zeit, welche nichts anderes zu bieten hat als Fast-Food, (schiefe) Beton und Glastürme, Massenartikel, Paperback-Bücher an Stelle edler Leder- oder Leinenbände, datenreduzierte Musikformate statt Edel Hifi, Getränke aus Pappbechern, sowie einem geschmacklichem Diktat des Proletariats, welches sich in Chefetagen, Kulturschlüsselstellen und Politfunktionen hochgeboxt hat - kaum Musik hervorbringen kann, welche mit meinem Weltbild kompatibel ist.
    Dennoch glaube ich, daß mein musikalisches Interesse (nicht unbedingt meine Liebe) relativ breit gestreut ist - von Oswald von Wolkenstein - bis Schostakowitsch......


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !