Willkür und Verkopfung

  • Liebe Freunde der Musik des 20. Jh.!


    Arne schrieb über sein Komponieren:

    Zitat

    Wichtig ist für mich immer Willkürlichkeit zu vermeiden ohne ein verkopftes Gebilde zu schaffen.


    Das hat mich etwas zum Nachdenken über die verwendeten Begriffe verleitet, da ich einen Angriff auf nicht näher genannte willkürliche oder verkopfte Kompositionen gewittert habe.


    Was mich zur plakativen These geführt hat, jede Musik des 20. Jh. sei irgendwo zwischen den Polen Willkür und Verkopfung angesiedelt, mehr oder weniger vom einen und vom anderen habend: Keine Musik ohne Willkür und Verkopfung!


    Und daß keine Musik rein willkürlich oder verkopft sein kann.


    So meinte Kelemen über sein Cellokonzert aus den 60er Jahren, er habe ganz frei komponiert, lediglich die Instanz seines Geschmackes hätte die Entscheidungen geregelt. Ist aber der Geschmack eines Komponisten, geschult durch Rezeption der jüngsten Musikgeschichte etwas rein willkürliches?


    Und zum Gegenpol: Tenney schuf in "for Ann, rising" ebenfalls in den 60ern ein Stück aus lauter identischen, geradlinig aufsteigenden, ganz tief ein- und ganz hoch ausgeblendeten, einander überlagernden Sinustönen, die in stets gleichbleibenden Abständen sich hinaufschrauben. Das eigentliche Stück bildet sich gewissermaßen im Ohr des Hörers, der stets unwillkürlich von den Sinustönen, denen gerade seine Aufmerksamkeit galt, abspringt zu anderen, immer unterschiedlich viele gleichzeitig wahrnehmend (obwohl es immer gleich viele sind). Alle kompositorischen Entscheidungen sind getroffen, um diesen Effekt möglichst gut zu erreichen, also durch den Kopf. Aber ist die Grundidee nicht willkürlich?


    Und ist nicht im Grunde jeder kompositorische Ansatz willkürlich gewählt?

  • Jeder kompositorische Ansatz ist willkürlich gewählt. Der Komponist sucht auch die Kompositionskriterien aus, d.h., der Komponist entscheidet willkürlich, wie weit er die Willkür zulässt.


    Das hat ja auch im Grunde zur Krise der orthodoxen Serialisten geführt: Das Ausschalten des kompositorischen Willens war nämlich der kompositorische Wille - und wenn man das akzeptiert, kann/muss man auch den kompositorischen Willen akzeptieren, keine Regeln aufzustellen. Oder nur Regeln in Teilbereichen.


    Ob Musik "willkürlich" oder "verkopft" wahrgenommen wird, kommt meiner Meinung nach auch auf den Zuhörer an: Oft - wenn nicht sogar meist - werden die Konstruktionsprinzipien nicht wahrgenommen und es tritt eine Verwechslung ein: Musik, die subjektiv gut klingt, wird als "gefühlvoll" eingestuft, Musik die subjektiv nicht gut klingt, als "konstruiert" (und damit "verkopft").

    ...

  • Salut,


    ich glaube, es wird sehr schwierig, zwischen Willkür und Verkopfung definitiv zu unterscheiden. Ich möchte nur Bachs Fugen als Beispiel anführen: Die Willkür ist doch deutlich durch die eher streng vorgegebenen "Regeln" eingeschränkt - im Prinzip ist eine Fuge ein Konstrukt, jederzeit "nachbaubar"... dennoch entfaltet sich Willkür in den verbleibenden Möglichkeiten so durchweg genial, dass das Konstrukt dahinter verblasst.


    Viele Grüße
    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Ulli:


    Zitat

    im Prinzip ist eine Fuge ein Konstrukt, jederzeit "nachbaubar"...


    Hallo Ulli, also dann "bau" doch mal bitte eine Bach-Fuge 1 zu 1 nach und sollte dir, wider alles erwarten, das gelingen, was noch keiner geschafft hat, bleibt mir nichts weiter übrig als dieses hier:


    :jubel: :jubel: :jubel:

    Das geht über das Sagbare hinaus. Das läßt sich nicht deuten und bedarf keiner Deutung. Es kann nur gehört werden. Es ist Musik. (H.H.Jahnn)

  • Salut,


    warum so aufgeregt heute? ?(


    Erstens sprach ich nicht davon, eine Bach-Fuge 1:1 nachzubauen, sondern lediglich davon, dass das Konstrukt nachbaubar ist... und Du musst eben auch weiterlesen:


    Zitat

    ...dennoch entfaltet sich Willkür in den verbleibenden Möglichkeiten so durchweg genial, dass das Konstrukt dahinter verblasst.


    Und Willkür ist natürlich nicht nachbaubar, aber weil Du's bist gebe ich mir die Blösse und poste einen [unfertigen] vierstimmigen Versuch, bitte:






    Ich kann wegen der Eile kleine Tippfehler nicht ausschliessen. Und nun beweise Du, dass sie nicht von Bach ist!


    ;)


    Ich hätte natürlich auch die [nichteinmal zwingend] frühen Mozart-Sinfonien, oder Sinfonien Dittersdorfs als Beispiel nennen können - es kommt auf das selbe heraus: Die Form ist ziemlich fest vorgegeben und lässt kaum Spielraum für Willkür. Die Willkür beschränkt sich zu jenen Zeiten darauf,


    1. das Werk zu schreiben
    2. die musikalischen Themen auszuwählen
    3. die Grundtonart zu bestimmen
    4. zu Phrasieren/Variieren
    5. die Instrumente auszuwählen
    ... [sicher fehlt einiges]


    Die Punkte 2 und 4 würde ich nicht blind unterschreiben, denn auch musikalische Themen haben sicher eine gewisse "Zweckbestimmung" gehabt: So gibt es typische Eröffnungsthemen, typische Schlußrondothemen etc... Und auch das Wie der Phrasierung bzw. auch der Variation war ein ungeschriebenes [wenn nicht gar geschriebenes] Gesetz. Das bezieht sich natürlich alles auf Musik vor 1828, die niemand hören will...


    Der Sprachprophet fragt und meint, es sollte eh geklärt werden, was mit Willkür eigentlich hier gemeint ist:


    Der freie Willen an sich [ich mach's jetzt eben so!] oder die Beliebigkeit [mir doch egal...]? Oder beides? Ich empfinde da einen - wenn auch kleinen - Unterschied.


    Viele Grüße
    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

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  • Moin Ulli,


    der Beweis, daß etwas NICHT von Bach ist, kann wesentlich einfacher erbracht werden als umgekehrt; das ist ne alte Weisheit ! :D
    Totzdem vielen Dank für die Fuge !


    Ich denke, der einzig gangbare Weg diesbezüglich ist der, den Schostakowitsch
    mit seinen 24 Präludien und Fugen für Klavier solo op. 87 (1950/51) einschlug, nämlich der, einem formalen Muster seinen individuellen Stempel aufzuprägen.
    In dem von mir genannten Beispiel ist das wunderbar gelungen !


    Bei Versuchen Strawinskis in dieser Richtung sprach die Kritik gerne davon, daß es "wie Bach mit falschen Noten" klänge. Diese Kritiker erwarteten offenbar
    eine Stilkopie wo Strawinski ein Original lieferte.


    Letzendlich ist es mir wurscht, welcher Formen sich wer bedient, wenn es ihm nur damit gelingt, Eigenes zum Ausdruck zu bringen. Der Begriff vom "alten Wein in neuen Schläuchen" mag da durchaus seine Berechtigung haben. LG

    Das geht über das Sagbare hinaus. Das läßt sich nicht deuten und bedarf keiner Deutung. Es kann nur gehört werden. Es ist Musik. (H.H.Jahnn)

  • Salut,


    Zitat

    Original von BigBerlinBear
    der Beweis, daß etwas NICHT von Bach ist, kann wesentlich einfacher erbracht werden als umgekehrt; das ist ne alte Weisheit ! :D


    Na, ich bin mir da nicht so sicher - wobei ich mich jetzt bei Bach im Speziellen da nicht so sehr auskenne. Aber wie viele Werke wurden bereits den "falschen" Komponisten zugeordnet? Wieviele hochkarätige Musikwissenschaftler haben sich bei solchen Aktionen schon geirrt?


    Zitat


    Ich denke, der einzig gangbare Weg diesbezüglich ist der, den Schostakowitsch
    mit seinen 24 Präludien und Fugen für Klavier solo op. 87 (1950/51) einschlug, nämlich der, einem formalen Muster seinen individuellen Stempel aufzuprägen.


    Ich sehe es nicht als einzig gangbaren Weg - aber auch für mein Empfinden als den interessantesten.


    Viele Grüße
    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Salut,


    aber bleiben wir doch Thema Bach: wie ich finde, gibt es da gute Beispiele:


    Im Thread über das "bessere Gelingen" vom wohltemperirten Clavier Teil I oder II



    ist zu lesen, dass der II. Teil eher langweilig ist [das ist nicht meine Meinung!]. Auf den ersten Blick in die Noten kann das sogar für bare Münze genommen werden - es scheint so, dass die Praeludien und Fugen des II. teils mehr lieblos konstruiert [demnach im Ergebnis verkopft] sind, dass ihnen das Leben [die Willkür eben] fehlt.


    Viele Grüße
    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
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  • Zitat

    Wieviele hochkarätige Musikwissenschaftler haben sich bei solchen Aktionen schon geirrt?


    Oh ne Menge, auf jeden Fall ! Aber das lag vor allem daran, daß sie anderen Komponisten einfach nicht zutrauten, ebenfalls großartige Musik zu komponieren. So wanderten etliche Kantaten Telemanns, Graupners, Hoffmanns, Kauffmanns ins BWV und wurdern erst innerhalb der letzten 50
    Jahre ziemlich kleinlaut aus solchem wieder entfernt.
    WIE sie da jedoch überhaupt hineingeraten konnten, ist mir, ehrlich gesagt, ein Rätsel, denn KEINES der Werke verfügt über die Formensprache Bachs
    und die textexegetischen Besonderheiten seiner Wortbehandlung etc.
    Die klugen Herren wie Spitta und Co. hätten das eigentlich merken müssen, aber es kann sein, daß Nähe eben auch blind macht.

    Das geht über das Sagbare hinaus. Das läßt sich nicht deuten und bedarf keiner Deutung. Es kann nur gehört werden. Es ist Musik. (H.H.Jahnn)

  • Zitat

    Original von BigBerlinBear


    WIE sie da jedoch überhaupt hineingeraten konnten, ist mir, ehrlich gesagt, ein Rätsel, denn KEINES der Werke verfügt über die Formensprache Bachs
    und die textexegetischen Besonderheiten seiner Wortbehandlung etc.
    Die klugen Herren wie Spitta und Co. hätten das eigentlich merken müssen, aber es kann sein, daß Nähe eben auch blind macht.


    Man nimmt eben - zu Recht, wie ich finde - an, dass auch die "großen Komponisten" mal irgendeinen "Mist" komponierten, wobei ich das nun nicht anhand von speziellen Werken festmachen möchte 8)


    Auch im Köchelverzeichnis liest man oft und gerne die Aussage, dass ein Werk [im Anhang] "in der vorgefundenen Gestalt auf keinen Fall" von Mozart stammen könne. Dabei hat er sich zu ganz ähnlichen Übungen "herabgelassen", deren Autorschaft "gesichert" ist.


    Viele Grüße
    Ulli

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    (Vincenzo Geilomato Hundini)

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  • Zitat

    dass auch die "großen Komponisten" mal irgendeinen "Mist" komponierten,


    Genau, und bei Bach fehlt dieser "Mist", wobei es natürlich sein kann, daß er lediglich nicht überliefert wurde. Ausserdem muss man an die Betrachtungsweise des 19. Jahrhunderts denken, die Bach zum "Riesen" aufblies, selbst Händel einen nur minderwertigeren "2ten Platz" zuwies und alle anderen Komponisten zu Klein (und Kleinst)-Meistern degradierte.


    Davon ist das Musikverständnis vieler Hörer (keinesfalls nur älterer) bis heute geprägt.

    Das geht über das Sagbare hinaus. Das läßt sich nicht deuten und bedarf keiner Deutung. Es kann nur gehört werden. Es ist Musik. (H.H.Jahnn)

  • Zitat

    Original von BigBerlinBear


    Genau, und bei Bach fehlt dieser "Mist", wobei es natürlich sein kann, daß er lediglich nicht überliefert wurde.


    ...und wobei es eben auch sein kann, dass viel Riesiges, das heute noch unter Bachs Namen verkauft wird, eben gar nicht von Bach ist - was natürlich nicht gegen die Qualität echter Bachwerke spricht.


    Bei Mozart übrigens fehlt dieser "Mist" selbstverständlich auch - es kommt eben auf die Betrachtungsweise an... :D


    :untertauch:


    Ulli

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  • Zitat

    ..und wobei es eben auch sein kann, dass viel Riesiges, das heute noch unter Bachs Namen verkauft wird, eben gar nicht von Bach is


    Bekanntestes Beispiel: BWV 565



    (das ist kein Mist aber eben mit großer Wahrscheinlichkeit nicht von Bach

    Das geht über das Sagbare hinaus. Das läßt sich nicht deuten und bedarf keiner Deutung. Es kann nur gehört werden. Es ist Musik. (H.H.Jahnn)

  • Salut,


    genau das meinte ich, wie hast Du das erraten? ;)


    Und natürlich meinte ich, dass es etwas Großes ist und kein "Mist". Nicht von Bach und dennoch großartig [eben wie Bach].


    Die Diskussion hat aber mit dem eigentlichen Thema nur nichts mehr zu tun. Vielleicht kann sich der Thread-Vater mal wieder zu Wort melden? Und auch andere Meinungen sind natürlich willkommen!


    Viele Grüße
    Ulli

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  • Zitat

    Original von Ulli
    Die Diskussion hat aber mit dem eigentlichen Thema nur nichts mehr zu tun. Vielleicht kann sich der Thread-Vater mal wieder zu Wort melden?


    Ja, ich hoffte eigentlich, dass Arne, der die beiden Begriffe verwendet hat als Fehler, die er als Komponist nicht begehen will, meiner positiven Umdeutung widersprechen wird.


    Im Grunde behaupte ich ja, dass es den Makel von Willkür oder Verkopfung in keinen bekannten Werken gibt.


    Meine beiden Beispiele waren besonders extrem aber leider eher unbekannt.


    Da ich Arne nicht unterschieben will, er würde bedeutende Werke wie Stockhausens Gruppen oder Rihms Hamletmaschine als verkopft oder willkürlich bezeichnen und das als Kritik verstehen, habe ich von diesen bekannteren etwaig für möglich gehaltenen Beispielen Abstand genommen. Dasselbe gilt für alles vor dem 20. Jh. entstandene, wo ja nie alles von einem grundlegenden Prinzip aus "rein technisch" entwickelt wird oder nie "völlig regellos" sich die Intuition des Komponisten austobt.


    :beatnik:

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