Nachfolger der Wiener Schule: nur Epigonen und brave Handwerker?

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    [...] Es war eben die Zeit, in der man glaubte, das Material selbst würde schon die Qualität ausmachen - ein Problem der meisten Wiener Schule-Nachfolger, das, was den deutschen Sprachraum betrifft, IMO nur von Hanns Eisler (der aber im Grunde auch zur Wiener Schule gehört) wirklich gelöst wurde. Denn wenn man etwa Fortners Werke genauer unter die Lupe nimmt, sind sie auch wenig mehr als über den zwölftönigen Leisten gehauene Kontrapunktierereien.


    Liebe Freunde der Zwölftonmusik :D !


    Ob das alle von uns so sehen wie Edwin?
    Abseits unserer Lieblinge möchte ich mal folgende Reihenzähler zur Diskussion stellen:


    Paul Dessau, Stefan Wolpe, Günter Bialas
    oder außerhalb des deutschen Sprachraums (und somit nicht von Edwin gemeint):
    Roberto Gerhard, Nikos Skalkottas
    (bitte nach Belieben zu erweitern)


    Wer malt nur brav seine Reihen hin und wer hat wirklich was zu sagen?

  • Da muß ich mich doch gleich einmal verwundern: Bialas würde ich nicht als Zwölftöner im Schönberg'schen Sinne sehen. Wenn er Reihen zugrunde legt, so (zumindest in den Werken, die ich von ihm kenne) eigentlich eher als Fläche mit variablen Tongruppen.
    Dessau wiederum hat kaum Zwölftonmusik im Schönberg'schen Sinn geschrieben: Auch bei ihm werden die Reihen in Tongruppen aufgebrochen (etwa "Meer der Stürme") - und vor allem integriert Dessau immer wieder nicht reihengebundenes Material als beabsichtigten Fremdkörper.


    Wen ich meinte, waren die orthodoxen Zwölftöner wie Fortner, bei dem man mühelos die Reihentöne herausklauben kann, oder Herbert Eimert oder Hanns Jelinek (es ließen sich noch einige aufzählen) - also jene, die die Technik selbst über die Musik stellten.


    Wenn ich an Dallapiccola denke - der hat nun mit der über den Zwölftonleisten gehauenen Musik nichts zu tun. Dallapiccola war IMO, ebenso wie Skalkottas, ein Genie des Ausdrucks, bei dem, selbst in den als hermetisch verschrieenen Spätwerken, immer das sinnliche Klangerlebnis im Mittelpunkt steht. Dallapiccola und Skalkottas haben die Lehren Schönbergs und Weberns, glaube ich, ziemlich gut verstanden: Daß man nämlich Zwölftonmusik schreiben muß und nicht Zwölftonmusik.

    ...

  • O, dann habe ich Dich mißverstanden und außerdem muß ich zugeben, den Begleitheften zu sehr geglaubt und nicht die Noten vorgenommen zu haben.
    :O


    Gibt es vielleicht ein Buch mit Notenbeispielen zu dem Thema, wer sich mehr und wer weniger an die Zwölftontechnik gehalten hat? Also meine Ohren sind von dieser Frage überfordert und bislang war ich eher der Ansicht, dass es im Grunde nicht so wichtig ist, wie es nun "gemacht" ist - schließlich ist auch Zwölftonmusik in erster Linie zum Hören und nicht zum Lesen da.

  • Ich habe da in einem anderen Thread was über Fortner gefunden:


    (Das ist dann mein zugegebenermaßen etwas unselbständiger 555. Beitrag.)

  • Buch weiß ich leider keines. Ich habe das meiste aus den Partituren analysiert.
    Der Krampf bei den Begleitheftschreibern ist, daß sie oft die Begriffe Zwölftonmusik und zwölftönige Musik nicht auseinanderhalten bzw. das eine für das andere verwenden, sich dabei aber auf Texte von Autoren beziehen, die diese Unterscheidung zwischen reihengebunden (Zwölftonmusik) und mit dem chromatischen Total operierend (zwölftönig) durchaus machen.
    Noch komplizierter wird die Angelegenheit, wenn man bedenkt, daß manche Komponisten zwar reihentechnisch gearbeitet haben, ihre Reihen aber nicht zwölftönig sind, sondern nur einen Teil der chromatischen Skala benützen - Egon Wellesz etwa hat in seinem Spätwerk so gearbeitet.


    Um zu Deinem Thema zurückzukommen: Echte Zwölftöner, die ich aufgrund ihrer Phantasie sehr mag, sind natürlich Hanns Eisler, Luigi Dallapiccola, Nikos Skalkottas, Roger Sessions, der frühe und mittlere Hans Werner Henze (bis etwa "König Hirsch"), der frühe Pierre Boulez ("Visage nuptiale"), Charles Chaynes, Elizabeth Lutyens, Edison Denisov. Das sind die, die mir jetzt ad hoc einfallen.


    ad Fortner: Ich kenne nicht sein Violinkonzert, wohl aber seine "Bluthochzeit", die Impromptus, die Pfingstgeschichte und das Triplum: Für mich ist das ein typischer Handwerker. Er kennt die Technik, er weiß, was damit möglich ist, aber statt daraus Musik zu machen, zeigt er nur seine Kenntnisse. So finde ich z.B. die Reihenmanipulationen auf dem Papier hinreißend - aber das klingende Ergebnis ist für mich trocken wie Stroh.
    Was über das Violinkonzert gesagt wird, erinnert mich an das Reihensystem, das Krenek (der IMO der wesentlich phantasievollere der beiden ist) in den "Lamentationes" verwendete. Hier spreche ich aber nicht mehr von Zwölftonmusik, denn die verbindet man automatisch mit Schönberg, während diese Verbindung von Modalität mit Zwölftönigkeit bei Schönberg selbst und in der Wiener Schule nicht zu finden ist.

    ...

  • Ich habe den Eindruck, kaum fällt das magische Pfui-Wort Zwölftonmusik, macht jeder einen Bogen um den entsprechenden Thread. Ich versteh' das einfach nicht. Man braucht doch nur einmal Dallapiccolas "Prigioniero" zu hören oder Henzes 3. Symphonie, die ein echter Reißer ist, um herauszufinden, daß es nur auf den Komponisten ankommt, nicht auf die Technik. Als ob die sogenannte Tonalität allein schon für gute Musik und die Reihe für Unanhörbarkeit garantieren würde. ?(

    ...

  • Hallo,


    bei mir ist die Situation so: ich höre (neben den Klassikern um Schönberg) viel Musik dieses Jahrhundert und könnte über viele Werke auch schreiben, was mir an ihnen gefällt oder nicht, inwieweit sie mich berühren oder interessieren.


    Ich kann aber kaum entscheiden, ob die Komponisten Nachfolger der Wiener Schule sind bzw. ob sie reine Zwölftontechniken anwenden oder welche Parameter sie sonstwie organisieren. Das liegt auch daran, dass ich nicht viele Partituren der Musik der letzten 70 Jahre habe, und heraushören kann ich das kaum (Es interessiert mich auch gar nicht primär).


    Ich höre z.B. sehr häufig und gerne Werke von Edwins genanntem Edison Denisov (habe ich in diesem Forum, glaube ich, auch schon gepostet), wusste aber bis jetzt nicht, dass das ein echter Zwölftöner ist. Was ich aber sehr wohl weiß, ist, wie seine Musik auf mich wirkt.


    Ich bemerke: In keiner Epoche wird die Betrachtung (oder der Grund der Nichtbetrachtung) der Musikwerke hier so sehr auf die Anwendung der Technik reduziert wie in den Werken seit Schönberg.


    Uwe

    Ich bin ein Konservativer, ich erhalte den Fortschritt. (Arnold Schönberg)

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Ich habe den Eindruck, kaum fällt das magische Pfui-Wort Zwölftonmusik, macht jeder einen Bogen um den entsprechenden Thread. (


    Mag sein, aber das gilt nicht durchgehend. Ich weiß einfach zu wenig, da halte ich mich mit Beiträgen lieber zurück. Wenn ich von Dingen schreiben und reden wollte, von denen ich nichts verstehe, wäre ich Journalist oder Politiker geworden. :D


    Ich verfolge die Threads schon sehr aufmerksam. Bisher habe ich bewußt erst Alban Bergs Violinkonzert und Schönbergs Verklärte Nacht gehört. Sie stehen beide auf meiner Liste. (Obwohl, das Schönberg-Stück ist ja nicht gerade 12Ton, oder?)


    Letztlich spielt es - wie Du richtig geschrieben hast - auch keine Rolle, ob das Stück tonal, atonal, oder wie auch immer geschrieben worden ist, auf den Komponisten kommt es an.


    Allerdings - das habe ich in diversen Threads ja auch schon zum Ausdruck gebracht, und Du teilst die Einschätzung ja auch in bestimmten Umfang - ist es ein Kennzeichen der Musik etwa ab 1910, daß die Abkehr von den traditionellen Mitteln der Musik bzw. deren Fortwicklung über das Tonale hinaus bisher nicht zu einem neuen einheitlichen Stil geführt hat. Vielmehr ist die Musik heute vom Personalstil einzelner Komponisten geprägt, experimentieren (wie in jeder Übergangsphase) und probieren steht im Vordergrund. Da überrascht es mich nicht, daß technische Fragen eine größere Rolle spielen. Das liegt einfach in der Natur der Sache.


    Es gibt einfach viele Komponisten, die über das Technische (in welcher Form auch immer) nicht hinauskommen, die ihr handwerkliches Können nicht in klingende Musik umsetzen können und nur Langeweile verbreiten.


    Und noch etwas in diesem Zusammenhang:
    Man kann viel über zeitgenössische Musik lesen, habe ich auch, aber das ersetzt das Hörerlebnis nicht. Wenn Du auf Henze und Dallapiccola hinweist, nehme ich das interessiert zur Kenntnis, aber ich bin doch zurückhaltend, wenn es um den Kauf von CDs geht. Bevor ich Euro x für eine CD ausgebe, überlege ich dreimal, ob ich ein unbekanntes Stück von Henze kaufe oder Kammermusik von Debussy. Die kann ich einschätzen, das Risiko eines glatten Fehlkaufs ist gering.


    Ich bin auf Deine und Kurzstückmeisters Ausführungen hin bei Hersant und Bacri dieses Risiko eingegangen, sehr zu meiner Freude. Ich werde das auch weiterhin tun (Scelsi, Kurtag, Dalbavie nur als Beispiel).


    Die Stadtbücherei hier hat Rattles DVD-Serie über Musik des 20.Jahrhunderts, da habe ich schon einiges ausgeliehen und gehört. Ich kann die fachliche Kompetenz nicht beurteilen, aber es ist eine Möglichkeit, viele moderne Komponisten zu hören.



    Also: Eure Beiträge zur modernen Musik sind weder vergeblich noch überflüssig. Steter Tropfen höhlt den Stein 8)

  • Zitat

    Original von Uwe Schoof
    Ich bemerke: In keiner Epoche wird die Betrachtung (oder der Grund der Nichtbetrachtung) der Musikwerke hier so sehr auf die Anwendung der Technik reduziert wie in den Werken seit Schönberg.


    Ich habe in einem anderen thread auch schon eingeräumt, dass ich meistens gar nicht weiß, ob ein Stück zwölftönig ist und wenn wie streng.


    Diese Konzentration auf die Technik scheint ein grobes Mißverständnis zu sein, vor dem indes auch Anhänger Schönbergs nicht gefeit waren (bei Gegnern gleich welcher Musik ist man ja gewöhnt, dass diesselben Stücke nachdem, wie es paßt, mal als "Chaos" oder aber als "sterile Algebra" bezeichnet werden). Es gibt einen interessanten Brief (diejenigen, die Zugriff auf so etwas haben, mögen Details liefern) von Schönberg an Kolisch. Kolisch hatte sich offenbar der Mühe unterzogen, aus einem Werk Schönbergs (IIRC ein Quartett, das er aufführen wollte) die Reihen, ihre Transformationen usw., kurz das gesamte technische Gerüst herauszuarbeiten. Schönberg äußert sich sehr verwundert und hält solch eine Prozedur anscheinend selbst für den ausführenden Musiker für ganz überflüssig. Noch weniger muß also der Zuhörer so etwas tun. Er muß sich ja auch nicht Rechenschaft über die statischen Prinzipien ablegen können, die einer Kathedrale zugrunde liegen...


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Das ist richtig, auch Webern legte beim Einstudieren seiner Klaviervariationen vor allem auf Ausdrucksnuancen Wert und verriet nichts darüber, wie das Stück gemacht ist.


    Ich selbst begnüge mich ja auch mit den Begleitheftaussagen, was aber sicher problematisch ist, da diese offenbar immer wieder falsch sind. Bei Kreneks Lamentationes finde ich es schon interessant, dass er mit diatonisch fortschreitenden (das hört man) Reihen-Teilen (hört man das?) arbeitet. Wenn ich das Stück anhöre, denke ich nicht daran, dass das nicht streng zwölftönig ist, sehr wohl aber ist mir permanent klar, dass das keine frei komponierte Musik ist sondern eine mit Reihen arbeitende.


    Für eine Diskussion hier ist es sicher nicht sinnvoll zu verlangen, dass jeder Rücksicht darauf nimmt, ob ein Stück streng zwölftönig ist oder eine modifizierte Technik verwendet, da nämlich dann nur mehr ein bis zwei Diskussionsteilnehmer mitreden können (Edwin und BBB? - ich nicht).


    Im Grunde kann man doch meinen Threadtitel sowohl auf strenge wie auch auf weniger strenge Anwender des Zwölfton-Gedankenguts ;) anwenden. Selbst Schönberg, Berg und Eisler haben immer wieder gegen die "Zwölftonregeln" verstoßen, ich nehme doch an, dass kaum ein heute ernstgenommener Komponist nie dagegen verstoßen hätte. Der Vorwurf des epigonalen Handwerkers kann ja auch jemandem gemacht werden, der die Technik etwas modifiziert.

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  • Hallo Kurzstueckmeister!


    In Wagners "Meistersingern" steht über Regeln der Satz "Ihr stellt sie selbst und folgt ihr dann". Das ist ein recht gutes Motto. (Übrigens auch für Zwölftonmusik...!)


    Soll heißen: Eine Diskussion, in der die Begriffe von vorne herein diffus sind, bringt wenig. Wenn Du den Begriff der Zwölftönigkeit so weit faßt, erkläre ich Benjamin Brittens "Death in Venice" zur Zwölftonoper - ich kann nämlich mit der Partitur unschwer nachweisen, daß Britten zwar nicht durchwegs (wohl aber partiell) mit Reihen gearbeitet hat, relativ konsequent aber zwölftönige Felder bildet insoferne, als ein Feld das andere auf ein chromatisches Total ergänzt.


    Ebenso wäre das Spätwerk von Schostakowitsch auf die Bildung der chromatischen Totale zu untersuchen.


    Und flugs wechseln damit zwei in der Regel als konservativ ausgegebene Komponisten ins Lager der Zwölftöner.


    Wogegen ich prinzipiell nichts habe, da mir das musikalische Ergebnis immer noch wichtiger ist als die Technik, mit der es erzielt wird. Nur steht dann IMO der ganze Thread unter einem unrichtigen Vorzeichen. Denn mit "Wiener Schule" meint man eben entweder die Atonalität oder die Zwölftontechnik im Schönberg'schen Sinn und nicht das Hauer'sche Verfahren und ebenso wenig die Methoden der Skrjabin-Nachfolger.


    LG

    ...

  • Hm, klingt plausibel, nur stellt sich die Frage, wo man die Grenze zieht, und die stellt sich sowieso, denn wenn man jedes Werk mit einem Verstoß gegen die Regel ausschließt, wären Schönbergs Orchestervariationen schon keine Zwölftonmusik mehr, weil da das BACH-Motiv vorkommt, das aber nicht zur Reihe gehört, stimmt's?

  • Stimmt nicht ganz; wenn ich meinem Lehrer Richard Hoffman glaube, der das Werk immerhin mit Schönberg selbst analysierte, kann das b-a-c-h-Thema aus der Grundgestalt, Töne 2-5 abgleitet werden, wobei allerdings zwei Töne umgestellt werden müssen.


    Wobei natürlich Schönberg und vor allem Berg sich größere Freiheiten im Umgang mit der Reihe genommen haben. Allerdings gehen sie von einem reihentechnischen Verfahren aus. Und das ist für mich eben der Unterschied: Gibt es eine Reihe - eventuell mit der Möglichkeit von diversen Manipulationen innerhalb des Ablaufs -, dann ist es für mich die Tradition der "Wiener Schule".


    Gibt es die Reihe aber nur als Motiv-Reservoir, das frei gehandhabt wird (etwa in Brittens "Turn of the Screw"), würde ich ebensowenig von einer ästhetischen Nähe zur Wiener Schule sprechen, wie wenn es gar keine Reihe gibt, sondern lediglich das Prinzip, innerhalb eines mehr oder minder eng begrenzten Abschnittes eine zwölftönige Totale zu bilden.

    ...

  • Ja, so hätte ich das wohl auch verstanden.


    Ich werde mir nochmal das 4.(?) Streichquartett von Bialas anhören, in dessen langsamem Satz sehr schön die zugrundeliegende Reihe präsentiert wird (da höre ich die 12-Ton-Reihe, von der man sehr gut merkt, dass sie auch die anderen Sätze bestimmt - die Frage ist freilich wie - ich würde annehmen, dass allmählich in der Reihe fortgeschritten wird, wobei aber immer mehrere Töne "aktuell" sind - das hätte ich noch als "zwölftönig" durchgehen lassen (ein Zwölftonfeld natürlich nicht).


    Ebenso die Streichquartette 2, 3, 4 und 6 von Dessau (hoffentlich sind das die richtigen Nummern). Während 2 vielleicht wirklich etwas uninspiriert ist (trotz sehr schöner Stellen!), fasziniert mich 6 schon, nur ist das so "punktuell", dass ich nicht werde hören können, obs 12-tönig ist ...

  • Aha, da kennen wir offenbar unterschiedliche Werke, in denen die Komponisten unterschiedlich gearbeitet haben!
    Die Bialas-Streichquartette kenne ich überhaupt nicht. Meine Bialas-Erfahrungen beruhen auf den Opern "Der gestiefelte Kater" und "Aus der Matratzengruft", der "Musik für Klavier und Orchester", den "Meyerbeer-Paraphrasen" und den Haydn-Fantasien "Der Weg nach Eisenstadt". In diesen Werken ist es so, dass die Zwölftonreihe zwar fallweise exponiert, dann aber sofort in Gruppen aufgesplittert wird, die ihrerseits wieder neue Ableger erzeugen und so weiter. Es herrscht also eine permanente Metamorphose, nicht die seitens der Wiener Schule angestrebte Materialdisziplin.


    Dessau ist insoferne ein Parallelfall, als ich seine Kammermusik nicht kenne. Wenn man den eher neoklassizistisch komponierten "Lukullus" ausnimmt, stehen seine Opern wohl auf der Basis von Reihen, aber auch sie werden nicht in Schönberg'scher Disziplin gehandhabt, sondern eher aufgebrochen und mit diatonischem Material absichtlich "korrumpiert".
    In "Lanzelot" und "Einstein" kommen zahlreiche begrenzt aleatorische Elemente hinzu, und, speziell im "Einstein", Zitate, die teilweise Fremdkörper bleiben, teilweise aber auch auf die sie umgebende Musik Einfluss nehmen.
    "Leonce und Lena" ist hingegen eher punktuell komponiert, was die verwendete Technik anlangt, würde ich eine Partitur brauchen, um dahinter zu kommen.


    Eines der Markenzeichen Dessaus ist für mich das Gegenüberstellen von völlig tonalen Abschnitten und reihengebundenen (wobei die Reihen nicht immer zwölftönig sind und auch stark manipuliert werden) - etwa in der Kantate "Appell der Arbeiterklasse", in deren Finale übrigens die Tonfloskel es-e-d thematische Funktion bekommt, soll wohl SED heißen...
    In einer der Orchestermusiken (leider weiß ich jetzt ad hoc nicht, in welcher) schreibt Dessau zwölftönige Eckteile (wobei auch hier die Reihenmanipulation sehr weit geht), aber einen völlig tonalen, von keinerlei Reihenelement ableitbaren Mittelteil. In einer anderen Orchestermusik überlagert er den tonalen Mittelteil mit Fragmenten der Reihe, die wie Einwürfe plötzlich auftauchen.


    Etwas Derartiges ist der Schönberg-Schule völlig fremd. Selbst Berg bindet seine Zitate und tonalen Einschübe thematisch an die Reihe. Was schließlich zu den seltsamen Auswüchsen der "Handwerker" führte, die stolz darauf waren, mit der Zwölftontechnik eine Musik zu schreiben, die man nicht primär mit ihr in Verbindung bringen würde, also etwa Jazz oder Choräle oder Variationen über ein sehr bekanntes Thema, das am Schluß so triumphierend wie reihengebunden wieder auftaucht. Ich denke etwa an Giselher Klebe.


    Solche Komponisten würde ich als die wenig inspirierten Epigonen und Handwerker bezeichnen, während Dessau, Bialas etc. keineswegs epigonal verfahren, sondern (zumindest in den mir bekannten Werken) das System auf eine Weise ausbauen, die zumindest ich nicht mehr im Umfeld der Wiener Schule sehe.

    ...

  • Hallo,


    vielleicht kann mir ein Wissender mal beschreiben, wie die Musik von Paul-Heinz Dittrich, einem Dessau-Schüler, in Hinblick auf die Wiener Schule zu werten ist.
    Dittrich ist einer von wenigen zeitgenössischen Komponisten, von denen ich einmal live die Arbeit vorgestellt bekommen habe. Das ist aber schon etwas her, sodass ich nur noch eine ungefähre Ahnung des Musikstils behalten habe.



    Gruß, Peter.

  • Hallo Peter!
    Ich kenne von Dittrich ein einziges Werk, nämlich "Engführung", und das würde ich weniger in die Tradition der Wiener Schule stellen als in die von Pierre Boulez.
    Wobei man natürlich sagen kann, daß auch Boulez ohne Schönberg und Webern undenkbar wäre. Allerdings denkt Boulez die Wiener Schule weiter und verbindet sie mit Ideen von Messiaen und Cage, wodurch am Wiener-Schule-Stamm quasi ein neuer Ast entsteht, und ein Zweig dieses neuen Astes ist Dittrich (zumindest in der "Engführung").
    LG

    ...

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    [...] während Dessau, Bialas etc. keineswegs epigonal verfahren, sondern (zumindest in den mir bekannten Werken) das System auf eine Weise ausbauen, die zumindest ich nicht mehr im Umfeld der Wiener Schule sehe.


    Lieber Edwin,


    vielen Dank für die so ausführliche Antwort (und die Motivation, etwas konzentrierter auf Details zu hören und dabei im Auge zu haben, was das mit der Reihe zu tun haben könnte ...)


    Das Bialas-Quartett ist jedenfalls das 2. (von 1949) und wohl auch kein Zwölftonwerk. Es wird einem zwar die Reihe als "Auflösung" präsentiert, aber was er vorher macht, ist wohl nicht das, was ich vermutet habe, da wird wohl eher abgespalten und mit den Motiven daraus gespielt, ohne dass die jeweils fehlenden Teile der Reihe auch immer nachkommen würden. Das geht aber im ersten Satz sehr rhythmisch und schwungvoll vor sich, klingt eher nach Bartok und motiviert den Hörer natürlich nicht, Reihentöne zu suchen ...


    Bei Bialas habe ich mich wohl geirrt, Dessau bleibt für mich noch offen, da die genannten Streichquartette (im Gegensatz zu den anderen) keine tonalen Anspielungen machen.


    :hello: