Beurteilungen von klassischen Werken und ihren Komponisten im Laufe der Jahrhunderte

  • Liebe Forianer


    Inspiriert wurde ich zu diesem Thread durch den laufenden "Überschätzte Komponisten" wo ja bereits jedr seinen Aggressionen (in gewohnt moderater Taminoform) seinen freien Lauf ließ.


    Nun wollte ich dort die Frage aufwerfen:
    Überschätzt ? von wem und wann ?


    Aber dann ist mir klargeworden, daß ich dann genau jene Themenabschweifungen begünstigen würde, die ich erst gestern beanstandet habe.


    So entstand dieser Thread, der sich vorzugsweise mit der Frage beschäftigen soll:


    Wessen Urteil gilt eigentlich bei der Beurteilung von "klassischen" Werken ?


    Das der Zeitgenossen ?
    Jenes der heutigen zeitgeistigen Kritiker ?
    Was sagt es aus wenn ein Werk einst bejubelt - heute aber kritisch beleuchtet - wenn nicht gar verdammt wird ?
    Wer wagt es - und mit welchem Recht - Werke als minderwertig einzustufen, die einst zur Zeit ihrer Entstehung Aufsehen erregten ?
    Wie werden unter Umständen künftige Generationen unsere Beurteilungen einstufen ?


    Oh da gibt es noch viel zu sagen....


    mfg
    aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Es gibt zu jedem Zeitpunkt eine ziemlich uneindeutige "offizielle" Meinung, die natürlich nur zu diesem Zeitpunkt gilt.
    Heute gilt also nur die heutige "offizielle" Meinung.
    Abgesehen davon hat natürlich jeder seine persönliche Meinung.
    Verantwortlich für die "offizielle" halte ich mal Musiktheoretiker, Musikgeschichtler, Interpreten und Komponisten.
    Ob Kritiker etwas damit zu tun haben, weiß ich nicht so recht.

  • Hallo Alfred,


    interessantes Thema. Als erstes Beispiel - weil gerade letztens gehört - fällt mir Ignaz Moscheles (1794 - 1870) ein. Zu Lebzeiten recht angesehen, mit Mendelsohn gut befreundet wurden seine Klavierkonzerte noch bis in die erste Hälfte des 20. Jhd. immer wieder aufgeführt.
    Inzwischen führen sie jedoch ein Nischen-Dasein wie die meisten anderen Klavierkonzerte des 19. Jhd - ich denke an Herz, Kiel etc. Moscheles reicht zwar nicht an Schumann heran (wer tut das im 19. Jhd. schon? außer Grieg :P ) aber IMO sind seine Konzerte den vielen anderen vergessenen durch seine geistreichen melodischen Einfälle überlegen - vor allem Klavierkonzerte Nr. 2 und Nr. 3 waren zu Lebzeiten sehr beliebt.


    Von Friedrich Wieck stammt der Ausspruch, er würde Schumann zu einem geistreicheren Komponisten als Moscheles und zu einem großartigeren als Hummel machen. Was ihm wohl gelungen ist, was aber auch beweist, welch Stellung und welch Ansehen Moscheles damals hatte.


    Auch in Metzlers Musik-Chronik ist ihm ein Abschnitt gewidmet.


    Was ihn wohl heute vergessen macht, ist der zu seiner Zeit übliche, typisch romantisierende Tonfall gepaart mit salonhafter Leichtigkeit.
    Doch - und das finde ich erstaunlich - stehen seine Klavierkonzerte IMO denen Chopins kaum(!) nach.


    :hello:
    Wulf.

  • Moschelesse wird man, denke ich, hunderte finden. (Hier gibt es doch einige Threads zu kleineren Meistern dieser Zeit.)
    Dass alte Einsschätzungen nicht mehr gelten, wird z.B. auch durch Goldmark gezeigt, der mehr als sein Landes- und Generationsgenosse Bruckner geschätzt wurde.

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  • :hahahaha:
    Verzeihung, das war böse von mir.
    Aber es ging hier nicht darum, WEN man jetzt für unterschätzt hält.
    Wenn jeder von uns seinen persönlichen Favoriten unter denen, die er für unterschätzt hält, nennt, haben wir hunderte davon.
    Ulli würde Kraus liefern, der Lullist Steffani, BBB Pettersson, Edwin Britten, ich Rott, Du Moscheles, es würde kein Ende nehmen.
    :hello:

  • Nein, mein Fehler. Soooon großer Fan von Moscheles bin ich gar nicht. :stumm:
    Aber Du hast recht. Es geht nicht, um die Aufzählung nach persönlicher Meinung unterschätzter Komponisten.


    Ich wollte eigentlich nur ein Beispiel eines "späten" Vergessens geben. Warum spät? Weil M. noch 50 Jahre nach seinem Tod aufgeführt wurde, hundert Jahre später nicht mehr.


    Viele Komponisten - darunter auch Pleyel - waren ja bereits schon zum Ende ihrer Lebenszeit in Vergessenheit geraten....


    Warum schaffens die einen inmmerhin noch ein Stück, die anderen nicht?
    Das hat sicher ganz individuelle Umstände und läßt sich nicht pauschal beantworten. Interessant finde ich das aber schon.


    LG
    Wulf.

  • Hallo,


    manchmal ist es wirklich völlig unverständlich. Ein sehr gutes Beispiel gibt es bei Donizetti. Sein größter Erfolg zu Lebzeiten war der Belisario. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gerät dieser in dauerhafte Vergessenheit, in den letzten Jahrzehnten gab es drei Wiederbelebungsversuche ohne nennenswerte Folgen. Und es ist eine ganz tolle Oper!


    Warum nur, warum...

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Ich würde sagen, dass viele Komponisten, die sich mehr oder weniger ausschließlich am gerade herrschenden Zeitgeschmack orientierten und dem Publikum genau das lieferten, wonach es im Moment verlangte, ein gutes Beispiel wären:
    Zu Lebzeiten (präziser: Zum Zeitpunkt ihrer künstlerisch aktiven Phase) vom Publikum (und oft genug auch von der Kritik) begeistert gefeiert und verehrt und dementsprechend auch oft aufgeführt.
    Nach ihrem Tod, bzw. -sofern sie lange genug gelebt haben- wenn sich der Zeitgeschmack geändert hat, werden sie dann plötzlich unmodern und ihre Werke werden gnadenlos und relativ abrupt innerhalb eines meist nur wenige Jahre umfassenden Zeitraums "links" liegen gelassen.


    Und das bleibt dann auch oft mehrere Jahrzehnte (oder Jahrhunderte) lang so, bis sich Musikwissenschaftler und -wichtiger noch!- praktizierende Musiker dieser Werke "erbarmen" und sie einem Publikum hör- und erlebbar machen, das begreiflicherweise diese Werke gar nicht mehr kennen kann.
    Und wenn das überzeugend geschieht, dann fragt man sich die berühmte Frage: "Wie konnte dies oder jenes bloß der Vergessenheit anheim fallen?" - und alle wundern sich ;)


    Ein gutes Beispiel ist für mich der Komponist Joachim Raff (1822-82), mit dessen Symphonien ich mich im Rahmen meiner "Jahreszeiten"-Recherchen in der letzten Zeit etwas näher beschäftigt habe.
    Ein unglaublich produktiver Kompnist auf fast allen Gebieten der klassischen Musik, der mir bis vor kurzem höchstens ab und an in irgendwelchen einschlägigen Texten als bloßer Name begegnete - aber gehört hatte ich bis dato nie etwas von ihm....


    Raff "bediente" sein Publikum Mitte des 19. Jahrhunderts bevorzugt (und sehr erfolgreich!) vor allem mit der damals sehr beliebten Programm-Musik (Symphonien!) - alles sehr gefällig und wirklich hübsch anzuhören. Er liefert Genre-Szenen in großer Zahl, die gut zu Bildern der damaligen Zeit passen (ich muss hier grad spontan an Carl Spitzweg [1808-85] denken).
    Aber -und das sehe ich als das Problem vieler später vergessener oder vernachlässigter Komponisten an- es ist neben diesen ganzen "Nettigkeiten" irgendwie wenig persönliches in diesen Werken. Eine Aussage, die etwas zukunftsweisendes oder überzeitlich-allgemeingültiges hätte. Nur "nett" reicht halt net :]
    Das dürfte der Grund sein, warum Raff gegen die Symphoniker, die nach ihm kamen, wenig Überlebenschancen hatte....


    Ein Schicksal, das viele Komponisten, die zu ihrer Zeit kompositorisch ähnlich "populär" verfuhren, ereilte.... irgendwie braucht es ein gewisses "Mehr", um ein Werk dauerhaft überleben zu lassen.
    Oder man bedient "Nischen", und schreibt z. B. Solo-Literatur für selten bedachte Instrumente - das hilft natürlich auch :D

    "Es ist mit dem Witz wie mit der Musick, je mehr man hört, desto feinere Verhältnisse verlangt man."
    (Georg Christoph Lichtenberg, 1773)

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  • Es gibt ja schon eine ganze Reihe ähnlicher threads (z.B. "Warum wurden Komponisten vergessen?") Ich habe dort schon gesagt, das halte ich auch immer noch für richtig, dass "Vergessen" in der Musikgeschichte der Normalfall gewesen ist, eine museale Musikkultur wie seit Beginn des 20. Jhds. die Ausnahme (auch wenn es solche schon vorher mal gegeben haben mag). Das Publikum war meistens an der "neusten Mode" interessiert, vermutlich am Schnellebigsten war seit jeher das Musiktheater.
    Zwar hat jede Musik zeitgebundene Aspekte, aber ich finde es einleuchtend, dass die bei einer Oper, die hier und jetzt und schnell viel Publikum ziehen soll oder einem Virtuosenkonzert, eher dominieren als bei einem Streichquartett oder auch einer Sinfonie. Seit diese Gattungen etabliert waren, sind sie für viele Komponisten eine bewußte Auseinandersetzung mit den großen Vorgängern gewesen. Und wenn etwa zeigen will, dass man ein Quartett schreiben kann, dass neben Haydn oder Beethovens besteht, strengt man sich anders an als bei einem Stück, von dem man weiß, dass es vermutlich eine Eintagsfliege sein wird.
    Ich glaube außerdem, dass man, wenn man sich das Urteil von Musikern, besonders Komponisten ansieht, das sehr viel weniger zeitabhängig und wetterwendisch sein wird als das des Publikums.
    Es mag einige berühmte Fehleinschätzungen geben, aber Schumann hat z.B. die Qualität der Musik Chopins, Schuberts, und Brahms sehr schnell erkannt und das teils an relativ unbedeutenden Frühwerken. Ähnlich das Desinteresse oder die Polemik des erwachsenen Mozart an vielen Zeitgenossen und sein klares Interesse an Bach, Händel und Haydn. Oder der 18jährige Mendelssohn, der einfach zwei Quartette schreibt, die sich eng an Beethovens Spätwerk orientieren, während viele Kritiker die Musik als unverständlich (chinesisch) abtun.
    Fehlurteile mag es häufig in Zeiten heftiger Parteienbildung geben wie z.B. Wagnerianer vs. Hanslick und Brahms. Da sind die Zeitgenossen einfach "zu nahe dran" und zu sehr in Grabenkämpfe involviert.


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Wessen Urteil gilt eigentlich bei der Beurteilung von "klassischen" Werken

    ?


    GENAU DAS IST DER PUNKT !!


    Würde man heute Mozart Schostakowitsch oder Mahler vorspielen und seine (mutmassliche !! aber doch ziemlich voraussehbare Aussage) hier bei Tamino ins Netz stellen - das liesse einige auf die Barrikaden steigen :baeh01:


    Aber Mozart war hier nur ein Beispiel - das gälte auch für jewedes Publikum der Vergangenheit.


    Eduard Hanslick, heute oft als "Meister des Fehlurteils" belächelt, war das zu Lebzeiten durchaus nicht - Er war lediglich Vertreter einer extrem konservativen Geschmacksrichtung (schon für damalige Verhältnisse) und er saß in der Position das auch verlautbaren zu können.


    RAFF ist ein Gutes Beispiel - es gibt übrigens Threads - weitere werden folgen.


    RAFFiniert instrumentiert - Die Sinfonien von Joachim Raff
    CPO: Streichquartette von Raff
    Das geächtete 19. Jahrhundert (?)


    Raff wurde auch in unseren Threads weitgehend die Begeisterung versagt - ich kann das nachvollziehen - denn auch bei mir war es "Liebe auf den zweiten Blick" dann aber umso inniger.


    Ich glaube, daß der "Zeitgeschmack" eine riesige Rolle spielt.
    Unser beginnendes Jahrhundert - und zum Gutteil auch das 20. ist ein Musterbeispiel der Kulivierung und Anbetung des Hässlichen - naturgegebenen - ungeschönten.
    Andere Jahrhundete hatten hier ganz andere ästethische Maßstäbe:


    Ich will das an der Sprache verdeutlichen


    Man sagt nicht: gestorben - sondern : selig im Herrn entschlafen - nicht gegessen: sondern diniert oder gespeist - etc - nicht "mfg" sondern "mit dem Ausdruck unserer vorzüglichsten Hochachtung, Briefe begannen nicht mit "Sehr geehrte Damen und Herren" - oder noch schlimmer "Liebe Kunden" sondern mit "Euer Hochwohlgeboren"


    Man kleidete sich sorgfältig, man baute bombastisch.


    Und ebenso komponierte man.


    All das sollte man bedenken wenn man Werke der Vergangenheit hört.


    Oft wurde ein heute welberühmtes Werk ausgebuht und geächtet. (Bsp. "Sacre")


    Das Werk wurde in dem Fall vom damaligen Publikum nicht "verkannt" - es entsprach eben nicht dem damaligen Zeitgeist und brach des öfteren ein Tabu....


    mfg
    aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Dvorak war nicht nur ein genialer Komponist, sondern ein guter, aber strenger Lehrer.


    Eines schönen Tages stellte er seinen Studenten die Frage, was Mozart sei.


    Zugleich fing einer an, Mozart kulturhistorisch und wissenschaftlich darlegen zu wollen.
    Doch eher dieser Student aussprechen konnte, packte Dvorak ihn am Arm zog ihm zum Fenster und sagte mit dem Finger gen Himmel:


    "Mozart, mein Lieber, ist die Sonne! Merken Sie sich das."


    Also zumidnest in Musikerkreisen war Mozart auch Ende des 19. Jhd. sehr angesehen.....

  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    Eduard Hanslick, heute oft als "Meister des Fehlurteils" belächelt, war das zu Lebzeiten durchaus nicht - [...]


    Er hat sich freilich bei seinen Zeitgenossen ebenso geirrt wie sich heutige Kritiker bei den ihren irren.


    Ich würde sagen, dass das Urteil der Zeitgenossen am wenigsten von allen Urteilen gilt.

  • Zitat

    Würde man heute Mozart Schostakowitsch oder Mahler vorspielen [und seine] (mutmassliche !! aber doch ziemlich voraussehbare Aussage)...



    also ich wüßte nicht wie er reagieren würde ?(
    Ich vermute mal er wäre begeistert aufgrund der Möglichkeiten und Wagnisse :lips: :P



    Ich glaube es liegt grundsätzlich am Zeitgeist, da muß man eben für sich entscheiden, was man darüber hinaus noch zuläßt.
    Momentan machen die Medien den öffentlichen Geschmack, der kommt nicht von den Menschen selbst....

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  • Zitat

    Original von Wulf
    Also zumidnest in Musikerkreisen war Mozart auch Ende des 19. Jhd. sehr angesehen.....


    Wann war denn Mozart (seit seinem Ableben) nicht angesehen?

  • Ich spielte auf Alfreds Frage an, die ich aber falsch verstanden hatte - in dem Sinne, daß Schostakowitsch mit Mozart hätte bestimmt nicts anfangen können - aber Alfred meinte das wohl andersherum (was natürlich keinen Sinn macht... ;) )


    Insofern, nimm meinen Kommentar nicht so wichtig, sondern erfreu Dich an der netten Anekdote :P


    :hello:
    Wulf.

  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    Würde man heute Mozart Schostakowitsch oder Mahler vorspielen


    Man hätte schon seine Probleme, wo nichtmal gesichert ist, dass der Schädel wirklich von Mozart ist, ihm (Mozart nämlich) heute Schostakowitsch vorzuspielen. :baeh01:


    Wäre aber eine nette künstlerische Aktion. Vielleicht reagiert der Schädel ja.