Die Bachkantate (051): BWV22: Jesus nahm zu sich die Zwölfe

  • Sehr geehrte Hörerinnen und Hörer,


    hier ist wieder Christian Friedrich Henrici von Radio BaRockoko.
    Ich begrüße Sie zum zweiten Teil unserer Live-Übertragung der heute hier in der Leipziger Thomaskirche stattfindenden Kantoratsprobe des Herrn Johann Sebastian Bach.
    Die Predigt ist soeben beendet worden und die Musiker bereiten sich gerade auf den erneuten Einsatz vor.
    Wie alle Bewerber um das Amt des Thomaskantors hat auch Herr Bach die Gelegenheit, im Rahmen der Kantoratsprobe mit zwei selbst verfertigten Kantaten sein Können zu zeigen.
    Bevor die Musik nun wieder einsetzt, erlauben Sie mir nun kurz noch ein paar Worte zum heutigen Bewerber.
    Herr Bach ist, aus Eisenach gebürtig, derzeit seit etwas mehr als 5 Jahren als Hofkapellmeister in Diensten des Fürsten Leopold von Anhalt-Köthen.
    Davor war er für neun Jahre am herzoglichen Hof in Weimar tätig, ist dort aber ungnädig entlassen worden, weil er um seine Entlassung (zu Gunsten der Anstellung in Köthen) gebeten hatte, wie man vernimmt.


    Er ist in zweiter Ehe verheiratet, derzeit 38 Jahre alt und Vater mehrerer noch minderjähriger Kinder.


    Dem Vernehmen nach hat er in seiner derzeitigen Anstellung am Köthener Hofe wenig Gelegenheit, Kirchenmusik zu komponieren. Er verfasst allda fast ausschließlich Musik für Instrumente (sowohl für einzelne wie auch im Ensemble erklingende) und hat es hierbei offenbar zu großer Meisterschaft gebracht.
    Seinen Angaben zufolge war er jedoch während seiner Dienstzeit in Weimar unter anderem mit der regelmäßigen Komposition von Kantaten für einzelne Sonntage des Kirchenjahres betraut und verfügt damit über die für die Tätigkeit als Thomaskantor notwendige Erfahrung auf diesem anspruchsvollen Gebiete.
    Der Weggang aus Köthen dürfte für Herrn Bach wohl vorrangig in der offenbar besseren Bezahlung liegen, die ihm hier in Leipzig winkt.
    Aber sicherlich reizt ihn als Musiker auch die berufliche und künstlerische Weiterentwicklung, die mit der Übertragung des Thomaskantorats verbunden ist. Als Leipziger Thomaskantor besitzt man schon ein großes Ansehen – auch in anderen deutschen Landen ist dieses Amt bekannt und hochgeachtet. So entschied er sich also zur Bewerbung um dieses Amt, die er im Dezember letzten Jahres beim Rat der Stadt Leipzig einreichte.


    Wir können uns glücklich schätzen, dass diese heutige Kantoratsprobe noch vor Beginn der Fastenzeit stattfinden kann, denn nach dem heutigen Sonntag schweigt die Figuralmusik in den Leipziger Kirchen bis zum Karfreitag, an dem wir übrigens wohl auch in diesem Jahr eine Aufführung der Markus-Passion des letztjährig verstorbenen Thomaskantors Johann Kuhnau erwarten dürfen, die dieser Anno 1721 ganz neu verfertiget hatte und die auch im vergangenen Jahr zu Karfreitag erklungen ist – eine solche Passionsvertonung ist für Leipzig noch eine relativ neuartige Musikform, müssen Sie wissen. Bis vor wenigen Jahren war solches hier nämlich noch überhaupt nicht gebräuchlich.


    Jedenfalls freue ich mich, dass wir durch die heute möglich gewordene Kantoratsprobe von Herrn Bach nicht noch mehr Zeit verlieren mit der möglichen Wahl eines neuen Thomaskantors. Stellen Sie sich vor, die nächste Kantoratsprobe hätte erst nach Ostern stattfinden können!


    So – und nun beginnt auch schon die Aufführung der zweiten Kantate:




    BWV 22: Jesus nahm zu sich die Zwölfe
    Kantate zum Sonntag Estomihi (Leipzig, 7. Februar 1723)




    Lesungen:
    Epistel: 1. Kor. 13,1-13 (Das „Hohelied der Liebe“)
    Evangelium: Luk. 18,31-43 (Jesus und die Zwölf gehen nach Jerusalem; Heilung eines Blinden)



    Fünf Sätze, Aufführungsdauer: ca. 20 Minuten


    Textdichter: unbekannt
    Choral: Elisabeth Creutziger (1524)



    Besetzung:
    Soli: Alt, Tenor, Bass; Coro: SATB; Oboe, Violino I/II, Viola, Continuo



    1. Arioso + Chor SATB, Tenor, Bass, Oboe, Streicher, Continuo
    Tenor
    Jesus nahm zu sich die Zwölfe und sprach:
    Bass
    Sehet, wir geh’n hinauf nach Jerusalem, und es wird alles vollendet werden, das geschrieben ist von des Menschen Sohn.
    Chor
    Sie aber verstanden der keines und wussten nicht, was das gesaget war.


    2. Aria Alt, Oboe, Continuo
    Mein Jesu, ziehe mich nach dir,
    Ich bin bereit, ich will von hier
    Und nach Jerusalem zu deinen Leiden geh’n.
    Wohl mir, wenn ich die Wichtigkeit
    Von dieser Leid- und Sterbenszeit
    Zu meinem Troste kann durchgehends wohl versteh’n!


    3. Recitativo Bass, Streicher, Continuo
    Mein Jesu, ziehe mich, so werd’ ich laufen,
    Denn Fleisch und Blut verstehet ganz und gar,
    Nebst deinen Jüngern nicht, was das gesaget war.
    Es sehnt sich nach der Welt und nach dem größten Haufen.
    Sie wollen beiderseits, wenn du verkläret bist,
    Zwar eine feste Burg auf Tabors Berge bauen;
    Hingegen Golgatha, so voller Leiden ist,
    In deiner Niedrigkeit mit keinem Auge schauen.
    Ach! kreuzige bei mir in der verderbten Brust
    Zuvörderst diese Welt und die verbot’ne Lust,
    So werd’ ich, was du sagst, vollkommen wohl verstehen
    Und nach Jerusualem mit tausend Freuden gehen.


    4. Aria Tenor, Streicher, Continuo
    Mein alles in allem, mein ewiges Gut,
    Verbess’re das Herze, veränd’re den Mut,
    Schlag’ alles darnieder,
    Was dieser Entsagung des Fleisches zuwider!
    Doch wenn ich nun geistlich ertötet da bin,
    So ziehe mich nach dir in Friede dahin!


    5. Choral SATB, Oboe, Streicher, Continuo
    Ertöt’ uns durch dein’ Güte,
    Erweck’ uns durch dein’ Gnad’;
    Den alten Menschen kränke,
    Dass der neu leben mag
    Wohl hie auf dieser Erden,
    Den Sinn und all Begehren
    Und G’danken hab’n zu dir.




    Ganz vorzüglich, meine verehrten Hörerinnen und Hörer!


    So lautet jedenfalls mein spontanes Urteil, nachdem wir nun auch die zweite Kantate der heutigen Kantoratsprobe gehört haben.
    Und wenn ich in die Gesichter der anwesenden Leipziger schaue (insbesondere die der ehrwürdigen Stadträte), so erblicke ich zumindest keinen Unmut, sondern im Gegenteil eher beifälliges Nicken und freundliche Mienen um mich herum.


    Wiederum ist der Textdichter auch dieser Kantate mir leider nicht bekannt, so dass ich Ihnen hier keinen Namen nennen kann, jedoch hat Herr Bach in Vorbereitung des heutigen Sonntags beide Kantaten ja sicherlich bereits in Köthen komponiert, so dass man den Verfasser der durchaus gelungenen Zeilen eventuell dort suchen müsste.


    Das Bibelwort des heutigen Sonntagsevangeliums aus Lukas 18, Vers 31 und 34 aufgreifend, mit dem diese Kantate beginnt, hat der Verfasser einen Bezug zur anstehenden Passionszeit geschaffen.
    Herr Bach hat daraus eine kleine Szene gestaltet, wobei der Tenor die einleitenden Worte als Evangelist, der Solo-Bass hingegen als "Vox Christi" die Worte des Heilands vorträgt. Ganz im Rahmen der althergebrachten Tradition - da hat Herr Bach sicherlich einige Punkte sammeln können.


    Die Oboenmelodie der ersten Arie begleitet sehr kunstvoll die gesungenen Worte der Solostimme. Dies ist meisterhafte Musik von einer Ausdruckstiefe und Qualität, wie sie im Rahmen eines Leipziger Gottesdienstes lange nicht (oder sollte ich sagen: noch nie zuvor?) erklungen ist.
    Auch die tänzerisch bewegte zweite Arie, die der Tenorist gesungen hat, hat mir gut gefallen - sie bringt einen erfrischenden Hauch Modernität in die Kantatenkomposition hinein.
    Herr Bach übertreibt diesen tänzerischen Tonfall jedoch an keiner Stelle und läuft damit nicht Gefahr, allzu sehr in weltliche Ausdrucksgefilde zu verfallen. Augenscheinlich besitzt Herr Bach Geschmack und Contenance gleichermaßen.


    Und Sätze wie diese beiden Arien, die eine moderne Ausdrucksform nicht scheuen, gleichzeitig jedoch alles allzu opernhaft-weltliche raffiniert vermeiden, lassen mich hoffen, dass wir von Herrn Bach künftig noch mehr Beweise seiner Kompositionskunst in diesem Stile zu hören bekommen werden.


    Mir fiel übrigens auf, dass auch in dieser Kantate das Rezitativ kein lediglich sparsam vom Continuo begleitetes ist (und dies wäre ja die allgemein übliche Verfahrensweise), sondern ein von allen Streichern accompagniertes.
    Herr Bach nutzt die sich mit dieser Kantoratsprobe bietende Gelegenheit und beweist auch hier wieder seine Fähigkeit zur ausgeprägten, eindringlichen Textdeklamation.
    Gerade für die Vertonung geistlicher Texte scheint mir diese Fähigkeit unerlässlich. Die Kirchengemeinde soll schließlich gut verstehen können, was hier gesungen wird.
    Die Kantate endete mit einem vom Instrumentalensemble kunstvoll begleiteten Schlusschoral, somit dürften auch diesmal wieder alle „Traditionalisten“ zufrieden gestellt worden sein.


    So, meine verehrten Hörerinnen und Hörer.
    Der heutige, sehr aufschlussreiche Gottesdienst geht zu Ende und bevor Herr Bach nach Köthen zurückreisen wird, um dort dann die Entscheidung des Leipziger Stadtrates zu erwarten, die aber dem Vernehmen nach wohl erst nach Ostern im April erwartet wird, hoffe ich, ihn noch persönlich interviewen zu können.
    Ich spreche sicherlich in Ihrem Sinne, meine lieben Zuhörer, wenn ich ihm zu dieser soeben gehörten herrlichen Musik beglückwünschen und ihm auf den Weg geben möchte, dass ich sehr hoffe, dass der Rat zu seinen Gunsten entscheiden möge.
    Ich persönlich könnte mir durchaus vorstellen, so es denn dazu kommen sollte, für Herrn Bach als künftigen Thomaskantor der Stadt Leipzig auch einmal ein paar wohlformulierte Kantatentexte oder dergleichen zu verfassen. Es wäre mir eine Ehre!


    Ihr rasender Reporter aus Leipzig, Christian Friedrich Henrici, wünscht Ihnen in diesem Sinne noch einen schönen und gesegneten Sonntag!
    So Sie in katholischen Landen leben, feiern Sie recht schön Karneval, Fastnacht oder Fasching - der Aschermittwoch steht kurz bevor und dann heißt es: Fasten, fasten, fasten...!


    Und damit gebe ich zurück ins Funkhaus, wo Sie im Anschluss an diese Übertragung die aktuelle „Händel-Hitparade“ erwartet.


    Auf Wiederhören.

    "Es ist mit dem Witz wie mit der Musick, je mehr man hört, desto feinere Verhältnisse verlangt man."
    (Georg Christoph Lichtenberg, 1773)

  • Guten Tag


    von dieser Kantate liegt eine neue Einspielung von Ph. Herreweghe mit dem Collegium Vocale Gent
    und den Solisten Dorothee Mields (Sopran), Matthew White (Altus), Jan Kobow (Tenor) u. Peter Kooy (Bass) vor:




    Der Chor ist mit insgesamt 12 Volalisten einschlieslich den Solisten
    -gegenüber vielen älteren Herrewegheeinspielung mit 16 Sängern ohne die Solisten-
    klein besetzt und agiert weiterhin auf gewohnt hohen Niveau.
    Lobend erwähnentswert: der Alt- und der Tenorsolist
    sowie der Oboist in der Altarie "Mein Jesu, ziehe mich nach dir".


    Gruß :hello:


    aus der Kurpfalz


    Bernhard

  • Diese kompakte Kantate gehört zu meinen liebsten Kantaten überhaupt. Sie ist neben BWV 23 das Probestück Bachs für die Bewerbung in Leipzig. Damit bekamen die Leipziger eine bedeutende Kostprobe von den Fähigkeiten Bachs präsentiert. Die Musik ist sehr vielseitig, teilweise kontrapunktisch, teilweise schlicht melodiös und die gesamte Zeit über einfach ziemlich schön.


    Faszinierend ist der Eingangssatz, der formal eine Mischform, fast eine Art Szene darstellt (wie z.B. auch in BWV 27 & 95). In oratorienhafter Dramatik finden Evangelist und Vox Christi mit der zu Grunde liegenden Szene aus Lukas 18 zusammen. Im zweiten Teil wird der Evangelienbericht zur mitreißenden Chorfuge, die sich von Continuobegleitung zum Tutti steigert.


    Als Liebhaber des Oboenklang gefällt mir die Arie "Mein Jesu ziehe mich nach dir" sehr gut, wie so oft bei Bach verbinden sich Alt und Oboe zu einem schönen und etwas wehmütigen Klang. Zu schreitendem Continuo entfaltet die Oboe eine wirklich ausdrucksstarke Melodik.


    Weniger wehmütig klingt die zweite Arie "Mein alles in allem" als veritabler Tanzsatz. Er thematisiert die Nachfolge der Jünger: „Mein alles in allem, mein ewiges Gut, verbessre das Herze, verändre den Mut...“ Das tänzerische Ritornell lässt den Weg der Nachfolge und konkret den Weg nach Jerusalem als etwas freudiges und beschwingtes erscheinen. Diese Arie beleuchtet die Perspektive der Jünger, die – anders als Jesus – noch nicht so recht glauben wollen oder können, was in Jerusalem geschehen wird. Gleichzeitig bietet der Text mit dieser positiv konnotierten Nachfolge eine Identifikationsmöglichkeit für die Gemeinde. Im Mittelteil der Arie kommt es nach dem Satz „So ziehe mich nach dir in Friede“ zu einem gehaltenen Ton des Tenors, womit dem Wort „Friede“ als frommer Wunsch besonderes Gewicht verliehen wird.


    Eine der schönsten Choralbearbeitungen Bachs schließt die Kantate ab. Es ist einer jener Choräle, die in ein orchestrales Ritornell eingebettet sind (das bekannteste Beispiel hierfür ist wohl „Jesu bleibet meine Freude“ aus BWV 147). Das freudige, von Oboe und Violine umspielte, Ritornell des Orchesters ist recht homophon, der Chorsatz schlicht gehalten; ein für Bachsche Verhältnisse einfach gebauter Satz. Aber ein solcher Satz beweist auch, dass die Schönheit oftmals im Einfachen liegt. „Ertöt uns durch dein Güte, erweck und durch dein Gnad“. Das Verb 'ertöten' muss hier in Bezug auf das Sündhafte im Menschen verstanden werden. Da dieses zu Barockzeiten beliebte Wort auch so etwas wie 'Gefühle ersticken' und 'unterdrücken' bedeutet, ist hier die Aussage: Gottes Güte möge ertöten was uns von ihm trennt. Die optimistisch voranschreitende Musik verdeutlicht indes die daraus folgende Erweckung des Menschen durch Gottes Gnade.

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)