BWV 92: Ich hab in Gottes Herz und Sinn
Kantate zum Sonntag Septuagesimae (Leipzig, 28. Januar 1725)
Lesungen:
Epistel: 1. Kor. 9,24-10,5 (Wettlauf um den Sieg)
Evangelium: Matth. 20,1-16 (Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg)
Neun Sätze, Aufführungsdauer: ca. 33 Minuten
Textdichter: unbekannt; inspiriert aber vom titelgebendem Choral aus dem Jahr 1647
Choral (Nr. 1, 4 und 9, sowie in Nr. 2 und 7): Paul Gerhardt (1607-76)
Besetzung:
Soli: Sopran, Alt, Tenor, Bass; Coro: SATB; Oboe d’amore I + II, Violino I/II, Viola, Continuo
1. Choral SATB, Oboe d’amore I + II, Streicher, Continuo
Ich hab in Gottes Herz und Sinn
Mein Herz und Sinn ergeben,
Was böse scheint, ist mein Gewinn,
Der Tod selbst ist mein Leben.
Ich bin ein Sohn
Des, der den Thron
Des Himmels aufgezogen;
Ob er gleich schlägt
Und Kreuz auflegt,
Bleibt doch sein Herz gewogen.
2. Recitativo (+ Choral) Bass, Continuo
Es kann mir fehlen nimmermehr!
Es müssen eh’r,
Wie selbst der treue Zeuge spricht,
Mit Prasseln und mit grausem Knallen
Die Berge und die Hügel fallen:
Mein Heiland aber trüget nicht,
Mein Vater muss mich lieben.
Durch Jesu rotes Blut bin ich in seine Hand geschrieben;
Er schützt mich doch!
Wenn er mich auch gleich wirft ins Meer,
So lebt der Herr auf großen Wassern noch,
Der hat mir selbst mein Leben zugeteilt,
Drum werden sie mich nicht ersäufen.
Wenn mich die Wellen schon ergreifen
Und ihre Wut mit mir zum Abgrund eilt,
So will er mich nur üben,
Ob ich an Jonam werde denken,
Ob ich den Sinn mit Petro auf ihn werde lenken.
Er will mich stark im Glauben machen,
Er will vor meine Seele wachen
Und mein Gemüt,
Das immer wankt und weicht,
In seiner Güt’,
Der an Beständigkeit nichts gleicht,
Gewöhnen fest zu stehen.
Mein Fuß soll fest
Bis an der Tage letzten Rest
Sich hier auf diesen Felsen gründen.
Halt ich denn stand
Und lasse mich in felsenfestem Glauben finden,
Weiß seine Hand,
Die er mir schon vom Himmel beut,
Zu rechter Zeit
Mich wieder zu erhöhen.
3. Aria Tenor, Streicher, Continuo
Seht, seht! wie reißt, wie bricht, wie fällt,
Was Gottes starker Arm nicht hält.
Seht aber fest und unbeweglich prangen,
Was unser Held mit seiner Macht umfangen.
Lasst Satan wüten, rasen, krachen,
Der starke Gott wird uns unüberwindlich machen.
4. Choral Alt, Oboe d’amore I + II, Continuo
Zudem ist Weisheit und Verstand
Bei ihm ohn’ alle Maßen,
Zeit, Ort und Stund’ ist ihm bekannt,
Zu tun und auch zu lassen.
Er weiß, wenn Freud’,
Er weiß, wenn Leid
Uns, seinen Kindern, diene,
Und was er tut,
Ist alles gut,
Ob’s noch so traurig schiene.
5. Recitativo Tenor, Continuo
Wir wollen nun nicht länger zagen
Und uns mit Fleisch und Blut,
Weil wir in Gottes Hut,
So furchtsam wie bisher befragen.
Ich denke dran,
Wie Jesus nicht gefürcht’ das tausendfache Leiden;
Er sah es an
Als eine Quelle ew’ger Freuden.
Und dir, mein Christ,
Wird deine Angst und Qual, dein bitter Kreuz und Pein
Um Jesu willen Heil und Zucker sein.
Vertraue Gottes Huld
Und merke noch, was nötig ist:
Geduld! Geduld!
6. Aria Bass, Continuo
Das Brausen von den rauhen Winden
Macht, dass wir volle Ähren finden.
Des Kreuzes Ungestüm schafft bei den Christen Frucht,
Drum lasst uns alle unser Leben
Dem weisen Herrscher ganz ergeben.
Küsst seines Sohnes Hand, verehrt die treue Zucht.
7. Recitativo (+ Choral) Sopran, Alt, Tenor, Bass, Continuo
Ei nun, mein Gott, so fall’ ich dir
Getrost in deine Hände.
Bass
So spricht der Gott gelass’ne Geist,
Wenn er des Heilands Brudersinnn
Und Gottes Treue gläubig preist.
Nimm mich, und mache es mit mir
Bis an mein letztes Ende.
Tenor
Ich weiß gewiss,
Dass ich ohnfehlbar selig bin,
Wenn meine Not und mein Bekümmernis
Von dir so wird geendigt werden:
Wie du wohl weißt,
Dass meinem Geist
Dadurch sein Nutz entstehe,
Alt
Dass schon auf dieser Erden,
Dem Satan zum Verdruss,
Dein Himmelreich sich in mir zeigen muss
Und deine Ehr’
Je mehr und mehr
Sich in ihr selbst erhöhe.
Sopran
So kann mein Herz nach deinem Willen
Sich, o mein Jesu, selig stillen,
Und ich kann bei gedämpften Saiten
Dem Friedensfürst ein neues Lied bereiten.
8. Aria Sopran, Oboe d’amore I, Streicher, Continuo (ohne Orgel)
Meinem Hirten bleib’ ich treu.
Will er mir den Kreuzkelch füllen,
Ruh’ ich ganz in seinem Willen,
Er steht mir im Leiden bei.
Es wird dennoch nach dem Weinen
Jesu Sonne wieder scheinen.
Meinem Hirten bleib’ ich treu.
Jesu leb’ ich, der wird walten,
Freu dich, Herz, du sollst erkalten,
Jesus hat genug getan.
Amen: Vater, nimm mich an!
9. Choral SATB, Oboe d’amore I + II, Streicher, Continuo
Soll ich denn auch des Todes Weg
Und finst’re Straße reisen,
Wohlan! ich tret’ auf Bahn und Steg,
Den mir dein’ Augen weisen.
Du bist mein Hirt,
Der alles wird
Zu solchem Ende kehren,
Dass ich einmal
In deinem Saal
Dich ewig möge ehren.
Eine Choralkantate, die mit 9 Einzelsätzen, einem sehr langen Text und einer gut halbstündigen Aufführungsdauer sicher zu den umfangreichsten Kirchenkantaten Bachs gehören dürfte!
Zum Evangelium des Sonntags, das auch diesen unbekannten (aber wortmächtigen :] ) Dichter inspirierte, verweise ich auf das zur Kantate BWV 144 schon Geschriebene.
Auch wenn der dieser Kantate zugrundeliegende Choral von Paul Gerhardt stammt, ist doch die verwandte Choralmelodie wieder einmal die des gern verwendeten Chorals "Was mein Gott will, das g'scheh allzeit", von Herzog Albrecht von Brandenburg-Preußen, der in der Septuagesimae-Kantate des Vorjahres (BWV 144) bereits von Bach als Schlusschoral eingesetzt wurde und außerdem - viel einprägsamer für das Leipziger Publikum! - bereits in der Kantate der Vorwoche (also am 21. Januar 1725) Thema einer weiteren Choralkantate war (siehe BWV 111)!
Irgendwie passt es so gar nicht zu Bach, dass er zwei Wochen hintereinander dieselbe (noch dazu sehr bekannte und markante) Choralmelodie zur Grundlage seiner Choralkantaten macht....
Die Tatsache, dass im Text dieser Kantate wie in dem zu BWV 111 auf den Propheten Jona angespielt wird (der mit dem Walfisch ), könnte evtl. ein Hinweis darauf sein, dass es sich um denselben (bis heute unbekannten) Dichter handelt... evtl. hieß er ja Jona(s) mit Vornamen
Im Eingangschoral fällt das noch nicht so auf, denn die Sopranstimmen tragen die besagte Melodie quasi "getarnt" abschnittsweise in langen Notenwerten vor, die zudem von allen anderen Gesangs- und Instrumentalstimmen umspielt wird.
Auch im ausdrucksvollen Rezitativ Nr. 2 singt der Bass den Choral immer nur zeilenweise und unterbricht die Melodielinie regelmäßig für ariose und rezitativische Einwürfe.
Aber spätestens in den Sätzen Nr. 4, 7 und 9 erklingt die Choralmelodie unverkennbar.
Von den drei Arien dieser Kantate sind die ersten beiden (Nr. 3 und 6) dem Text entsprechend sehr bewegt, bzw. rhythmisch-pointiert und "ungestüm" vorandrängend, während die Arie Nr. 8 als wirkungsvoller gegensatz dazu eher heiter-tänzerischen Charakter hat. Die im Rezitativ Nr. 7 quasi als Ankündigung des folgenden Satzes benannten "gedämpften Saiten" setzt Bach übrigens derart um, dass er die Streicher den Sopran in der Arie mit "gezupften" Saiten begleiten lässt. :]