Die Bachkantate (013): BWV64: Sehet, welch eine Liebe

  • Die hatten's gut, die alten Leipziger: Alle großen Feste des Kirchenjahres, also Weihnachten, Ostern und Pfingsten hatten - anders als heute - nicht zwei, sondern gleich drei Festtage! Und so gibt es vom allgemein bekannten und beliebten Thomaskantor eben auch Kantaten für den dritten Weihnachtstag, ein Tag, den viele heutige Zeitgenossen schon wieder arbeitend verbringen müssen :yes:


    Allerdings - das Leben damals war hart und entbehrungsreich (jedenfalls für die meisten) und so etwas wie Jahresurlaub, der einem zustand, gab es auch nicht. So gesehen ist es mehr als nur ein fairer Ausgleich, dass die damalige Zeit deutlich mehr (vor allem kirchliche) Feiertage hatte, als wir heute...


    Außerdem beschert uns die Tatsache mit den jeweils drei Festtagen jede Menge zusätzlicher wundervoller Bachkantaten - wenn das nichts ist :]


    Dazu gehört auch:



    BWV 64: Sehet, welch eine Liebe
    Kantate zum dritten Weihnachtstag (Leipzig, 27.12.1723)



    Lesungen:
    Epistel: Hebr. 1,1-14 (Christus ist höher als die Engel)
    Evangelium: Joh. 1,1-14 (Prolog des Johannes-Evangeliums)


    Der Tag wird auch als Gedenktag des Apostels Johannes begangen:


    Lesungen in diesem Fall:
    Epistel: 1. Joh. 1,1-10 (Gott ist Licht; Christi Blut reinigt von der Sünde)
    Evangelium: Joh. 21,20-24 (Jesu Worte zu Petrus über Johannes)


    Textdichter: unbekannt
    Choräle: Nr. 2 Martin Luther (1524); Nr. 4 Balthasar Kindermann (1664); Nr. 8 Johann Franck (1650)


    Acht Sätze, Aufführungsdauer: ca. 25 Minuten


    Besetzung:
    Soli: Sopran, Alt, Bass; Coro: SATB; Oboe d'amore, Cornettino (Quartzink), Trombone I-III, Violino I/II, Viola, Continuo


    1. Chorus SATB, Cornettino, Trombone I-III, Streicher, Continuo
    Sehet, welche Liebe hat uns der Vater erzeiget, dass wir Gottes Kinder heißen.


    2. Choral SATB, Cornettino, Trombone I-III, Streicher, Continuo
    Das hat er alles uns getan,
    Sein groß' Lieb' zu zeigen an.
    Des freu sich alle Christenheit
    Und dank ihm des in Ewigkeit.
    Kyrieleis!


    3. Recitativo Alt, Continuo
    Geh, Welt! behalte nur das Deine,
    Ich will und mag nichts von dir haben,
    Der Himmel ist nun meine,
    An diesem soll sich meine Seele laben.
    Dein Gold ist ein vergänglich Gut,
    Dein Reichtum ist geborget,
    Wer dies besitzt, der ist gar schlecht versorget.
    Drum sag ich mit getrostem Mut:


    4. Choral SATB, Cornettino, Trombone I-III, Streicher, Continuo
    Was frag' ich nach der Welt
    Und allen ihren Schätzen,
    Wenn ich mich nur an dir,
    Mein Jesu, kann ergötzen.
    Dich hab' ich einzig mir
    Zur Wollust fürgestellt:
    Du, du bist meine Lust;
    Was frag' ich nach der Welt.


    5. Aria Sopran, Streicher, Continuo
    Was die Welt
    In sich hält,
    Muss als wie ein Rauch vergehen.
    Aber was mir Jesus gibt
    Und was meine Seele liebt,
    Bleibet fest und ewig stehen.


    6. Recitativo Bass, Continuo
    Der Himmel bleibet mir gewiss,
    Und den besitz' ich schon im Glauben.
    Der Tod, die Welt und Sünde,
    Ja selbst das ganze Höllenheer
    Kann mir, als einem Gotteskinde,
    Denselben nun und nimmermehr
    Aus meiner Seele rauben.
    Nur dies, nur einzig dies
    Macht mir noch Kümmernis,
    Dass ich noch länger soll auf dieser Welt verweilen;
    Denn Jesus will den Himmel mit mir teilen,
    Und darzu hat er mich erkoren,
    Deswegen ist er Mensch geboren.


    7. Aria Alt, Oboe d'amore, Continuo
    Von der Welt verlang' ich nichts,
    Wenn ich nur den Himmel erbe.
    Alles, alles geb' ich hin,
    Weil ich genug versichert bin,
    Dass ich ewig nicht verderbe.


    8. Choral SATB, Cornettino, Trombone I-III, Streicher, Continuo
    Gute Nacht, o Wesen,
    Das die Welt erlesen,
    Mir gefällst du nicht.
    Gute Nacht, ihr Sünden,
    Bleibet weit dahinten,
    Kommt nicht mehr ans Licht!
    Gute Nacht, du Stolz und Pracht;
    Dir sei ganz, du Lasterleben,
    Gute Nacht gegeben.


    Wie in vorangegangenen Weihnachtskantaten auch, geht es inhaltlich in dieser Kantate erneut um die Freude der Christenmenschen über die Menschwerdung Christi und die damit verbundene Rettung vor ewiger Höllenverdammnis. Auch hier klingt wieder einmal die so typisch barocke Jenseits-Sehnsucht an (vor allem im Rezitativ Nr. 6).


    Eingeleitet wird die Kantate von einem in Motteten-Form verarbeiteten Bibelwort-Chorsatz (1. Johannes Kap. 3,1), der streng und archaisch wirkt. Bach verwendet hierzu einen vierstimmigen Posaunenchor (der Quartzink wird als Oberstimme eingesetzt), was dem Chor ein zusätzliches Ausdrucksgewicht verleiht.
    In Bach-Motteten bewundere ich immer wieder das Geschick des Komponisten, die Worte auszudeuten und so überaus treffend in Musik umzusetzen. Bach lässt sich in seinen Motteten ganz von der Sprache (an-)leiten und erzielt immer wunderbar-eindrückliche Ergebnisse.
    Der Einleitungssatz zu dieser Kantate ist ein hervorragendes Beispiel dafür!
    Witzig in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, dass Bachs berühmteste (und längste) Motette "Jesu, meine Freude" den gleichnamigen Choral von Johann Franck als Textgrundlage hat, mit dessen 5. Strophe just die hier besprochene Kantate BWV 64 endet.


    Der Choral Nr. 2 enthält die letzte Strophe des weihnachtlichen Lutherchorals "Gelobet seist du , Jesu Christ", den Bach in seiner gleichnamigen Kantate zum 1. Weihnachtstag BWV 91 schon einmal zum Thema hatte und der im Weihnachtsoratorium ebenfalls verwendet wird...


    Die Arie Nr. 7 mit der obligaten Oboe d'amore ist übrigens mein persönlicher Favorit in dieser Kantate!

    "Es ist mit dem Witz wie mit der Musick, je mehr man hört, desto feinere Verhältnisse verlangt man."
    (Georg Christoph Lichtenberg, 1773)

  • Hier habe ich nun mal Gardiner (auf der kürzlich erschienen Weihnachtskantaten-CD) und Harnoncourt zum Vergleich angehört.
    Ich muß sagen, dass ich Gardiners Aufnahme enttäuschend finde. Er spult den Eingangschor in 2:30 herunter (NH 3:30), was mir vom Affekt her absolut nicht einleuchtet. Ich habe die Noten nicht, aber ich höre diesen archaischen Satz als ein feierlich-ernstes andante, nicht als ein allegro.
    (wie nehmen denn andere Interpreten den Satz?)
    Zwar ist der Kontrast zum folgenden Choralsatz durch dieses flotte tempo sehr deutlich und natürlich ist Gardiners Chor sehr viel präziser als der Knabenchor, dennoch gefällt mir letztere wesentlich besser. (Ich schätze allerdings auch das timbre eines Knabenchors). Auch beim Rest (außer den beiden Chorälen) vermag mich Gardiner mit seinen Leuten wenig zu überzeugen. Sein Altus ist *wesentlich* schwächer als als Paul Esswood, seine Sopranistin mag etwas sicherer und stimmstärker als der (ziemlich gute) Knabensopran bei NH sein, wirklich gut finde ich sie auch nicht. Dazu ist das Tempo in der Alt-Arie, wo der Sänger mit "nichts - nichts" sozusagen sein eigenes "Echo" sein muß etwas zu zügig, so dass dieser Effekt gar nicht gelingt. Auch das erste Rezitativ "Geh, Welt" (übrigens genial diese Kombination mit dem folgenden Choral, das ist meine Lieblingsstelle der Kantate) ist bei Esswood/Harnoncourt viel sprechender und dramatischer umgesetzt.
    Da hilft nicht viel, dass Oboen- und Violinsolist sauberer und hübscher (allerdings auch weniger charakteristisch) klingen als auf der älteren Einspielung. Zinken und Posaunen ahne ich auf beiden Aufnahmen mehr als ich sie höre...


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)