Sind Orchester für die Musik einheimischer Komponisten besonders prädestiniert?

  • Hallo Forianer,


    ich glaube nicht, dass das so ist, ich denke, es immer davon abhängig, wer am Pult des jeweiligen Orchesters steht, und was er mit dem betreffenden Orchester herauszuholen vermag.


    Wie seht ihr das?



    Herzliche Grüße
    von LT :hello:

  • In unseren Zeiten wird das zunehmend wurscht, weil immer mehr internationale Orchester ihre lokalen Traditionen aufgeben, und vor allem ihre hauseigenen Instrumente. Wo alle Welt nur noch Yamaha bläst, klingt halt auch alles so... Denn leider haben die Instrumente heutzutage im Vergleich zu früher den größten Teil ihrer Eigenfarblichkeit verloren; ein Holzbläseroktett eines modernen Orchesters klingt im Zusammenspiel eher wie ein Harmonium, und individuelle Farben kan n man kaum mehr heraushören.


    Andererseits machte es noch um 1930 einen gewaltigen Unterschied, ob die Tschechische Philharmonie Suk spielte oder die Berliner Philharmoniker ...
    DIe historisch informierte Praxis kann hier hilfreich sein -- Original-Instrumente bei Debussy hieße eben beispielsweise Buffet-Crampon-Fagotte, Raoux-Hörner (meinethalben), Cabart-Oboen und so weiter.


    Der Dirigent ist mithin nur einer der Faktoren -- allerdings: Je besser sich ein Dirigent mit der ganz persönlichen Sprache und Eigenart eines Komponisten auskennt, um so überzeugender wird das klingen. Nehmen wir Barbirolli, der eine große Begabung diesbezüglich hatte ...


    Bei vielen heutigen Maestri scheint mir das egal und unerheblich, wenn bei ihnen Mozart wie Schubert wie Brahms wie Mahler wie Ravel klingt ...

  • Ich glaube schon, daß EINIGE Orchester sich ihre nationale Identität bewahrt haben. - Vor allem jene die es sich leisten können.


    Ich würde beispielsweis bei östrreichischen Orchestern Temperamentsunterschiede zu deutschen orten, und kühn die Behauptung aufstellen, sie wären tschechischen (aber eigenartigerweise auch englischen) Orchestern näher verwandt.


    Ein Brahms oder Mahler der Wiener Philharmoniker wird anders klingen als einer aus Norddeutschland.


    Die Instrumentenwahl lass ich dabei noch ausser acht.....


    nfg
    aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Man höre sich eine mittlere oder späte Schostakowitsch-Symphonie mit einem US-Orchester an.
    Oder Janácek von einem französischen Orchester (oder ebenfalls einem US-Orchester).


    Umso schlimmer, daß auch hier die Globalisierung einsetzt und nationale Identitäten des Klanges verloren gehen.


    :hello:

    ...

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    Original von Edwin Baumgartner
    Umso schlimmer, daß auch hier die Globalisierung einsetzt und nationale Identitäten des Klanges verloren gehen.


    Hallo Edwin,


    Mich wundert etwas, dass Du davon sprichst, dass die Globalisierung "einsetzt". Der Prozess läuft doch seit Jahrzehnten. Das Orchestre de Paris hatte z.B seit mehr als 30 Jahren keinen Franzosen mehr als directeur musical.


    Man sollte auch einmal sehen, was diese Globalisierung an Positivem gebracht hat: eine Ausweitung des Repertoires nämlich. Ich denke z.B. nicht, dass man vor den 60ern so arg viel Bruckner in Frankreich gespielt hat.


    Beste Grüsse,


    Jürgen

  • Also mache ich notgedrungen doch hier weiter...


    Hallo Jürgen!
    Solche Erscheinungen gab es immer wieder: Cleveland z.B. hatte eigentlich nur Maazel als nationales Zwischenspiel; die Wiener Symphoniker hatten nach der Sawallisch-Ära (1960-1970) keinen Chef aus dem deutsch-österreichischen Raum mehr.
    Die Erweiterung des Repertoires ist so eine Sache, bei der ich etwas skeptisch bin.
    Ich weiß, daß Paris relativ plötzlich auf Bruckner gekommen ist, das hat mir Boulez erzählt: In seiner Jugend war Bruckner ein No-Name und jetzt gibt es fast etwas wie einen Boom. Laut Boulez war es mit Mahler ähnlich.


    Andererseits hoffte ich, daß Georges Prêtre als Symphoniker-Chef Milhaud und Pulenc bringen würde, dazu Debussy, Ravel und ein paar andere französische Komponisten aus dem Umfeld des Impressionismus und der "Six". Weit gefehlt. Wir bekamen einen Beethoven-Zyklus, Bruckner, Mahler etc. Aber das französische Repertoire wurde nicht besser bedient als vorher.


    Jetzt haben wir Betrand de Billy als Chef des Radioorchesters - ein glänzender junger Dirigent, der ausgezeichnet hört und wirklich Geschmack hat. Aber dasfranzösische Repertoire ist immer noch relativ begrenzt - o.k., er hat wenigstens ein bißchen Dutilleux gemacht, aber ein Debussy-Zyklus oder ein Ravel-Zyklus ist nicht in Sicht, Milhaud, Poulenc, Satie, Magnard etc. sind nach wie vor Unbekannte.


    Bei den Tonkünstlem haben wir den Esten Kristjan Järvi - estische Komponisten? Nichts - außer einem kurzen Pärt ab und zu. Skandinavische Komponisten? Sibelius von Zeit zu Zeit.


    Die Repertoireerweiterung sehe ich also wirklich nicht - es ist eher eine Fixierung auf ein sagen wir vorsichtig erweitertes Kernrepertoire - nur wird dieses sozusagen von internationalen Künstlern dargeboten, und zwar mit Orchestern, die weitgehend austauschbar klingen.


    :hello:

    ...

  • Hi,


    ich glaube, dass man diese Frage nicht allgemein beantworten kann, bzw. wollte man sie partout beantworten, müsste wohl ein "eher nicht" herauskommen. Man muss jeweils den speziellen Fall begutachten, gelegentlich kann man einen Komponisten pauschal anführen. Es gibt eben Musik, in die regionale Einflüsse stark einfließen, und andere, wo das wenig oder kaum der Fall ist. Im ersteren Fall haben einheimische Ensembles ein unzweifelhaften Startvorteil.


    Es ist nicht zu überhören, dass sich z.B. bei Dvorák tschechische Orchester zu Hause fühlen, bei Gershwin und Joplin z.B. sind Aufnahmen nicht-amerikanischer Künstler meist nur nette Versuche, bei Arthur Sullivan sind wohl aus gutem Grund kaum jemals Aufnahmen nicht auf der Insel gemacht worden, und unsere heimischen Truppen haben bei Strauß, Lanner & Co. auch nicht unter ständiger ernsthafter Konkurrenz zu leiden...


    :hello:

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Das Thema ist aktuell wie eh und je.
    Ich behaupte, daß französiche Orchester den von französischen Komponisten angestrebten Klangeindruck besser erzielen können, als beispielsweise ein deutsches oder österreichisches Orchester.
    Gelegentlich erzielen "ungeeignete" Orchester einen interessanten Klang, der ein Werk von einer völlig neuen Seite beleuchtet, eben weil er unidiomatisch ist. Aber das sind wohl Ausnahmen. Natürlich kommt es auch darauf an wenn am Pult steht, aber prinzipiell behalten Orchester ihren spezifischen Eigenklang - so sie einen haben - oder eben den "internationalen Mischklang" der "für alles" geeignet ist.


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



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  • Zunächst denke ich, dass einheimische Orchester (ich beziehe hier den Dirigenten mit ein) ein Verkaufsargument ist. Man traut einem Finnen eher zu, einen guten Sibelius hinzulegen als beispielsweise einem Bolivianer. Eine psychologische Frage.
    Desweiteren nehme ich an, die Wahrscheinlichkeit ist größer, dass einheimische Orchester tatsächlich ein Werk besser wiedergeben - einfach deshalb, weil sie häufig größere Erfahrung mit einheimischen Werken haben, weil sie diese eben häufiger spielen.
    An so eine Art Ethnienfaktor glaube ich nicht ("nur ein Russe kann die wahre, russische Seele verstehen und darbieten") - ich finde, da ist oft Selbstbetrug am Werk; der Hörer bildet sich solche Dinge ein, da sie den Konsum abrunden. Plazebo.
    Meine Antwort auf die Ausgangsfrage: Im Prinzip NEIN.

  • Zunächst glaube ich, daß ein renomiertes Orchester nicht unter dieser Rubrik zur Diskussion gestellt werden darf. Die Wiener, die Berliner, das Gewandhausorchester, die Dresdner Staatskapelle u.a. sind wohl in der Lage, sowohl ihren Mahler, ihren Brahms, ihren Mendelssohn oder ihren Strauß zu spielen. Aber ich glaube auch, daß die Wiener Tschaikowski gut hinbekommen, genau wie die Leipziger Sibelius oder die Dresdner Debussy können. Dazu sind die Orchester einfach zu gut, vielleicht auch zu routiniert.


    Man sollte aber die Frage stellen, welche Rolle der Dirigent dabei spielt. Ich habe die 7. von Schostakowitsch in Lepzig vor 2 Jahren unter Bychkow gehört und war wie vom Donner getroffen. Leider leidet das Live-Erlebnis unter Erinnerungslücken, denn die gleiche Sinfonie habe ich mit dem gleichen Orchester vor mind. 10-12 Jahren gehört, ich glaube es war unter Blomstedt. Und meine Begeisterung hielt sich in Grenzen. Vielleicht lag es auch daran, daß man Schostakowitsch und seine thematisch eigentlich grausame Musik erst verstehen lernen muß, was beim ersten Mal durchaus noch Schwierigkeiten bereiten kann.


    Ich habe aber das Israelic-Orchestra unter Mehta mit Mahlers 2. Sinfonie gehört und ich fand es Klasse. Ohne Begründung, und ob im Takt 161 eine Note evtl. verschluckt wurde, das war mir dabei völlig egal. Es war ein musikalischer Genuß (dazu hat übrigens noch ein polnischer Chor gesungen), rein gefühlsmäßig Gänsehautmusik (falscher Thread, sorry).


    Also, ich glaube nicht, daß ein deutsches Orchester für die Interpretation deutscher Musik besonders prädestiniert ist. Wenn das so wäre, sollten also ausländische Orchester die Finger von Brahms oder Beethoven lassen? Ich meine nein.


    La Roche

    Ich streite für die Schönheit und den edlen Anstand des Theaters. Mit dieser Parole im Herzen leb' ich mein Leben für das Theater, und ich werde weiterleben in den Annalen seiner Geschichte!

    Zitat des Theaterdirektors La Roche aus Capriccio von Richard Strauss.

  • Grundsätzlich würde ich nicht sagen, dass das so ist.
    Allerdings ist mir persönlich aufgefallen, kann aber auch, wie Tapio meint, nur psychologisch bedingt sein, dass vor allem bei Französischer Musik mir auch französische Orchester "lieber" sind, da das für mich meist "authentischer" klingt.

    "Die Glücklichen sind neugierig."
    (Friedrich Nietzsche)

  • Ich möchte daran erinnern, dass zumindest einigen Orchestern ja auch ein "ganz spezieller Klang" nachgesagt wird (die allermeisten von uns kennen solche Aussagen vermutlich bezogen auf die Wiener Philharmoniker und die Berliner Philharmoniker). Insofern müsste man die Ausgangsfrage vielleicht dahingehend erweitern, inwieweit z.B. der Orchesterklang der Wiener Philharmoniker besonders für Schubert-Symphonien geeignet ist? Andererseits habe ich erst letzte Woche wieder ein großartiges Konzert des NDR-Sinfonieorchesters mit einer Bruckner-Symphonie erlebt. Das dieses Orchester gerade die Werke von Anton Bruckner so hervorragend beherrscht, ist sicherlich auf den ehemaligen Chefdirigenten Günter Wand zurück zu führen. Nun war Bruckner bekanntlich Österreicher, während Wand aus dem Rheinland stammt und das NDR-Sinfonieorchester in Hamburg beheimatet ist ... was gibt also hier den Ausschlag für die m.E. inzwischen nahezu idiomatische Interpretation der Symphonien hier im "hohen Norden"?


    Weiter dürfte eine einigermaßen objektive Beantwortung der Ausgangsfrage aufgrund der inzwischen doch recht internationalen Besetzung verschiedener Spitzenorchester schwierig sein. Vielleicht hätte man die Frage vor 30 Jahren noch eher mit einem "Ja" beantwortet, während man heute eher zu einem entschiedenem "Vielleicht, mag sein etc." neigen würde.


    Und schließlich, wie hier ja auch schon erwähnt, der Faktor "Hörer": Klar bilde ich mir manchmal ein, die Leningrader spielten Tschaikowsky und Schostakowitsch viel russischer, als ein amerikanisches Major-Orchestra. Allein, ich beziehe mich dabei eventuell auf Platten-Aufnahmen, die u.U. auch schon einige zig Jahre alt sind. Gilt dieselbe Theses heute auch noch? Oder ist es doch eher so etwas, wie eine self-fullfilling-prophecy? Ich möchte vielleicht auch glauben, dass es so ist; genauso, wie ich glauben möchte, dass Karl Böhm mit den Wienern ein viel großartigerer Mozart-Interpret ist, als etwa ein Christopher Hogwood mit der Academa of Ancient Music.

    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.

  • Ich habe aber das Israelic-Orchestra unter Mehta mit Mahlers 2. Sinfonie gehört und ich fand es Klasse. Ohne Begründung, und ob im Takt 161 eine Note evtl. verschluckt wurde, das war mir dabei völlig egal. Es war ein musikalischer Genuß (dazu hat übrigens noch ein polnischer Chor gesungen), rein gefühlsmäßig Gänsehautmusik (falscher Thread, sorry).


    Auch hier kann man natürlich darüber philosophieren, dass sich der ursprüngliche Orchesterstamm des IPO vermutlich aus europäischen Juden rekurierte, die mit der Musik Mahlers grundlegend vertraut waren. Wieweit sich dieses dann über die Zeit durch die Orchesterkultur trägt - wer mag dies beurteilen!?

    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.

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  • Zitat

    Weiter dürfte eine einigermaßen objektive Beantwortung der Ausgangsfrage aufgrund der inzwischen doch recht internationalen Besetzung verschiedener Spitzenorchester schwierig sein. Vielleicht hätte man die Frage vor 30 Jahren noch eher mit einem "Ja" beantwortet, während man heute eher zu einem entschiedenem "Vielleicht, mag sein etc." neigen würde.


    Dem möchte im wesentlichen beipflichten. Aber gleichzeitig möchte ich auch hinterfragen ob nicht gerade hier die Ursache zu suchen ist, daß die Qualität heutiger Aufnahmen vielleicht höher sein mag, als jene vor einigen Jahrzehnten - echte Strenstunden der Schallplattengeschichte jedoch kaum mehr stattfinden. Es wird ein international anerkannter "Einheitsbrei" auf hohem Niveau angeboten - idiomatischer oder charakteristischer Orchesterklang gehört aber eher der Vergangenheit an - von einigen Ausnahmen abgesehen.
    Natürlich spielt auch der Dirigent eine Rolle - und wie verankert ein gewisses Soll-Klangbild - im allgemeinen Bewusstsein ist.
    So hat sich vermutlich Eugen Jochum mehr für Bruckner interessiert als irgendein österreichischer Dirigent seiner Zeit, Karl Böhm vielleicht ausgenommen, aber der wurde eher mit Mozart, Schubert und Richard Strauß in Verbindung gebracht.


    Zudem gibt es Komponisten, die einen "internationalen" Klang eher ohne Schaden überstehen als andere. Schubert halte ich in der Tat für extrem sensibel in dieser Beziehung. Brahms - hier kann man zwei verschiedene Interpretationsansätze gelten lassen, den prachtvollen wienerischen und den knorrigen norddeutschen.....


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Brahms - hier kann man zwei verschiedene Interpretationsansätze gelten lassen, den prachtvollen wienerischen und den knorrigen norddeutschen.....


    Lieber Alfred,


    gerade bei Brahms finde ich das doch sehr interessant! Man wird ihm beide Naturen nicht ganz absprechen können.-


    Hast Du Bespiele für den "prachtvollen wienerischen" und den "knorrigen norddeutschen" Klang - vorzugsweise ein eher historisches und eines jüngeren Datums?


    Wie wäre es mit Schmidt-Isserstedt und Günter Wand für die norddeutsche Variante und Böhm für die wienerische? (Bernsteins Brahms aus Wien, DG, halte ich für eine seiner schlechtesten Aufnahmeserien; die Brahms-Konzerte sind ihm hingegen mit den Wienern ausgezeichnet gelungen.)


    Wo wären andere Brahms-Größen wie Furtwängler, Brahms, Walter, Toscanini, Kempe, Giulini, Norrington, Mackerras zu verorten? Ein Harnoncourt?


    :hello:

  • Ich würde Brahms insofern "beide Naturen" mehr oder minder absprechen, dass ich nicht den Eindruck habe, seine Musik sei auch nur ansatzweise so stark regional (wo auch immer) verankert wie Bruckner, Tschaikowsky oder gar Dvorak, Janacek oder Bartok.
    (Noch weniger "regional" sind m.E. Haydn, Mozart und Beethoven, egal, was die Wiener behaupten werden. Und selbst Schubert ist kein Johann Strauss, was die Relevanz "lokalen Dialekts" angeht.)


    Wie oben schon gesagt, gibt und besonders gab es ziemlich deutliche klangliche Unterschiede, die sich auch in Instrumentenbau, Spielweise u.a. niederschlagen. Besonders auf Aufnahmen vor ca. 1970 ist das oft ziemlich offensichtlich zu hören. Einfach mal auf Klangfarbe, Vibrato usw. der Holzbläser achten. So scheinen die Hörner zB in mittel- und osteuropäischen Ensembles oft besser mit den Holzläsern zu verschmelzen, dafür nicht so schmetternd herauszuplatzen. Oder das starke vibrato bei russischen Blechbläsern.
    Das ist weitgehend unabhängig von der gespielten Musik.


    Dann gibt es die Ebene, die besonders bei entsprechend national/traditionell geprägter Musik zum Tragen kommt: bestimmte Phrasierungen, Artikulationen, auch Rhythmen, kleine Tempoverschiebungen usw. Entsprechende Musiker merken eben auch, wenn zB eine Melodie, die einem trad. Tanz o.ä. in einem sinfonischen Satz auftaucht und artikulieren entsprrechend.


    Und schließlich gibt es die Vertrautheit mit den gespielten Stücken. Natürlich können professionelle Musiker fast alles vom Blatt oder in kurzer Frist spielen. Aber die Berliner oder New Yorker Philharmoniker dürften Dvoraks 5. Sinfonie oder Smetanas "Tabor" erheblich seltener spielen und gespielt haben als die Tschechische Philharmonie. Es ist ein Unterschied, ob die meisten Musiker in einem Orchester ein Stück nach ein paar Proben spielen, das sie vorher nie gesehen haben, oder ob es mehr oder minder auswendig kennen. Bei Tschaikowskys 6. gibt es vielleicht keinen großen Unterschied diesbezüglich zwischen einem russischen und einem englischen Orchester, aber bei Glasunovs 6. sehr wahrscheinlich.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Nach beinahe 5 Jahren grabe ich diesen Thread wieder aus.
    Das hat (mindestens) 2 Gründe:
    Zum einen haben wir uns in den letzten Jahren relativ viel mit "nordischen" Komponisten auseinandergesetzt und in neuerer Zeit sehr ib´ntensiv mit russischen Werkenm wobei immer wieder das "Idiomatische" oder das Fehlen desselben betont wurde. Ich gehe also davon aus, daß das Interesse an dieser Thematik innerhalb des Forums größer ist als vor 5 Jahren...(?)


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Völlig irrationaler Weise gebe ich zu, dass ich russisches Repertoire lieber mit russischen Interpreten hören möchte, "Nordisches" mit nordischen Künstlern etc. pp.
    Das ist jedoch vielmehr eine Sache von Erwartungshaltungen, als von tatsächlichen Qualitäten.
    Im Gegensatz dazu steht, dass ich den großen Spitzenorchestern in Europa und den USA - vielleicht den Top-20 - durchaus eine hohe Universalität und Flexibilität zutraue. Eigentlich nicht nur diesen, denn wie häufig treten nicht auch im Nischenrepertoire wenig idiomatische Orchester für unbekannte Komponisten ein - und können damit vollauf überzeugen?


    Ganz nüchtern und vernünftig betrachtet - ich schrieb es bereits an anderer Stelle- denke ich, dass in einer globalisierten Welt überall auf hohem Niveau musiziert werden kann und man von der Orchesterherkunft nicht auf die repertoireseitige Eignung schließen sollte.


    Also insgesamt bin ich in dieser Frage total zerrissen, unvernünftig und unlogisch unterwegs... :untertauch::D


    Hinsichtlich der Russen für Russisches: möglicherweise spielt hier auch die Aufnahmetechnik eine Rolle. Je nach Remastering kommt so manche Melodyia-Einspielung vielleicht doch etwas rauer und imperfekter daher, was - je nach dem -, den Werkcharakter stützten oder kontrastieren und damit für manche Hörer einen besonderen Reiz haben mag.


    Viele Grüße
    Frank

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  • Ich empfinde die Antwort relativ einfach. Wenn ich davon ausgehe, dass die Mehrheit der Orchester mit Musikern des Heimatlandes besetzt sind, dann haben diese Orchestermiglieder durch ihre Erst- Kontakte zur Musik, ihre musikalische Sozialisierung und ihre Ausbildung die intensivtesn und sicherlich auch prägendsten Verbindungen zur Musik ihres kulturellen und sprachlichen Heimatraumes. Deshalb liegt es nahe, dass sie für die Musik einheimischer Komponisten besonders prädestiniert sind.
    Ich bin im Management eines städtischen, deutschen Sinfonieorchesters tätig. Aus der Praxis: Wenn das Orchester deutsches Repertoire, also Beethoven, Schubert, Schumann, Brahms usw, also das sogenannte Kernrepertoire spielt, dann geht das mit weniger Proben, wie dies bei italienischen, russischen, skandinavischen oder Komponisten anderer Länder der Fall ist. Jetzt kommt es allerdings auch stark auf den Dirgenten an. Auch beim Aufführungsergebnis kann es durchaus sein, dass die Kompositionen ausländischer Komponisten ausnahmweise gut gelingen, weil sie besonders intensiv geprobt wurden. Also zumindest kann man mit hoher Wahrscheinlichkeit aussagen, dass Werke einheimischer Komponisten meist einfacher und mit weniger Aufwand zu realisieren sind.


    Herzlichst
    Operus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

  • Da kann man jetzt entgegen, dass bspw. auch für das Malaysische Symphonieorchester Beethoven zum Repertoirekern gehört und auch diese Musiker sind im Bereich der "Klassik" mit den selben Komponisten sozialisiert worden, wie ihre deutschen Kollegen. Allein schon, weil der dortige Kulturkreis eben keine "klassische, europäische Kunstmusik" hervorgebracht hat.


    Das überzeugt mich ehrlich gesagt nicht vollständig.


    Viele Grüße
    Frank

  • Zitat

    Das überzeugt mich ehrlich gesagt nicht vollständig.


    Lieber Freund Hüb,


    vollständige, unwiderlegbare Überzeugung, ist besonders bei einem kritischen Geist wie Du es zu sein scheinst, nur sehr schwierig zu erreichen wenn nicht gar unmöglich. Das hieße nämlich, dass man die alleinige Wahrheit hätte und wer will und kann das schon von sich behaupten. :hello:


    Herzlichst
    Operus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

  • Zitat

    Du meinst, mit Ausnahme von Holger? :D


    Manchmal kann Ironie soooo schön sein!


    Herzlichst
    Operus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

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  • Wenn ich davon ausgehe, dass die Mehrheit der Orchester mit Musikern des Heimatlandes besetzt sind, dann haben diese Orchestermiglieder durch ihre Erst- Kontakte zur Musik, ihre musikalische Sozialisierung und ihre Ausbildung die intensivtesn und sicherlich auch prägendsten Verbindungen zur Musik ihres kulturellen und sprachlichen Heimatraumes. Deshalb liegt es nahe, dass sie für die Musik einheimischer Komponisten besonders prädestiniert sind.


    Kann man davon noch ausgehen, lieber Operus?
    Nicht nur bei den Berliner Philharmonikern oder dem Deutschen Sifonieorchester Berlin kommen die Musiker aus aller Herren Länder!
    Aber davon abgesehen habe ich zu der Frage dieses Threads nichts beizutragen.


    Nur eine Bemerkung:
    Die Musikkritiker im Vereinigten Königreich sind seit je felsenfest davon überzeugt, dass nur britische Orchester in der Lage seien, Elgar zu spielen. Es war für sie jetzt ein regelrechter Schock, dass die Staatskapelle Berlin Aufnahme von Elgars Sinfonien gemacht hat, die in einem Blindhörtest von allen beteiligten englischen Kritikern und Musikern als absolut autentisch bezeichnet und als "Referenzaufnahme" gekürt wurde. ("The finest version of the work to appear on disc in many years...")




    Caruso41

    ;) - ;) - ;)


    Wer Rechtschreibfehler findet, darf sie behalten!

  • die in einem Blindhörtest von allen beteiligten englischen Kritikern und Musikern als absolut autentisch bezeichnet und als "Referenzaufnahme" gekürt wurde


    Ironie 2.0: besonders bitter, in Zeiten des Brexit... :D

  • Erst der neue Bruckner-Zyklus, nun der Elgar: Wird doch der Barenboim jetzt, im Alter, nicht glatt wieder ein interessanter Dirigent werden. :D


    Auf dem Cover sieht er jedenfalls "very British" aus.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Zurück zur Ausgangsfrage:


    Zitat

    Sind Orchester für die Musik einheimischer Komponisten besonders prädestiniert?


    Ich weiß nicht, ob das so ohne Einschränkungen allgemein gilt. In diesem Thread wurden ja gute Belege dagegen angeführt.


    Ein großer Sonderfall, wo es m. E. absolut zutrifft, sind die russischen Orchester zur Zeit der Sowjetunion. Diesen rustikalen, rauen Orchesterklang gab es so nicht anderswo. Je mehr ich höre, umso mehr verbinde ich diesen mit den Werken von Tschaikowsky, Mussorgsky, Rimsky-Korsakow, Borodin, Balakirew, Glasunow, Schostakowitsch und vielen mehr. Leider hat sich diese Besonderheit nach dem Zusammenbruch der UdSSR im Laufe der 90er Jahre immer mehr marginalisiert. Mrawinsky starb bereits 1988, so dass der große Bruch in Leningrad fast zeitgleich mit der Wende geschah. Beim Staatsorchester von Swetlanow wurde der Klang noch bis 2000, dem Jahr seines Rauswurfs, erhalten. Am ehesten findet man ihn womöglich noch beim ehemaligen Orchester des Kulturministeriums, der heutigen Staatskapelle von Russland, aber auch nur, wenn sie von ihrem Ex-Chefdirigenten Roschdestwensky dirigiert wird.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões