Die Bachkantate (053): BWV159: Sehet, wir gehn hinauf gen Jerusalem

  • BWV 159: Sehet, wir gehn hinauf gen Jerusalem
    Kantate zum Sonntag Estomihi (evtl. Leipzig, 27. Februar 1729)




    Lesungen:
    Epistel: 1. Kor. 13,1-13 (Das „Hohelied der Liebe“)
    Evangelium: Luk. 18,31-43 (Jesus und die Zwölf gehen nach Jerusalem; Heilung eines Blinden)



    Fünf Sätze, Aufführungsdauer: ca. 17 Minuten


    Textdichter: Picander (Christian Friedrich Henrici), Dichtung von 1728
    Choräle: Nr. 1 Paul Gerhardt (1656); Nr. 5 Paul Stockmann (1633)



    Besetzung:
    Soli: Alt, Tenor, Bass; Coro: SATB; Oboe, Violino I/II, Viola, Continuo




    1. Arioso + Recitativo Alt, Bass, Streicher, Continuo
    Bass
    Sehet!
    Alt
    Komm, schaue doch, mein Sinn,
    Wo geht dein Jesus hin?
    Bass
    Wir geh’n hinauf
    Alt
    O harter Gang! hinauf?
    O ungeheurer Berg, den meine Sünden zeigen!
    Wie sauer wirst du müssen steigen!
    Bass
    Gen Jerusalem.
    Sehet, wir geh’n hinauf gen Jerusalem.
    Alt
    Ach, gehe nicht!
    Dein Kreuz ist dir schon zugericht’,
    Wo du dich sollt zu Tode bluten;
    Hier sucht man Geißeln vor, dort bind’t man Ruten;
    Die Bande warten dein;
    Ach! gehe selber nicht hinein!
    Doch bliebest du zurücke stehen,
    So müsst’ ich selbst nicht nach Jerusalem,
    Ach! leider in die Hölle gehen.


    2. Aria (+ Choral) Alt, Coro S, Oboe, Continuo
    Ich folge dir nach
    Ich will hier bei dir stehen,
    Verachte mich doch nicht!

    Durch Speichel und Schmach;
    Am Kreuz will ich dich noch umfangen,
    Von dir will ich nicht gehen,
    Bis dir dein Herze bricht.

    Dich lass ich nicht aus meiner Brust,
    Wenn dein Haupt wird erblassen
    Im letzten Todesstoß,

    Und wenn du endlich scheiden musst,
    Alsdenn will ich dich fassen,
    Sollst du dein Grab in mir erlangen.
    In meinen Arm und Schoß.


    3. Recitativo Tenor, Continuo
    Nun will ich mich,
    Mein Jesu, über dich
    In meinem Winkel grämen;
    Die Welt mag immerhin
    Den Gift der Wollust zu sich nehmen,
    Ich labe mich an meinen Tränen
    Und will mich eher nicht
    Nach einer Freude sehnen,
    Bis dich mein Angesicht
    Wird in der Herrlichkeit erblicken,
    Bis ich durch dich erlöset bin;
    Da will ich mich mit dir erquicken.


    4. Aria Bass, Oboe, Streicher, Continuo
    Es ist vollbracht,
    Das Leid ist alle,
    Wir sind von unser’m Sündenfalle
    In Gott gerecht gemacht.
    Es ist vollbracht,
    Nun will ich eilen
    Und meinem Jesu Dank erteilen,
    Welt, gute Nacht!
    Es ist vollbracht!


    5. Choral SATB, Oboe, Streicher, Continuo
    Jesu, deine Passion
    Ist mir lauter Freude,
    Deine Wunden, Kron und Hohn
    Meines Herzens Weide;
    Meine Seel’ auf Rosen geht,
    Wenn ich dran gedenke,
    In dem Himmel eine Stätt’
    Mir deswegen schenke.



    Die Datierung der ersten Aufführung dieser Kantate ist wieder einmal nicht eindeutig und kann nur spekulativ vorgenommen werden:
    Ähnlich wie z. B. bei BWV 171 entstammt auch der Text der hier vorliegenden Kantate dem von Picander verfassten Kantatenjahrgang von 1728, so dass die frühestmögliche Aufführung folglich am ersten Sonntag Estomihi nach Erscheinen dieses Kantatenjahrgangs möglich scheint und dies wäre eben der 27. Februar 1729. Allerdings ist ebensogut eine ein oder mehrere Jahre später erfolgende Erstaufführung denkbar.


    Setzt man weiterhin voraus, dass Bachs Matthäus-Passion am Karfreitag des Jahres 1729 erstmalig aufgeführt wurde (und nicht 1727, wie heute ebenfalls des öfteren angenommen), so wäre diese Kantate hier das letzte Werk, das vor ebendieser Passionsmusik in der Thomaskirche erklungen ist, denn während der nun beginnenden Passionszeit wurden bis zum Karfreitag in Leipzig keine Kantaten aufgeführt.
    Dieser Umstand war natürlich arbeitstechnisch ein großer Vorteil für Bach, denn er konnte sich in diesen Wochen, in denen er nun nicht jeden Sonntag eine neue Kantate zu komponieren oder zumindest neu einzustudieren hatte, ganz der Komposition seiner aufwendigen Passionsmusiken widmen (was sich, wie wir wissen, ja auch entsprechend gelohnt hat!).


    Eine Ausnahme zu dieser in Leipzig üblichen Regelung, während der Passionszeit keine Kantaten aufzuführen, bildete übrigens das Fest Mariae Verkündigung am 25. März, aber dazu kommen wir dann zu gegebener Zeit.
    Im Jahr 1729 wird dies sicher auch so gewesen sein, aber da hat Bach vermutlich eine ältere eigene (oder aus fremder Feder stammende) Kantate aufgeführt, so dass die Tatsache bestehen bleibt, dass wir mit der hier besprochenen Kantate quasi die unmittelbare Vorläuferin der Matthäus-Passion, die ja ebenfalls in Koproduktion Bach - Picander entstand, vorliegen haben.


    Unter diesem Blickwinkel fallen tatsächlich schon an der Textdichtung einige charakteristische Merkmale auf, die sich in dieser Art auch in der Matthäus-Passion aber auch der Johannes-Passion (deren Textdichter unbekannt ist, wer sagt, dass es nicht auch Picander in Zusammenarbeit mit Bach war?) wiederfinden.
    So wird beispielsweise die Choralstrophe "Ich will hier bei dir stehen", die in Nr. 2 in kunstvollem Dialog mit der einen anderen Text singenden Altstimme erklingt, im ersten Teil der MaPa zu Beginn der Gethsemane-Szene gesungen. Überhaupt spielt Paul Gerhardts bekannter Choral "O Haupt voll Blut und Wunden" ja eine wichtige Rolle in der gesamten Matthäus-Passion und wird dort mehrfach zitiert. "Ich will hier bei dir stehen" ist übrigens die 6. Strophe dieses Chorals.


    Der Schlusschoral dieser Kantate hingegen entstammt einem 34 (!)-strophigen Choral von Paul Stockmann, welcher wiederum in der Johannes-Passion, die 1724 erstmals aufgeführt wurde, eine große Rolle spielt. Der Textdichter der JoPa setzt ihn allein dreimal ein, so häufig wie keinen anderen sonst noch darin verwendeten Choral.


    Außerdem erinnert mich das "Frage- und Antwort-Spiel" des Eingangssatzes dieser Kantate, in dem vom Bass als der "Vox Christi" ein Teil des Verses 31 aus Lukas Kapitel 18 (aus dem heutigen Sonntagsevangelium) rezitiert wird, zum einen an den Eingangschor der Matthäus-Passion ("Sehet" - "Wen?" - "Den Bräutigam/ Seht ihn" - "Wie?" - "Als wie ein Lamm!", etc.), oder die erste Arie des zweiten MaPa-Teils "Ach! nun ist mein Jesus hin!- Wo ist denn dein Freund hingegangen?", aber auch an Stellen aus der "Johannes-Passion", wo es z. B. heißt "Eilt" - "Wohin?" - "Nach Golgatha".


    Und die Arie Nr. 4, die das Jesuswort "Es ist vollbracht" aus dem Johannesevangelium quasi als Motto zu Beginn und am Ende stehen hat, erinnert natürlich frappant an die berühmte Alt-Arie aus der JoPa, in der textlich genauso verfahren wird. Allerdings hat die Arie Nr. 4 in dieser Kantate mit ihrer begleitenden Oboenstimme einen etwas anderen Charakter als die von der Gambe begleitete Altarie in der Johannes-Passion.
    Mich erinnerte sie beim Hören vom Charakter her eher an die letzte Bass-Arie der Matthäus-Passion: "Mache dich mein Herze rein".


    Es gibt also eine ganze Reihe von Anklängen und Bezügen von dieser Kantate zu den Passionsmusiken Bachs - textlich wie musikalisch. Interessant, wie ich finde, aber für das Verständnis der hier besprochenen Kantate sicherlich nicht allein ausschlaggebend.


    Die Kantate ist natürlich nicht zufällig derart auf die kommende Passion Christi bezogen. Das Sonntagsevangelium geht ebenfalls auf dieses Ereignis ein und wurde mit Sicherheit nicht zuletzt genau deshalb dem letzten Sonntag vor Beginn der Fastenzeit zugeordnet.
    Trotzdem fällt auf, dass gerade diese Kantate von allen vieren, die zum Sonntag Estomihi entstanden sind (außer dieser sind das noch BWV 23, BWV 22 und BWV 127), diejenige ist, in der am deutlichsten auf die bevorstehende Passionszeit Bezug genommen wird.

    "Es ist mit dem Witz wie mit der Musick, je mehr man hört, desto feinere Verhältnisse verlangt man."
    (Georg Christoph Lichtenberg, 1773)

  • Die Anklänge und Bezüge dieser Kantate zur Passionsmusik Bachs sind in der Tat unüberhörbar. Und auch der zugehörige Evangeliumstext (Lk 18, 31) thematisiert ja mit dem Gang nach Jerusalem den Beginn der Leidenszeit Christi.


    Ich besitze BWV 159 in dieser sehr gelungenen Gardiner-Aufnahme



    Wenn man das Cover anklickt, kann man unten bei den Hörproben unter CD 1, Track 15 bis 19 einen recht guten Eindruck von allen 5 Sätzen gewinnen.


    Bei Satz 1 (Track 15) hören wir ein Zwiegespräch zwischen Jesus und der „gläubigen Seele“. Nach Petzoldt ist hiermit vor allem der Jünger Petrus gemeint (vgl Lk 18, 28 ), der Jesus von seinem Gang nach Jerusalem, und allem, was daraus folgen wird, abzubringen versucht. Dieser Dialog ist dabei recht ambivalent, einerseits will Petrus seinen Meister vom Weitergehen abhalten, andererseits werden gegen Ende aber auch die negativen Folgen eines solchen Aus- und Zurückweichens bedacht.


    Während der Bass (traditionell die „Vox Christi“) als continuobegleitetes Arioso ausgestaltet ist, erklingen die Einwände der Altstimme als streicherbegleitetes Rezitativ. Das ist von einiger Dramatik, zumal der Bass einige Wörter mehrfach und äußerst eindringlich wiederholt („Sehet“).


    Durch den entsprechenden Faden nunmehr für das Continuo-Thema sensibilisiert, fällt mir in der Gardiner-Aufnahme zunächst einmal auf, dass hier offenbar eine richtige Kirchen- und nicht die sehr viel kleinere Truhenorgel gespielt wird. Ebenfalls überraschend finde ich dann den jeweiligen Wechsel zum Cembalo, sobald das streicherbegleiteten Rezitativ der Altstimme zu hören ist.


    Auch im zweiten Satz (Track 16) werden wieder zwei Stimmen miteinander verflochten. Die solistische Altstimme (nach Petzoldt wieder Petrus mit dem Versprechen von Nachfolge und Beistand) wird – in kunstvoller Verschränkung mit dem Chorsopran - kommentiert von der 6. Strophe des Paul Gerhardt Liedes „O Haupt voll Blut und Wunden“.


    Das nun folgende secco-Rezitativ für Tenor (Satz 3, Track 17) ist ebenfalls auf Petrus bezogen, eine reuevolle Selbstbesinnung, die auf die späteren Tränen des Wortbrüchigen anspielt, der Jesus dreimal verleugnen wird.


    Die als Satz 4 anschließende Bass-ArieEs ist vollbracht“ (Track 18 ) ist wohl das Herzstück der Kantate. Abgeklärt in sich ruhend nimmt uns die konzertierende Oboe weit ausholend mit hinein in eine Stimmung voller Frieden und Trost. Auch der später einsetzende Bass greift diese Melodie der Vollendung und Erlösung in ergreifender Weise auf.


    Zwischen diesem Satz und dem abschließenden Schlusschoral (Satz 5, Track 19) hatte der Kantatendichter eigentlich ein weiteres Rezitativ vorgesehen („Herr Jesu, dein verdienstlich Leiden), das von Bach aber nicht vertont wurde.


    Mit Gruß von Carola

  • BWV 159 ist für mich der Höhepunkt eines an Höhepunkten nun wirklich nicht armen Sonntags Estomihi.

    Im ersten Satz fordert die Vox Christi die Jünger auf: „Seht wir gehen hinauf gen Jerusalem!“ Hierauf folgt die bemerkenswerte Arie "Ich folge dir nach". Damit antwortet der Alt als Gläubige Seele anstelle der Jünger: „Ich folge dir nach. […] Dich lass ich nicht aus meiner Brust und wenn du endlich scheiden musst, sollst du dein Grab in mir erlangen“. Komponiert ist die Arie als einfacher Continuo-Satz mit weitläufiger Melodik, aber wie in der Johannespassion stellt Bach der Arie einen Choral an die Seite. Der Sopran exponiert die sechste Strophe des Paul-Gerhardt-Chorals „O Haupt voll Blut und Wunden“. Dort heißt es: „Ich will hier bei dir stehen“. Der eine Text erklärt den anderen, die Musik legt sich wechselseitig aus. Wie die Hirten an der Krippe, möchte die Seele am Kreuz bei Jesus stehen. Mehr noch, ganz mystisch möchte sie den Gekreuzigten im Herzen begraben, so wie dir Hirten den Neugeborenen im Herzen getragen haben.


    Ein theologischer Kommentar zur gesamten Kantate findet sich außerdem hier.

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

  • Danke - diese Doppel CD habe ich seit kurzem auch - finde ich ausgezeichnet.