Kunst der Fuge als gewolltes Fragment

  • Mich würde interessieren, ob Bach nicht seinen Fugenzyklus ganz bewusst unvollendet gelassen hat. Vielleicht, weil er nicht so vermessen sein wollte, seinen Fugenkosmos als etwas Endgültiges, Abgeschlossenes und damit statisch Totes zu hinterlassen, vielleicht, weil er - wie Zoltán Göncz mit seiner Permutationsmatrix gezeigt hat - davon ausgehen konnte, dass sich für Kundige dieser letzte Teil logisch aus dem Vorhergehenden erschließen lässt: eine Art Rätselkanon auf höchstem Niveau also, der als Fragment nach Vollendung ruft, möglicherweise sogar mit pädagogischen Ambitionen: Nun versucht es selbst ...


    Dafür spräche das Auftauchen der Tonfolge b-a-c-h "im Contrasubject" (wie sein Sohn Carl Philipp Emanuel berichtet), bevor das Werk abbricht. Das liest sich eher wie eine bewusste Abschlussunterschrift ("bis hierher!") und sieht nicht nach der von der Romantik verklärten rührseligen Geschichte mit der plötzlichen Blindheit und dem vermeintlichen Abschlusschoral aus.

  • Hallo tongenerator,


    also bei Bach würde mich so etwas schon sehr verwundern...


    Den mit seinen Hörern spielenden und philosophierenden "Aktionskünstler" gab’s doch damals eigentlich noch gar nicht und wenn doch - Bach würde man´s nicht zutrauen. Aber vielleicht weiß ja Jemand mehr darüber...


    :hello:
    Stefan

    Viva la libertà!

  • Darüber kann man wohl nur mutmaßen.
    Denkbar finde ich es schon, dass Bach, weil er nicht mehr weiterkonnte mit BACH aufgehört hat, allerdings glaube ich nicht, dass dies von vornherein so angelegt war.

    29.08.1958 - 25.06.2009
    gone too soon

  • Der Ansatz ist sicherlich interessant...


    Aber ich befürchte, dass Bach und seine künstlerische Motivation damit zu sehr aus unserer heutigen Interpretation eines Künstlers gesehen werden.


    Man sollte nicht vergessen, dass zu Bachs Zeiten Komponisten noch als Handwerker galten, ganz unabhängig davon, wie genial sie auch sein mochten...


    Und da Bach durchaus ein traditionsbewusster Mensch gewesen sein muss, kann ich mir nicht vorstellen, dass er das persönlich anders gesehen hat und dass ihn diese Einordnung seiner Profession in den Bereich des ehrbaren Handwerks irgendwie gestört hätte.
    Er war ein tiefgläubiger und damit demütiger und bescheidener Mensch, der sein von Gott verliehenes Talent immer in den Dienst Gottes stellte.


    Daher halte ich Spekulationen über seine Absichten, die Kunst der Fuge aus künstlerischen Gründen lieber unvollendet zu lassen für unnötig:
    Da dürfte es nichts zu spekulieren geben.
    Ein gut gefertigtes, nach allen Regeln der Kunst verfasstes Musikstück gehörte für einen "Musikhandwerker" wie Bach sicherlich zu einem guten und ordentlichen Abschluss gebracht, so wie ein anderes "Handwerksprodukt" (wie beispielsweise ein Schuh oder Möbelstück) ja auch nichts taugt, wenn es unvollendet gelassen wird.


    Das mag aus heutiger Sicht sicherlich etwas beremdlich wirken, eine geniale Komposition mit einem Schuh oder einer Kommode zu vergleichen, aber Mitte des 18. Jahrhunderts war daran noch nichts ehrenrühriges: Musik war alltägliche Gebrauchsware, die stets frisch hergestellt und aufgeführt wurde - nix für die Ewigkeit.


    Die heute noch übliche Sicht des Künstlers als "Genie", das überhöhte Werke für die Ewigkeit schafft und jenseits aller weltlichen Widrigkeiten existiert, ist meines Wissens erst im 19. Jahrhundert entstanden (der "Mythos" Beethoven einer der Begründer dieser Charakterisierung von Künstlern und Künstlertum)


    Man mag argumentieren, dass Bach die Kunst der Fuge mehr für sich selber, bzw. als sein Vermächtnis (über die von ihm erlangte Fertigkeit im Beherrschen der zahlreichen Regeln des polyphonen Stils) geschrieben hat.
    Das spräche dann meiner Meinung nach noch mehr für die Tatsache, dass Bach dieses Werk auf jeden Fall zu einem Abschluss hätte bringen wollen. Ein unvollendetes Vermächtnis würde ja aus dieser Sichtweise heraus wie etwas wirken, was der Verfasser eben nicht bis zur letzten Konsequenz beherrscht hat...

    Daher ist es auch mit der Kunst der Fuge vermutlich wie mit vielen anderen Fragmenten: Ganz profane Gründe dürften dazu geführt haben, dass sie nicht vollendet wurden...

    "Es ist mit dem Witz wie mit der Musick, je mehr man hört, desto feinere Verhältnisse verlangt man."
    (Georg Christoph Lichtenberg, 1773)

  • Interessant fand ich folgende, Brand-aktuelle DVD-Rezension vom 27. 12. 2006 im Internet einer DVD-Neuproduktion mit Peter Ella (Hungaroton). Darin wartet der Rezensent Florian Hobert mit folgender interessanter Information auf. Weiß hier irgendjemand Näheres über diese angebliche Brief-Entdeckung? Ich habe sonst nirgends in der Fachliteratur darüber gelesen ... Oder ist es ein Neujahr-Scherz?


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    Zitat

    Mio caro Trazom’, so beginnt Johann Christian Bach im Jahre 1776 einen Brief an seinen Freund Wolfgang Amadeus Mozart, der vor kurzem in Bologna wieder entdeckt wurde. Darin gibt der ‘Londoner Bach’ Mozart, der bei einem Treffen in Paris Interesse an des ‘alten Bachs’ Kunst der Fuge gezeigt hatte, ausführlich Auskunft über das letzte Werk seines Vaters. Als damals Dreizehnjähriger hat er für seinen blinden Vater Teile der Komposition niedergeschrieben. Er hält fest, dass sein Vater Frescobaldis Orgelmessen zum Vorbild genommen habe und mit jedem Contrapunctus auf einen Messtext anspielen wollte. Das Dies Irae zum Beispiel sei Contrapunctus 6. Zum Schluss bemerkt er: ‘Es ist ein vorausgeplanter, absichtlich und bewusst komponierter Schluss, den nur er ersinnen konnte, um das Ende, das Vergängliche, das Dahinscheiden eines wunderbaren Instruments, eines phantastisch vielschichtigen, farbenfrohen Musikstils, einer unnachahmlichen Kompositionstechnik, eines ganzen Zeitalters (des ‘alten Stils’) darzustellen. So zu beenden, dass er unvollendet bleibt. Und all das im 239. Takt! (...) Nach dem gleichzeitigen Erklingen der drei Themen bleibt der Tenor plötzlich allein und hört auf. Wie eine ausgestreckte Hand, wie eine unterbrochene Geste auf einem Fresko Michelangelos in der Sixtinischen Kapelle. Und all dies nimmt mein Bruder Philipp überhaupt nicht zu Erkenntnis! Am Ende schreibt er nur, an dieser Stelle sei der Komponist verstorben; in der von ihm zusammengestellten Ausgabe lässt er die letzten sieben Takte weg...’


    zitiert von Klassik.com - Rezension Florian Hobert vom 27. 12.2006


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  • Mir scheint die ganze Geschichte faktisch eine Ente; dagegen spricht schon die von Peter Schleuning in seinem maßgeblichen Buch zur "Kunst der Fuge"
    (DTV/Bärenreiter-TB-- ein MUSS für alle Interessenten!) aufgezeigte Quellengeschichte.

  • Hallo Ben,


    also dieser jetzt plötzlich - und so termingerecht für eine DVD-Neuproduktion der Kunst der Fuge - in Bologna aufgetauchte Brief von J. C. Bach an Mozart scheint mir mehr als unglaubwürdig zu sein.


    Allein die Anrede "Mio caro Trazom" in diesem Brief.


    Trazom - so nennt sich Mozart manchmal selber (!) scherzhaft als Unterzeichner in Briefen, in denen er in meist aufgeräumter Stimmung an enge (!) Freunde und vor allem Familienmitglieder schreibt.


    J. C. Bach war sein großes Vorbild in Kindertagen, dem er kompositorisch nacheiferte und von dessen Musik er viel gelernt hat.
    Ich glaube daher kaum, dass zwischen beiden Musikern (die sich persönlich ja auch nicht so häufig begegnet sind [meines Wissens sogar nur in London 1764/65 und da war Wolferl gerade mal 9 Jahre alt!]) ein derart enges Verhältnis herrschte, dass Mozart einen Brief an einen von ihm mit Verehrung und Respekt geachteten Musiker-Kollegen mit Trazom unterzeichnet hätte, geschweige denn, dass J. C. Bach ihm wiederum mit genau dieser Scherzanrede brieflich geantwortet hätte. :no:
    Haben die beiden überhaupt jemals brieflich korrespondiert??


    Und wenn dieser Brief aus dem Jahr 1776 stammen sollte, und auf die Begebenheit zurückzuführen sein sollte, dass J. C. Bach mit Mozart in Paris über J. S. Bachs Kunst der Fuge geredet hat, dann frage ich mich zum einen, warum er Mozart diese Fakten, die er in diesem angeblichen "Brief" äußert, nicht persönlich in Paris mitgeteilt hat und zum anderen, wann dieses Treffen denn gewesen sein soll?


    Mozart war nach der großen Westeuropareise Mitte der 1760er Jahre nur noch ein weiteres Mal in Paris und das war erst 1778 ;)

    Nene - da passt irgendwie gar nix zusammen bei dieser Geschichte...


    Es soll wohl nur einmal wieder eine -diesmal recht abenteuerliche- Geschichte konstruiert werden (die zugegebenermaßen sehr poetisch klingt), die die Fragment gebliebene Kunst der Fuge nachträglich als genauso vom Komponisten gewollt darstellen soll. Warum auch immer das von so großer Bedeutung sein soll - der Rest der Werks ist doch schon gehaltvoll genug und aufführen kann man es auch in der Form, wie es uns heute vorliegt.


    Ich bleibe dabei: Bach mit seinem der damaligen Zeit entsprechenden Selbstverständnis als gottesfürchtiger "Musikhandwerker" (ich nenne das jetzt einfach mal so :] ) hätte ein Opus summum wie die Kunst der Fuge mit Sicherheit nach allen Regeln der (strengen) Satzkunst vollendet, wie es sich für einen ordentlichen Musikus gehörte, der etwas von seinem Handwerk versteht.
    Schließlich gab es genug Regeln, die eine Fertigstellung auch der kompliziertesten Satzgefüge ermöglicht hätten - alles andere hätte ja wie eine Kapitulation des Komponisten vor seinen eigenen Ansprüchen ausgesehen.
    Bach hätte also das Werk vollenden können, wenn er nur die Gelegenheit dazu gehabt hätte, da bin ich ganz sicher. Er war schließlich kein Beethoven oder Schubert - bei Komponisten wie diesen (und späteren Kollegen natürlich auch), wäre ein derart offenes Ende schon eher als gewollter Kunstgriff eingesetzt und auch vom Publikum als solcher aufgefasst worden ;)

    "Es ist mit dem Witz wie mit der Musick, je mehr man hört, desto feinere Verhältnisse verlangt man."
    (Georg Christoph Lichtenberg, 1773)

  • Auch wenn es gut in meine Argumentation passen würde, bin ich doch vorsichtig, bevor nicht mehr Fakten auf dem Tisch liegen. Den Brief soll Bach 1776 geschrieben haben, auf welches Treffen bezieht er sich? Soweit ich weiß, haben sich Bach und Mozart 1778 in Paris getroffen. Zweifel am Bachbrief sind also angebracht. Andererseits hat offenbar erst der Rezensent (Floran Hobert, Doktorrand im Fach Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik und Theater, Hannover) von Klassic.com auf diesen Brief aufmerksam gemacht; Hungaroton scheint mit diesem Brief gar nicht geworben zu haben, jedenfalls nicht im Internet. Auf jeden Fall sollte schnell Licht in diese interessante Geschichte gebracht werden. Hat jemand die Hungaroton-DVD, in deren Beipack sich ja der komplette Brief befinden soll? Ist er dort womöglich als Faksimile abgedruckt?

  • Betrachtet man nur den Inhalt der DVD, speziell die Extras, in denen der Text zu lesen ist, wird man an keiner Stelle darauf aufmerksam gemacht, dass es sich hier um eine Phantasieschöpfung des Cembalisten Peter Ella handelt. Im Gegenteil: Einleitend wird festgestellt, wann und wie der Brief aufgefunden worden ist. Erst wenn man auf die Rückseite der Hülle schaut (und Englisch beherrscht) verrät das Adjektiv „imaginary“ den Ursprung des Briefes. Auch eine versteckte Notiz im spärlichen Booklet macht darauf aufmerksam. Ich hatte meine Rezension zu Klassik.com mit der Anweisung geschickt, so lange mit der Veröffentlichung zu warten, bis dass ich vom Leipziger Bach-Archiv Antwort bezüglich der Echtheit des Briefes bekommen würde. Als diese dann kam („Nicht echt!“) musste ich feststellen, dass meine Rezension schon im Internet zu lesen war...

  • Lieber Florian:
    Da bin ich ja wirklich erleichtert! Ich konnte mir das auch nicht wirklich vorstellen. Traurig finde ich, daß renommierte Interpreten wie Herr Ella, auch wenn das durchaus scherzhaft gemeint sein sollte, vor solchen Mitteln nicht zurückschrecken, um Fakten zu verschleiern und ihre Sicht der Dinge zu rechtfertigen. Nun wird diese Geschichte zweifellos die Runde machen. Wurde Ihre Rezension denn inzwischen vom Netz genommen oder korrigiert?
    Interessehalber möchte ich nochmals auf das grundlegende Buch "Die Kunst der Fuge" von Peter Schleuning hinweisen, sowie auf zwei Notenausgaben:
    -- die Urfassung nach dem frühen Autograph, hrsg. Christoph Wolff, bei Peters
    --die neue kritische Gesamtausgabe von Wolfgang Hofmann bei Bärenreiter, die insbesondere die meines Erachtens wunderbar gelungene Vervollständigung von Contrapunctus XIV durch David Schulenberg im Anhang einschließt.
    Weiß hier irgendjemand, ob es von beiden Ausgaben inzwischen Einspielungen gibt?

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