Was ist Konsonanz/Dissonanz?

  • Beim Stöbern im dtv-Atlas Musik bin ich gestern zufällig auf den kurzen Beitrag zur Konsonanz/Dissonanz gestoßen. In diesem Beitrag werden verschiedene Theorien zur Erklärung angeführt. Zunächst am überzeugendsten fand ich die Theorie, welche die Konsonanz an der Anzahl der übereinstimmenden Obertöne festmacht.


    Bei Wikipedia heißt es dazu: "Das Gehör nimmt mehr oder weniger bewusst auch die Obertonreihe eines jeden Tones wahr. Je einfacher und harmonischer das Schwingungsverhältnis zweier Töne, desto wohlklingender empfindet das Ohr das sich ergebende Intervall. Physikalisch gesehen sind zwei Töne umso konsonanter (wohlklingender), desto übereinstimmender ihre Obertöne sind."


    Nur habe ich gelesen, dass das Konsonanzempfinden sich im Laufe der Jahrhunderte verändert habe. Außerdem bin ich überzeugt, dass Klänge beispielsweise aus der klassischen Moderne (oder der Tristan-Akkord?) zurzeit der Wiener Klassik als dissonant wahrgenommen worden wären, obwohl wir heutigen Hörer dieselben Klänge als konsonant wahrnehmen.


    Ist das Konsonanzempfinden also nur eine Frage der Gewöhnung?


    Der Vergleich mit dem Geschmacksempfinden beim Essen liegt nahe. Hier ist deutlich: Ein Chinese (oder auch ein Engländer) empfindet anderes als wohlschmeckend als ein Deutscher oder Österreicher (oder Holländer).


    Bei der Musik dürfte es ähnlich sein: arabische Klänge werden von Abendländern als fremdartig (= dissonant?) wahrgenommen.


    Was meint Ihr?


    fragt Thomas

  • Zitat

    Original von ThomasNorderstedt
    arabische Klänge werden von Abendländern als fremdartig (= dissonant?) wahrgenommen.


    Hm... "arabische Musik" (bzw. das, was wir Nicht-Nahostexperten darunter verstehen) zeichnet sich ja eher durch Einstimmigkeit aus, also kann eigentlich nicht wirklich von Konsonanz/Dissonanz die Rede sein. Was uns daran "spanisch" vorkommt ist eher die Struktur der Tonleiter.

  • Das Empfinden von Konsonanzen und Dissonanzen ist tatsächlich eine Sache der Gewöhnung! Da muss man nicht erst in anderen Kulturen suchen.
    Zur Zeit der frühen Mehstimmigkeit, galten Terzen und Sexten als dissonant, Quarten, Quinten und Oktaven hingegen als konsonant.
    Später setzten sich in England diese Klänge nach und nach durch und die Modewelle schwabte auch nach Europa über.
    Plötzlich wurden Quintklänge verpönt, sie klangen in den Ohren der Leute verbraucht und unschön.
    Der 08/15 Klischee-Klassikhörer, dessen Musikgeschichte 1850 endet, stößt auch in der Renaissance auf scharfe Dissonanzen, die dort absolut normal waren. Hört man sich Beispielsweise Monteverdi und analysiert ihn harmonisch, glaubt man sich in einem Werk aus dem 20. Jahrhundert wiedergefunden zu haben! So vielfältig und farbig waren die Harmonien damals. Bedauerlicherweise wurde dann in der Klassik der harmonische Reichtum früherer Zeiten abgelegt.
    Und da viele Menschen ihren Fokus auf diese kürzeste Epoche der Musikgeschichte einstellen, ist ihr harmonischen Empfinden zumeist auf diese Zeit eingestellt.
    So wundert es nicht, wenn eigentlich harmlose Klänge von vielen mit unbehagen aufgenommen werden.

  • Zitat

    Original von ThomasNorderstedt
    Beim Stöbern im dtv-Atlas Musik bin ich gestern zufällig auf den kurzen Beitrag zur Konsonanz/Dissonanz gestoßen. In diesem Beitrag werden verschiedene Theorien zur Erklärung angeführt. Zunächst am überzeugendsten fand ich die Theorie, welche die Konsonanz an der Anzahl der übereinstimmenden Obertöne festmacht.


    Bei Wikipedia heißt es dazu: "Das Gehör nimmt mehr oder weniger bewusst auch die Obertonreihe eines jeden Tones wahr. Je einfacher und harmonischer das Schwingungsverhältnis zweier Töne, desto wohlklingender empfindet das Ohr das sich ergebende Intervall. Physikalisch gesehen sind zwei Töne umso konsonanter (wohlklingender), desto übereinstimmender ihre Obertöne sind."


    Das Problem bei dieser Definition ist die Vermengung einer physikalischen Eigenschaft mit einer physiologischen oder sogar einer ästhetischen (wohlklingend). Das wäre so ähnlich, wie wenn man sagen würde, Blau mit Violett kombiniert sei schöner als Blau mit Rot, weil die im Spektum weiter auseinanderliegen (Bei Farben wirds nochmal kompliziert, weil wir violett (sehr kurzwellig) als "zwischen" blau (kurzwellig) und rot (langwellig) wahrnehmen, dieses Bsp. zeigt, dass man nicht so einfach von physikalischen zu Wahrnehmungs-Verhältnissen übergehen kann
    In Antike und Mittelalter ging man zunächst von dieser mathematischen Theorie aus, die einfachsten Verhältnisse (Saitenlängen) ergeben Oktave (1:2), Quinte 2:3, Quart 3:4, dann erst große und kleine Terz.
    So einfach ist es aber anscheinend mit dem Empfinden des dissonanten oder konsonanten nicht.
    Dazu kommt (und jetzt sollte jemand übernehmen, der sich auskennt), dass Kompromisse geschlossen werden müssen, wenn man Töne in der Tonleiter einordnet. Dann stimmen von den "reinen" Verhältnissen oben gesehen, die Intervalle nicht mehr. Daher müssen kleine Abweichungen in Kauf genommen werden, wie diese verteilt werden. So entstanden verschiedene Stimmsysteme. Bei gleichschwebender Temperatur sind die Ungenauigkeiten meines Wissens so gleichmäßig verteilt, dass nur Oktaven stimmen, alle andern Intervalle sind eigentlich unrein.


    Außereuropäische Musik verwendet mitunter Skalen, die Dritteltöne o.ä. verwenden, jedenfalls nicht unsere Halb- und Ganztonschritte. Auf mich wirkt sie daher nicht wirklich dissonant, sondern zunächst ein bißchen "schief".


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Auf wissenschaftlicher Ebene kann ich zu diesem Thema nicht mehr beitragen, als schon gesagt wurde; aber ich glaube, dass die Wahrnehmung von Harmonien als konsonant oder dissonant nicht verallgemeinert werden kann. Je mehr man gewohnt ist, umso mehr hält man auch aus. :D
    Den Tritonus finde ich z. B. konsonant (hab wahrscheinlich schon zu viele gehört!), aber wirklich genial werden die Intervalle imo erst, wenn sie größer sind als eine Oktave. ;)

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  • Zitat

    Original von MatthiasR
    Der 08/15 Klischee-Klassikhörer, dessen Musikgeschichte 1850 endet


    Jetzt verstehe ich, was ihr meint mit 08/15 Hörer. Ich kannte das nur als Buch (Trilogie?).
    Dann bekenne ich mich als 08/15 Hörer, den für mich endet im Prinzip die Musik bei 1850. :D


    LG, Paul

  • Zitat

    Original von ThomasNorderstedt
    Ist das Konsonanzempfinden also nur eine Frage der Gewöhnung?



    Hallo, lieber Namensvetter,


    wie etliche meiner Vorschreiber, beantworte ich diese Frage mit Ja. Wobei sich der Grundkonses darüber, was als Dissonant empfunden wird und was nicht, im Verlauf der Musikgeschichte geändert hat - MatthiasR hat schon darauf hingewiesen.


    Ganz wichtig für den Eindruck, den ein Akkord hervorruft, ist aber auch das, was musikalisch um ihn herum passiert. Wird eine Dissonanz aufgelöst, ist sie ein gutes Stück "entschäft". Man stelle sich z.B. vor, dass das h im c-Moll des Schlußakkordes des Schlußchores der Matthäuspassion ( :rolleyes: ) nicht noch zum c aufgelöst würde (wohl das berühmteste Beispiel für einen Septvorhalt im Schlußakkord). Der Effekt wäre noch viel verstörender, als er durch das düstere c-Moll eh' schon ist.


    Und auch die Vorbereitung einer Dissonanz ist wichtig. Ohne das genauer ausführen zu können - hier sind die Komponisten und Kontrapunktiker unter uns gefragt - gibt es etliches an Regeln dazu, wie das zu geschehen hat. Verstöße gegen eine Satzregel konnten Streitigkeiten auslösen, die sich über Jahrzehnte hinzogen. Solches ist von Francisco Valls' Missa scala aretina überliefert (er lebte von 1665 bis 1747), in der der Komponist eine Stimme mit einer unvorbereiteten Dissonanz - in diesem Falle eine None - einsetzen läßt. Nach den Regeln des strengen Satzes ist das verboten. Obwohl ansonsten kaum Musik aus Spanien in andere europäische Länder gelangte, zog dieses Werk weite Kreise und sogar fast 100 Jahre nachdem die Messe komponiert wurde, ereiferte sich Kirnberger - ein Komponist, Musiktheoretiker und Entwickler mehrerer Stimmsysteme, die zu den wohltemperierten Stimmungen gezählt werden - noch über diesen einen Einsatz.



    herzliche Grüße,
    Thomas

    Da freute sich der Hase:
    "Wie schön ist meine Nase
    und auch mein blaues Ohr!
    Das kommt so selten vor."
    - H. Heine -

  • Zitat

    Original von salisburgensis
    Und auch die Vorbereitung einer Dissonanz ist wichtig.


    Besonders krasses Beispiel einer unvorbereiteten Dissonanz: Der erste Einsatz der 1. Geige in Mozarts Dissonanzenquartett. Da ziehts einem die Socken aus.
    :beatnik: