Mit Ohren von heute - Klassische Musik ein museales Vergnügen (?)

  • Liebe Forianer


    Seit einiger Zeit bastle ich an einem Thread, der sich mit dem musealen oder auch historischen Element in der klassischen Musik auseinandersetzen soll - aber ich konnte keinen Einstieg zustandebringen.
    Gestern hatt das Johannes Roehl ungewollt und unbewusst für mich erledigt, als er nämlich als Argument für eines seiner Urteile anführte, er höre mit "heutigen" Ohren - er habe keine anderen.
    Heureka - das Thema ist startbereit.


    Nun zunächst habe ich auch nur heutige Orhen, die keineswegs aus dem Jahre 1780 stammen - dennoch klingt mir fast alles was damals komponiert wurde,vertrauter und vor allem gefälliger, als das was heutzutage komponiert wird. Auch wenn einerseits stolz verkündet wird, man habe die Tonalität aufgegeben - neue Wege in der Musik seien unumgänglich - meine Ohren - gebaut im 20. Jahrhundert - sind da anderer Meinung. Wenn ich es mir recht überlege haben mich sowohl die klassische Musik (des 17- 19. Jahrhunderts) als auch die Malerei (des 16. und 17. Jahrhunderts) GERADE DESHALB für sich eingenommen, WEIL sie unserer hässlichen Gegenwart (ich beziehe mich hier im besonderen auf Kunst jeder Form) so entrückt scheinen - bzw es auch sind.
    Natürlich weiß ich die Vorzüge des 20. bzw 21. Jahrunderts durchaus zu schätzen - Fortschritte in der Medizin, der Tontechnik, bequemes Reisen (wenngleich ich das kaum nutze) und TV, Computer,Tonfilm, Internet etc etc - in der Kunst fliehe ich diese Zeit.


    Das ist nun eine durchaus persönliche Entscheidung - darüber kann man schwer diskutieren. Worüber mann allerdings diskutieren kann ist, inwieweit sich ästethische Vorstellungen vergangener Jahrhunderte in unsere Zeit übertragen lassen, bzw welchen Stellenwer sie haben - und warum.
    Ich glaube jeder sieht das anders. Ich persönlich glaube nicht besonders an zeitlose Themen, die man eventuell adptieren kann, sondern an gewisse Stimmungen die man übertragen kann. So bin ich beispielsweise, wenn ich im Wiener Musikverein sitze - während eines Konzertes ein bürgerlicher Hörer des späten 19. Jahrhunderts.
    Der große ("goldene") Saal hat sich seit seiner Eröffnung im Jahre 1870 baulich kaum verändert - die Gegenwert ist ferne - ich genieße meinen Beethoven, wie ein Hörer es vor ca 135 Jahren tat. Die Zeit ist nicht mehr existent- übrigens ein weiteres Plus für die klassische Musik.
    Desgleichen in der Oper - hier ist es nicht mehr so einfach - haben doch unsere Freunde die Amerikaner das wunderschöne Haus augebombt - der Zuschauerraum strahlt seither den "Charme" der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts aus, weil das Geld und der Wille zur vollständigen Wiederherstellung ( wie sie in Dresden so mustergültig realisiert wurde) nicht vorhanden war. - Immerhin - die Akustik ist hervorragend - und die Inszenierungenen waren erfreulich konservativ.
    Wobei man sich dabei wahrscheinlich ein falsdches Bild macht - Es waren keine "staubigen Kostüme und Kulissen zu sehen - nein die Bühnen- und Maskenbildner zauberten um ein Vermögen Hollywoodreife Ausstattungen auf die Bühne - immer realistischer und immer luxuriöser und teurer. Über die musikalische Qualität rede ich nichts, die war sowieso über jeden Zweifel erhaben bei - ca 500.000 kolportiertenEuro Defizit pro Tag (in den 70er Jahren)


    Oder reden wir vielleicht doch drüber -
    und stellen wir uns die Frage: Was soll an "heutigen Ohren" anders sein, als an jenen vor 150 - 200 Jahren. Allenfalls sind wir kritischer geworden was Intonation anbetrifft - die Schallplatte hat uns verwöhnt.
    Aber Champagner kitzelt unseren Gaumen genauso wie vor 200 Jahren - ein Fasan im Speckhemd ist sicher einem Dreckburger vorzuziehen - und nach Beethoven kam zwar noch einiges Interessante - erreicht wurde er jedoch kaum je mehr.


    Ich weiß- ich habe noch lange nicht alle Apekte dieses Themas angesprochen - aber das wird sich im Laufe des Threads ergeben.


    mfg
    aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zitat


    Nun zunächst habe ich auch nur heutige Orhen, die keineswegs aus dem Jahre 1780 stammen - dennoch klingt mir fast alles was damals komponiert wurde,vertrauter und vor allem gefälliger, als das was heutzutage komponiert wird.


    Was im Jahr 1780 komponiert wurde, klang für den Hörer des Jahres 1780 nicht vertraut, oder? Vielleicht auch nicht immer gefällig.
    Was bedeutet schon "gefällig"!? Wenn ich ein Kunstwerk produziere, in dem mein Herzblut steckt und jemand sagt dann: "Ei, wie gefällig!" - das würde mich ernsthaft verunsichern! Das ist wie wenn die Frau Deiner Träume zu Dir sagt: "Du bist nett!", obwohl man hören will: "Du machst mich total an, Du bringst mich um den Schlaf!"
    Genau das ist es auch, was mir meine Ohren (eindeutig auch Ohren von heute) immer sagen: "Wir wollen einen Hör-Orgasmus erleben und nicht nur ein bißchen kuscheln!"
    Darum schieb ich es immer auf meine Ohren, dass ich mal in der Frankfurter Oper saß und mich in der "Zauberflöte" gelangweilt hab, während mich "Das verratene Meer" von Henze so begeistert hat, dass ich drei Mal rein bin.
    Könnte es sein, dass vieles, was damals eine gewürzte Harmonik aufwies, auch nach gewürzter Harmonik klang, aber für heutige Ohren nur noch nach einem Meer aus endlosen Konsonanzen?
    Lieber als den Fasan, den Du erwähntest, esse ich extrem scharfes Thai-Curry. Das ist auch Prägung.
    Wie hätte denn ein Hörer aus Mozarts Zeit reagiert, wäre er mit Mussorgsky konfrontiert worden? Wenn sich in diesen wenigen Jahren das Hören so verändert hat, dann doch in 200 Jahren um so mehr...
    Ein wichtiger Aspekt des Themas scheint mir noch zu sein, dass es neben Fasan in Schinken mit Rosmarinsößchen und gutem Champagner mit frischen Walderdbeeren auch noch Kohlsuppe und Kartoffelwodka gibt.
    Anders: Es gibt verschiedene Universen, in denen Menschen der gleichen Welt zuhause sind. Was die einen bewegt, ist für die anderen bedeutungslos und umgekehrt. Musik hat mit Gefühlswelten zu tun und die sind nicht nur abhängig von der Zeit, in der jemand lebt, sondern auch davon, wie er lebt, was seine Freuden und was seine Sorgen sind und warum er zu leben glaubt (Beispiel: Eine Messe wird nie von einem Christen und einem Atheisten "gleich" gehört werden können, Schuberts "Winterreise" wirkt auf einen Menschen mit Liebeskummer anders als auf den reinen "Genießer"). Ich bezweifle, dass Beethovens zeitgenössischen Verehrer in der gleichen Gefühlswelt lebten wie viele seiner heutigen, denn das würde bedeuten, dass er kein Revolutionär war und ich glaube, er war einer!

  • Hallo Alfred,


    ich kann Myschkin nur zustimmen. Unser "Hörhorizont" umfaßt aufgrund von Schallplatten, CDs, DVDs etc.(zumindest theoretisch) fast die gesamte aufgezeichnete Musikgeschichte, auch wenn sich die meisten Aufnahmen wohl auf die Zeit von ca. 1700 bis 1900 konzentrieren. Wir sind nicht allein auf aktuelle Kompositionen oder den Geschmack von Impressarios oder Konzertveranstaltern angewiesen, sondern können frei wählen, was wir hören.


    Diese riesige Wahlfreiheit ist aber eben nur durch die Technik möglich. Zuhörer um 1780, wenn sie denn das Glück hatten, überhaupt zu einem Konzert gehen zu können, bekamen in fast allen Fällen nur zeitgenössische Musik zu hören. Stücke wurden für einen bestimmten Anlass komponiert, aufgeführt und dann vielleicht noch ein paar Mal gespielt (Ausnahmen bestätigen die Regel). Somit wusste das Publikum also kaum von anderer Musik, die nicht öffentlich aufgeführt wurde, der damals mögliche "Hörhorizont" war wesentlich eingeschränkter als der heutige. Und somit war der Geschmack und die Beurteilung von Werken immer sehr zeitbedingt.


    Musikalische Größe und Bedeutung kann man einem Werk nur beimessen, wenn man Vergleichsmöglichkeiten hat. Daher verwundert es auch nicht, wenn Mozart zu seiner Zeit nicht so geschätzt wurde wie später, dass Beethovens populärstes Werk damals "Wellingtons Sieg" war, Berlioz für verrückt erklärt wurde und Wagners Opern in Karikaturen als Körperverletzung dargestellt wurden. Eben das ist ja auch das Problematische an der HIP-Bewegung. Die Aufführungsbedingungen vergangener Zeiten lassen sich wohl bis zu einem gewissen Grade nachvollziehen, nicht aber die Rezeptionsbedingungen. Auch wenn wir die Gegenwart aus ästhetischen Gründen ablehnen und auszublenden versuchen, bleiben wir doch zeitgenössische Menschen mit dem Bewußtsein eines Menschen der Gegenwart. Wir können uns vielleicht zuhause mit Stilmöbeln einrichten, Seidentapeten spannen und den ganzen Tag in Livree herumlaufen - das Wissen der Gegenwart bekommen wir dennoch nicht aus unserem Kopf, denn ein Gedanke, der einmal gedacht wurde, läßt sich nicht mehr zurücknehmen. Selbst wenn wir dagegen ankämpfen, wir können unserer Zeit nicht vollständig entkommen. Und daher sind unsere Ohren nicht die Ohren von 1780, 1850 oder 1910, sondern die von 2006. Alles andere ist eine (wenn auch für manchen angenehme) Illusion.


    Viele Grüße


    GiselherHH

    "Mache es besser! (...) soll ein bloßes Stichblatt sein, die Stöße des Kunstrichters abglitschen zu lassen."


    (Gotthold Ephraim Lessing: Der Rezensent braucht nicht besser machen zu können, was er tadelt)

  • Mir kommt es so vor als würde den HIP Liebhabern und Ausführenden hier etwas unterstellt, was so bestimmt nicht der Fall ist.


    Also ich höre barocke Musik nicht um meiner Zeit zu entkommen sondern vielmehr weil sie mir einfach in ihrer Vielgestaltigkeit gefällt.
    Der Ansatz der historischen Aufführungspraxis ist auch einfach nicht damit beschrieben, dass es darum geht etwas zu rekonstruieren wie es damals gewesen ist.
    Wenn jemand eine Rekonstruktion versucht dann ist das Blödsinn, denn soetwas wäre vollkommen unmöglich da niemand wissen kann wie damals etwas wirklich geklungen hat, aber dieses Thema hatten wir ja schon öfter. Die heutige Ästhetik wird man niemals außen vor lassen könen.
    Ich bin sogar davon überzeugt, dass diese Musik zu ihrer Zeit so gespielt wurde, dass viele Heute die Nase rümpfen würden....
    Es geht wohl vielmehr um das nachempfinden einiger bestimmten Aufführungs - Ansätze und das Erleben in Vergessenheit geratener Instrumente.
    Ein wichtiger Teil davon ist die Improvisation, damals vollkommen üblich und selbstverständlich überlebte diese Kunst nur noch im Jazz.
    Wenn also Heute alte Musik gespielt wird ist das absolut zeitgenössische Musik, für mich ist es eher ein museales "Vergnügen" wenn ich mir Aufnahmen aus den 30er oder 40er Jahren anhöre, das ist wirkliche Geschichte, von wann die Noten sind ist doch eigentlich Egal.


    Ich trage weder einen Luvree noch male ich im Barockstil weil ich mit der jetzigen Epoche unzufrieden bin. (demnächst werde ich dazu nochmal in der Kunstecke etwas ausführlicher Stellung beziehen)


    Im Grunde ist alles eine Frage der persönlichen Bereitschaft sich auf etwas einlassen zu können. Ich habe meinen Spaß bei den Balletten von Lully, ich höre mir mit Vorliebe vorchristliche Gesänge an und habe selbst eine gewisse Freude an den wirklichen Abstrakten Sachen der Gegenwart. Für mich ist jede Kunst mit der ich mich beschäftige zeitgenössisch, denn ich erlebe sie jetzt. Das hat niemals etwas museales sondern ist eine ständige sinnliche Erfahrung und eine Erweiterung des eigenen Horizonts



    Alte Musik wurde im Barock gespielt und gesungen!
    Die Gregorianik wurde an vielen Stellen wieder gepflegt. Louis XIV ließ sich öfter Konzerte geben mit Musiken aus früheren Zeiten (man beachte die Philidor Manuskripte die reichen bis zur zeit Francois I. zurück) In England wurde die Academy of Ancient Music gegründet um ab und zu ältere Musiken zu spielen.
    Aber ich denke das damals die Musik einen anderen Stellenwert hatte als Heute. Ich würde das vielleicht mit dem Kino in unserer Zeit vergleichen.
    Und das die Musik unserer Epoche generell unästhetisch sei, dem muß ich vehemt widersprechen. Es gibt Heute dermaßen viele Strömungen, dass jeder! etwas finden würde.
    Mir würde es nie einfallen etwas abzulehnen bevor ich es gehört oder gesehen habe.
    Aber wir haben einen der größten Vorteile in der Geschichte, wir haben die absolut freie Auswahl und ich glaube niemals zuvor war das kulturelle Angebot größer als Heute.


    Ich bin froh Heute zu leben und möchte keines Falls in einer anderen Zeit leben. Für mich ist das Hören von alter Musik keine Mittel um mir eine illusionäre Welt zu erträumen sondern einfach ein Ausdruck meines persönlichen Geschmacks und meiner Gefühlswelt.


    Und ich kann Myschkin nur beipflichten, wenn ich etwas male und bekomme dann zu hören, "ach wie schön" etc., dann bin ich kurz davor es zu verbrennen.
    Entweder muß es begeistern oder faszinieren von mir aus auch abstoßen, aber gefällig zu sein ist eine Beleidigung für jeden Künstler.
    "Ganz nett" ist das schlimmste was man überhaupt in so einem Bezug sagen kann.

  • Salut,


    ich werfe ein paar Unverschämtheiten ein:


    Zitat

    Aber Champagner kitzelt unseren Gaumen genauso wie vor 200 Jahren - ein Fasan im Speckhemd ist sicher einem Dreckburger vorzuziehen - und nach Beethoven kam zwar noch einiges Interessante - erreicht wurde er jedoch kaum je mehr.


    Allgemein ist die Klassik eine Bezeichnung für kulturelle Höhepunkte [ergoogelt zum Thema "Weimarer Klassik"].


    Zitat

    Mit Ohren von heute


    Ich glaube nicht, dass sich die Bauweise des Ohres im Verlaufe von 200-300 Jahren verändert hat. Wenn, würde ich behaupten, dass ide Ohren heute schlechter geworden sind, denn vor 200-300 Jahren konnte man z.B. die geübten Violinsonaten nicht aufzeichnen und selbstkritisch anhören, um sie zu verbessern. Man war wirklich auf das eigene [innerste] Ohr angewiesen - ggfs. auf die Aussagen von "Außenhörern" mit Erfahrung.


    Und wenn dem so wäre, dass das "moderne" Ohr geradezu gemacht ist für "moderne Musik" - dann müsste es diese allgemeingültig als "gefällig" hören. Das tut es aber nicht, es gewöhnt sich höchstens daran.


    "Gefällig" ist für mich keine Abwertung für Musik, denn das Wort drückt aus, dass es gefällt. Das, was gefällt, hört [oder sieht] man sich ja dann öfter an - und das ist Sinn des Gefallenwollens - im Gegensatz zu "Gewöhnlichem", das man zwar ertragen kann, aber nicht weiter beachten wird.


    Natürlich wird jeder Komponist, Maler oder Dichter versuchen wollen, über das Gefällige hinaus zu kommen - das ist aber sehr lobenswert, aber auch sehr schwierig. Alle "großen" Komponisten, Maler und Dichter haben dies offenbar [jedenfalls teilweise] geschafft. Und nicht nur Matthias ist der einzige, der gerne ein Werk verbrennen würde - Beethoven hat sich selbst verächtlich über frühere Werke geäußert, Mozart hat die seinen aber noch gezielt eingesetzt [bzw. einsetzen können]. Auch der Schritt vom Gewöhnlichen zum Gefälligen ist ein kleiner, aber man muß ihn tun.


    Man kann natürlich nicht gehippte Barockmusik hören und diese dann mit alten Begriffen wie z.B. "gefällig" in moderner Bedeutung beschreiben... :rolleyes:


    Praxisbeispiel:


    Heute schreit de zornesrote Mama: "Du hast jetzt gefälligst zu kommen..." - hier hat das Wort "gefälligst" einen äußerst aggressiven Beigeschmack, es wird auch nicht gerne gehört. Vor 200-300 Jahren war aber "gefälligst" der Superlativ von "gefällig" - - - "Er hat gefälligst zu erscheinen..." war eine sehr unterwürfige Aufforderung an das Gegenüber, er solle also erscheinen, wenn es ihm aufs äuerste gefällt...


    Wenn man diese Rückkehr zur alten Sprache ablehnt, dann macht auch HIP keinen Sinn.


    Wenn nun also Matthias es als widerwärtig empfindet, wenn man seine Kunst [im heutigen Sinne] als gefällig bezeichnet, verstehe ich das einerseits durchaus. Andererseits ist es ein Indiz dafür, dass sich das Ohr bzw. das Empfinden im allgemeinen kaum verändert hat. Z.B. war es auch gefällig, die frz. Sprache zu benutzen - es war geschickt. Das bedeutet aber nicht grundsätzlich, dass es intelligent war, sondern "es schickte sich". Man brauchte keine Intelligenz dafür, sich dimplomatisch zu verhalten.


    Trés amusement.


    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

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  • Zitat

    Original von der Lullist
    Mir kommt es so vor als würde den HIP Liebhabern und Ausführenden hier etwas unterstellt, was so bestimmt nicht der Fall ist... Der Ansatz der historischen Aufführungspraxis ist auch einfach nicht damit beschrieben, dass es darum geht etwas zu rekonstruieren wie es damals gewesen ist.
    Wenn jemand eine Rekonstruktion versucht dann ist das Blödsinn, denn soetwas wäre vollkommen unmöglich da niemand wissen kann wie damals etwas wirklich geklungen hat, aber dieses Thema hatten wir ja schon öfter. Die heutige Ästhetik wird man niemals außen vor lassen könen.


    Einige HIP-Ausführende sind aber offenbar schon der Meinung, mit der Originalklang-Ästhetik der damaligen Aufführungspraxis sehr nahe zu kommen. Im Begleitheft zur Gesamtaufnahme der Beethoven-Sinfonien unter J. E. Gardiner kann man unter der Überschrift "Im Geiste der Wiederentdeckung" u. a. Folgendes lesen:


    "Unsere Hörvorstellung von Beethovens Symphonien (...) wurde durch die historische Aufführungspraxis revolutioniert. Wesentlich für die Beurteilung der Originalität Beethovenscher Orchestersprache ist die Kenntnis des Orchesterklangs des 19. Jahrhunderts. Bei historischen Instrumenten sind Klangfarbe und Tongebung direkter, rauher und härter. Die Klang-Individualität der einzelnen Instrumente wurde im 19. Jahrhundert nicht dem Verlangen nach einem volleren, reicheren oder samtenen Klang geopfert (...) Das ganze Projekt sollte etwas von der rauheren Wesensart, vom Ungezähmten einer voll ausgereiften Aufführung jeder einzelnen Symphonie wiedererstehen lassen (...) Mit dieser neuen Einspielung hoffen wir - ganz im Sinne unserer ´Wiederentdeckung´ - die Hörer in die Zeit zurückzuversetzen, als diese Musik in die Welt der Helden, Kriege und Revolutionen einbrach und sich eine eigene Welt des Erhabenen und Unbeschreiblichen schuf."


    Um es zu betonen: Ich habe wirklich nichts gegen HIP und halte sie auch für eine notwendige Alternative zum traditionell romantischen Orchesterklang, der bis in die 1980er Jahre hinein dominierte. Was mich dabei stört, ist diese manchmal nicht nur unterschwellig zu spürende quasi-jakobinische Selbstgewißheit, man sei gleichsam schon durch eine an historische Aufführungspraxis angelehnte Spielweise und das Studium der Originalhandschriften im Besitz des Steines der Weisen und alle anderen bis dato unternommenen Versuche mit "korruptem" Notenmaterial seien dadurch hinfällig geworden. HIP ist aber nur eine von vielen möglichen Herangehensweisen. Durch Verwendung von Originalinstrumenten und Praktizierung historischer Spielweisen ist man der Aufgabe, eine sinnvolle Interpretation eines Werkes abzuliefern, nicht enthoben.

    "Mache es besser! (...) soll ein bloßes Stichblatt sein, die Stöße des Kunstrichters abglitschen zu lassen."


    (Gotthold Ephraim Lessing: Der Rezensent braucht nicht besser machen zu können, was er tadelt)

  • Zitat

    Original von GiselherHH
    Durch Verwendung von Originalinstrumenten und Praktizierung historischer Spielweisen ist man der Aufgabe, eine sinnvolle Interpretation eines Werkes abzuliefern, nicht enthoben.


    Danke!


    :jubel:


    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Zitat

    nach Beethoven kam zwar noch einiges Interessante-erreicht wurde er doch kaum je mehr.


    Hallo.
    ich glaube nicht,daß es in der Musik notwendig ist,daß ein
    Komponist einen anderen erreicht.Monteverdi,Bach,Mozart,
    Schubert,Wagner,Verdi,Brahms,u.s.w.sind allesamt unerreicht,
    weil alle ihre eigene Musiksprache hervorbrachten.


    Gruß Herbert.

    Tutto nel mondo è burla.

  • Giselher u.a haben bereits das Wesentliche gesagt. Es ist einfach keine Entscheidung, die uns offen stünde, anders als mit unseren heutigen Ohren zu hören. Man kann Wagner, Strauss und noch spätere Musik ruhig ausklammern, Vertrautheit mit Berlioz, Chopin und Brahms reicht aus, um Mozart oder Beethoven nicht mehr wie die Zeitgenossen wahrnehmen zu können. Auch der Bürger im neueröffneten Saal in Wien 1880 hörte Mozart und Beethoven anders als z.B. Hoffmann 1810, nämlich bereits als etablierte Klassiker, nicht als "rein romantische" Musik, die Unaussprechliches aus einem Geisterrreiche verkündet.
    Man muß als Hörer darauf hinarbeiten, um den Beginn von Beethovens erster Sinfonie als kühne Dissonanz wahrzunehmen bzw. muß die Interpretation die Spannung dieser Einleitung herausarbeiten, weil es für uns einfach keine sehr spannungsreichen Harmonien mehr sind und wir uns auch nicht an der Dominanz der Bläser stören. Schon mit der Kenntnis der Eroica kommen uns die ersten beiden Sinfonien eher harmlos vor, was sie dem Premierenpublium keineswegs waren. Hören wir sie als gefällige Musik, hörne wir etwas ganz anders als die Zeitgenossen.
    Wir können die Reaktion seinerzeitigen Publikums angesichts Beethovens großer Fuge op.133 oder Berlioz' "Hexensabbat" vielleicht noch nachvollziehen, aber wie sollen wir verstehen, dass Beethovens Rasumovsky-Quartette als "keine Musik" bezeichnet wurden, dass ein jüngerer Komponist wie v. Weber Beethoven nach Hören von dessen 7. Sinf. als irrenhausreif bezeichnete. Selbst die extremste Interpretation heute wird uns keinen solchen Eindruck mehr vermitteln!
    Ich kopiere hier aus dem Projekt Gutenberg einige Ausschnitte aus Klopstock (die ersten besten, ich habe keine Ahnung von diesem Dichter),
    empfinden wir Mozarts Musik heute als derart dunkel und düster, archaisierend?


    Die Gestirne


    Es tönet sein Lob Feld und Wald, Tal und Gebirg,
    Das Gestad hallet, es donnert das Meer dumpfbrausend
    Des Unendlichen Lob, siehe des Herrlichen,
    Unerreichten von dem Danklied der Natur!


    Der Frohsinn
    (1784)


    Voller Gefühl des Jünglings, weil' ich Tage
    Auf dem Roß', und dem Stahl', ich seh des Lenzes
    Grüne Bäume froh dann, und froh des Winters
    Dürre beblütet.


    Und der geflohnen Sonnen, die ich sahe,
    Sind so wenig doch nicht, und auf dem Scheitel
    Blühet mir es winterlich schon, auch ist es
    Hier und da öde.


    Wenn ich dieß frische Leben regsam athme;
    Hör' ich dich denn auch wohl, mit Geistes Ohre,
    Dich dein Tröpfchen leises Geräusches träufeln,
    Weinende Weide.


    Nicht die Zipresse, denn nur traurig ist sie;
    Du bist traurig und schön, du ihre Schwester,
    O es pflanze dich an das Grab der Freund mir,
    Weide der Thränen!


    Jünglinge schlummern hin, und Greise bleiben
    Wach. Es schleichet der Tod nun hier, nun dort hin,
    Hebt die Sichel, eilt, daß er schneide, wartet
    Oft nicht der Ähre.


    Weiß auch der Mensch, wenn ihm des Todes Ruf schallt?
    Seine Antwort darauf? Wer dann mich klagen
    Hört, verzeih dem Thoren sein Ach; denn glücklich
    War ich durch Frohsinn!


    "http://gutenberg.spiegel.de/klopstoc/gedichte/"


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Hallo


    Ohren von Heute!? Es wurden auch unsere modernen Errungenschaften CD und ich will noch eine gute HiFi Anlage mit einbringen. Natürlich ein Hörgenuß.


    Neulich im Bad, mein kleiner Transitor lief. Meine Stimmung grandios ansteigend bei einem Lied aus allter Zeit. Nicht immer steigt meine Stimmung beim abendlichen Musik genießen im Sessel. Mir ist aufgefallen, dass alles mir einem inneren "Ohr" zusammen hängt. Ich meine, wie und in welcher Stimmung ich bin.


    Kann es sein, dass im 18. Jahrhundert die Menschen (öfter oder mehr) aufnahmebreiter waren als wie unsere gestressten Zeitgenossen.


    LG


    Detlef

    Werden im Wirken - Großes braucht seine Zeit

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  • Moin,


    eine gewisse Tendenz zur Zeitflucht ist heutzutage doch angesichts aller Kunst festzustellen. Ich erinnere mich noch, dass bei der Zeitschift "art" nach den Lieblingsbildern der Leser gefragt wurde. Und was kam dabei raus? Renoir an der Spitze. Nun ja. Das erinnert dann an den alten Bismarck, der am Ende seines Lebens den Hamburger Hafen besuchte und resümierte, dass dies nicht mehr seine Zeit sei.


    Ich habe damit immer schon meine Probleme gehabt. So eine Haltung ist in meinen Augen einfach Eskapismus.


    Dabei ist doch gegenwärtige Kunst deshalb etwas Besonderes, weil im Idealfall feinnervige Mitmenschen unsere Zeit und unsere Probleme sehr genau erfassen. Sich damit auseinanderzusetzen halte ich für unerlässlich. Natürlich kann das manchmal anstrengend oder nervig sein oder einen auch an die Grenzen dessen führen, was man zu verstehen glaubt. Aber nur das hält einen doch wach und lebendig.


    Auch ich bevorzuge Musik die schon lange nicht mehr kontemporär ist (Wagner, Bruckner, Mahler, Strauss); aber ich empfinde es als wichtig, sich für Gegenwärtiges Zeit zu nehmen. Andernfalls hätte ich das ungute Gefühl, mich in ein Museum meiner selbst zu verwandeln.


    Natürlich ist es in keiner Weise falsch oder kritikwürdig, sich mit - rein zeitmäßig betrachtet - vergangener Kunst zu befassen. Das tue ich auch gern und ausgiebig. Eine Unterscheidung vorzunehmen in klassische Musik, die gar nicht für jedermann gedacht ist, mithin elitär ist, und moderne Musik, die per se ordinär ist, empfinde ich jedoch, lieber Alfred, als arg verkürzt. Ebenso wie ich das Attribut "gefällig" für Kunstwerke als nichtssagend ansehe. Gefällig ist ein hübsches Tapetenmuster.


    Gruß, l.

    "Jein".

    Fettes Brot


  • Naja, insbesondere "Der Frohsinn" passt doch gut auf KV 550, oder etwa nicht?


    :yes:


    LG Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Zitat

    Original von lohengrins
    Ebenso wie ich das Attribut "gefällig" für Kunstwerke als nichtssagend ansehe. Gefällig ist ein hübsches Tapetenmuster.


    Das kommt darauf an, ob es sich um ein heute maschinell gedrucktes Massentapetenmuster, oder um ein 200 Jahre altes handgesticktes Muster auf einer Seidentapete handelt... "gefällig" ist beides.


    :baby:


    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Die Antwort muss ja und nein lauten. Wie Alfred schon sagte, kann er mit moderner Kunst des 20 Jh. nicht viel anfangen. Dies drückt sich natürlich auch im Threadtitel, der eine Liebeserklärung zur Klassik darstellt. Allein die Fragestellung zielt schon in eine Richtung.


    Darum möchte ich mal ganz bewusst sagen, dass Klassik mitunter schon sehr museal ist, was aber keine Wertung beinhaltet, schließlich liebe ich klassische Musik auch sehr. Was bedeutet museal? Das ist in der Tat eine Frage der Hörgewohnheiten. Es gibt auch Rockmusik, die durchaus schon museal ist.

    29.08.1958 - 25.06.2009
    gone too soon

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  • Ich habe natürlich bewusst das Wort gefällig verwendet - weil ich wusste, daß ich damit ins Schwarze treffe.


    Das Wort Gefällig - Ulli erwähnte es ja schon - war einer Menge Wandlungen unterworfen - ähnlich dem Wort "brav" - daß ja dereinst in etwa "tapfer" bedeutete ("Wer niemals einen Rausch gehabt - das ist kein braver Mann") -im Englischennist das heute noch so.
    Anschließend wurde draus ein Positivbegriff für artig, anständig, gut erzogen - heute wird es abwertend für jemanden verwendert, daer "angepasst" ist.
    Um also einen Text vergangener Zeiten zu verstehen, sollte man mit den sprachklichen Gepflogenheiten der Zeit vertraut sein in der der Text geschrieben wurde.


    Aber zurück zum Thema:


    Immer wieder, wenn ich "Kunst" und "Gesellschaftliche Normen" unserer Zeit sehe - habew ich den Eindruck, daß hier versucht wird, alles Schöne aus unserem Leben systematisch zu tilgen:
    Selbst harmlose Theaterstücke, die lediglich zur Unterhaltung da sind werden umfunktioniert in weltanschauliche Dogmen - stets mit einem bedrohlichen Unterton - oder dem unterschwelligen Versuch - die Weltordnung in Frage zu stellen. Das Hässliche, welches in den vergangenen Jahrhunderten - ja Jahrtausenden immer wieder versteckt, verschönert und veredelt wurde (sogar Begräbnisse gerieten zu pompösen Ereignissen !!) - heute wird es nicht nur bereitwillig gezeigt - nein man zerrt es geradezu bereitwillig ist Rampenlicht.


    Wo so gar nichts ist, was man auf diese Art umfunktionieren könnte (Werke der deutschen und der französischen Spieloper) - da wirft man das Werk dann als "veraltet" in die Mottenkiste.


    Aus meiner Sicht ist Oper eine "unrealistische" Kunstform, soll heissen , sie ist künstlich, aber gleichzeitig "überhöht" Wenn ich das 4. Mal "Rigoletto" gesehen habe, dann ist es wohl zuviel verlangt, daß ich mich vom Ausgang der Handlung überraschen lasse -Die kenne ich längst - ebenso wie den historischen Hintergrund. Was mich dann interessiert ist, wie originell (innerhalb des durch Zeit und Handlung vorgegebenen Rahmens !!!) und aufwendig die Bühnenillusion gestaltet wurde (Oper gilt als Gesamtkunstwerk !!!) bzw, wie großartig die Stimmen sind, die das realisieren.


    An eine "ewiggültige Botschaft" von Opernlibretti glaube ich indes nicht....


    mfg
    aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zitat


    Immer wieder, wenn ich "Kunst" und "Gesellschaftliche Normen" unserer Zeit sehe - habew ich den Eindruck, daß hier versucht wird, alles Schöne aus unserem Leben systematisch zu tilgen:


    Ich glaube, Dein Eindruck täuscht Dich.
    Mein Eindruck: Beethovens "Eroica" ist weit "häßlicher" als "Sur Incises" von Boulez. Überhaupt ist viel zeitgenössische Musik voller Klangschwelgereien, die einen zum hemmungslosen Genießen einladen! Dabei hat man nicht mal ein schlechtes Gewissen... und wieso sollte man auch?
    Ist nicht gerade der grimmige Beethoven mit seiner bedeutungsschweren Musik ein schlechtes Beispiel für "einfach nur schöne Musik"?

    Zitat


    Selbst harmlose Theaterstücke, die lediglich zur Unterhaltung da sind


    Unterhält einen Harmlosigkeit denn?
    Will man nicht tatsächlich lieber "Sex and Crime" sehen als konfliktlose Friede-Freude-Eierkuchen-Welten?


    Zitat


    Das Hässliche, welches in den vergangenen Jahrhunderten - ja Jahrtausenden immer wieder versteckt, verschönert und veredelt wurde (sogar Begräbnisse gerieten zu pompösen Ereignissen !!) - heute wird es nicht nur bereitwillig gezeigt - nein man zerrt es geradezu bereitwillig ist Rampenlicht.


    Denken wir an Dostojewskis "Verbrechen und Strafe" - das Buch ist voller Häßlichkeiten, es ist Weltliteratur und es ist aus dem vergangenen Jahrhundert.
    Oder nehmen wir Shakespeare (soviel menschliche Häßlichkeit in allen Werken) oder die Bibel (schon kurz nach der Schöpfung erschlägt Kain den Abel) - ich glaube, die These, dass in vergangenen Jahrhunderten das Häßliche nicht im Rampenlicht stand, ist nicht haltbar und eher eine idealisierte als eine realistische Vorstellung!


    Zitat


    An eine "ewiggültige Botschaft" von Opernlibretti glaube ich indes nicht....


    Kommt auf die Oper an, einige Libretti halte ich für relativ ewiggültig, da es bestimmte immergültige Gefühle und Konflikte gibt (Beispiel: Eifersucht, Rivalität).

  • Im Kern kreist dieser Thread doch um das alte Thema "Was ist Kunst, muß Kunst (Musik) schön sein, ist moderne Musik (Kunst) - nur, teilweise, gezielt, unabsichtlich - häßlich)", zB im Thema "Wozu moderne Musik?).


    Alfred trifft insofern mit der Bemerkung teilweise ins Schwarze, Kunst "versuche systematisch alles Schöne aus dem Leben zu tilgen. Weiter trifft er einen Kern, wenn er bemerkt, es solle die Weltordnung in Frage gestellt werden.


    Jedoch vertritt er IMHO einen verkürzten Kunstbegriff, der Kunst in die Nähe zum bloßen Kunsthandwerk rückt. Außerdem blendet er zahlreiche Erscheinungen moderner Kunst einfach aus bzw. verkürzt moderne Kunst auf einige Teilbereiche und -erscheinungen, die seine These zu stützen scheinen.


    Es stimmt IMHO, daß es ein wesentliches Ziel vieler moderner Künstler war und ist, sich vom klassischen Schönheitsbegriff, von der überlieferten Form von Kunst loszusagen und sie als überholt hinzustellen. Das gilt für die Musik so wie für die Malerei oder die Dichtkunst. Das ist aber nicht ungewöhnlich und hat es immer wieder gegeben. Neu ist das Unvermögen, etwas Gleichwertiges an ihre Stelle zu setzen. Man erschöpft sich in der Bilderstürmerei, im Brechen von Traditionen usw., während Monteverdi, Beethoven oder Debussy in der Lage waren, etwas Neues, Authentisches, Stilbildendes zu schaffen. Heute gibt es nur noch wenige Individualstile einzelner Künstler, die aus der Masse hervorragen.


    Verkürzt ist IMHO deshalb auch die Behauptung, die Kunst wolle die Weltordnung in Frage stellen. Sie ist zwar im eben bezeichneten Umfang zutreffend insofern, als Kunst immer ein Teil einer Weltordnung ist. Es gibt aber keine allgemeingültige Ordnung für alle Kulturen dieser Erde. Für uns ist die alte Weltordnung diejenige, die sich in Europa im Mittelalter auf der Basis des Christentums und der hellenischen Tradition, unter Einschluß gewisser alteuropäischer heidnischer Elemente herausgebildet hatte. Diese Ordnung hat sich jetzt erschöpft. Das ist aber weder ein Phänomen nur der Kunst, noch ist die Erschöpfung durch die Kunst hervorgerufen worden.


    Diese Entwicklung hat auch keineswegs dazu geführt, daß es heute in der Kunst keine Schönheit mehr gibt. Das gilt selbst dann, wenn man davon ausgeht, es habe früher eher Übereinstimmmung hinsichtlich dieses Begriffes gegeben, jedenfalls innerhalb der bestimmenden Schichten der Gesellschaft, während heute diese allgemeine Übereinstimmung fehlt.
    Ebenso hat es - wie hier schon mehrfach zutreffend hervorgehoben worden ist - auch früher (in den "schönen" Zeiten) Hässliches in der Kunst gegeben.


    Für unzutreffend halte ich auch Deine Behauptung, Alfred, es gebe keine ewiggültigen Botschaften in Opernlibretti. Liebe, Haß, Eifersucht, Treue, Gier, Eitelkeit, Pflicht, Einsamkeit Ruhmsucht, kurze alle menschliche Eigenschaften, hat es gegeben und wird es geben solange es Menschen gibt. Und solange waren sie und werden sie Gegenstand von Novellen,Gedichten, Romanen, Liedern, Theaterstücken und Opern sein. "Romeo und Julia", "Faust" oder "Richard der III." werden die Menschen verstehen und genießen, solange es sie überhaupt gibt. Allenfalls die Verpackung der Geschichte ändert sich.

  • Zunächst zum Titel: "museal". Diesen Begriff mag ich nicht, da ich auch ins MUSEUM gehe, um neue Kunst zu sehen. Mir erweckt das Wort "Museum" eine Art Idealvorstellung, dort wird Kunst aller Art aufbewahrt, restauriert und zugänglich gemacht.


    Also hinein ins Museum, und auf zur Frage, ob meine Augen und Ohren denn nun die Kunst vergangener Zeiten (also alles, was älter ist, als 20 Jahre), noch so wahr nehmen können, wie diese Kunst gedacht war, oder ob meine Kenntnis jüngerer Kunst mir im Wege ist.


    In der Musik ist dann gern von der Harmonik die Rede, man soll bei Beethoven nicht das Krasse der Dissonanz erkennen können, Schuld sei Wagner. Nun ja. Erstens gibt es in viel älterer Musik immer wieder sehr dissonante Stellen (Rebel, Les Elements, 1730er als extremstes Beispiel), sodass man bei Beethoven ohnehin schon wissen muß, WOMIT man ihn vergleichen muss, um ihn als dissonant zu empfinden (dem Großteil der Musik von 1780-1800). Andererseits würde ein wirkliches Eingewöhnt-Sein in gegenwärtige Musik bedeuten, das Anstreben von Dissonanzwirkung ohnehin als historischen Verweis zu empfinden (da die Dissonanz als gleichberechtigtes ebenso als "rein" empfindbares Elemant schon jahrhundertalte Tradition hat, nämlich seit 1909).


    Ich behaupte, dass wir unsre Ohren stets auf die jeweilige Zeit "einstellen" müssen, um adequat zu hören (deshalb mag ich auch Programme, in denen 3x die Epoche gewechselt wird, nicht). Die meisten Hörer können dabei kurioserweise die Ohren aber NICHT AUF GEGENWART stellen, wenn mal was Gegenwärtiges am Programm steht, weil sie viel zu wenig aus der gegenwärtigen Zeit kennen! Drum empfinden sie Dinge als kühn, die gemütlich-konservativ sind, und (noch schlimmer) Dinge als altmodisch, obwohl sie im Zurücklassen gewesener reduktionistischer Konzepte und bewußtem Wiederverwenden altbekannten Materials in NEUER ART UND WEISE kühn und neuartig sind.


    Die meisten Menschen aber gehen BLIND ins Museum.


    :baeh01:

  • Immer wieder beschäftigt mich das Therma "museal" in Verbindung mit der klassischen Musik. Auch wenn einiges allegemeines - durchaus Interessantes und vermultich teilweise Zutreffendes hier bereits geschrieben wurde, so erkenne ich doch immer wieder, daß es hier Auffassungsunterschiede gibt, die zwar nie aufgelöst, aber zumindest soweit geklärt werden können, daß man vwersteht, waraum oft solch verschiedene Statements über ein und dasselbe Werk abgegeben werden.


    Auslöser dafür, daß ich das Thema wieder hervorgeholt habe, war ein Statement von Johannes Röhl im Kunstliedbereich, wo er meinte, Schuberts "Taubenpost" wäre eine eher "flache" Komposition.
    Ungeachtet dessen ob die Aussage prinzipiell zutreffend ist oder nicht, finde ich, daß hier eben am "musealen" Aspekt vorbeigesehen , vorbeigehört und vorbeigeschrieben wurde. Zu Schuberts Zeiten galten andere emotionellen Werte, ein einfacherer Volkston war in Mode. Schubert selbst ver langt - wenn ich mich richtig erinnere - für seine Lieder einen eher einfachen Vortrag. Diese Anweisung wird heute ja leider nicht mehr befolgt, was teilweise zu Überinterpretationen führt.
    Un das ist es, was ich mit museal in diesem Zusammenhang meine.
    Auch wenn immer wieder behauptet wird, man könne alte Werke nicht mehr so hören (im Sinne von hörend erleben) wie zur Zeit ihrer Entstehung - so kann man diesem Ideal doch recht nahe kommen.


    Die Anpassung an unsere Zeit ist aus meiner Sicht ein Irrweg, weil das, was den Reiz eines Werke im Grunde ausmacht, dadurch zerstört wird.


    Man ist also gefordert, sich in die Psyche eines Höreres vor 10, 200, oder mehr Jahren hineinzuversetzen und mit (emulierten) Ohren des entsprechenden Jahrhunderts zu hören...


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



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  • Wer mit Ohren von heute hört,hat Hörerfahrungen gemacht,von denen der Mensch vor der industriellen Revolution noch nicht mal (alb-)träumen konnte.
    Umweltgeräusche aller Art dringen auf uns ein,denen wir uns nicht erwehren können.
    Wer hört denn ausschließlich nur klassische Musik?
    Hören wir nicht in jedem Supermarkt einkaufsfördendes Gedudel ?
    Hören wir nicht Filmmusik,wenn wir TV schauen oder ins Kino gehen?
    Und hören nicht auch manche Klassikhörer gelegentlich Pop/Rock oder Jazz?
    Nicht jeder kommt schon als Klassikhörer zur Welt,manchmal kommt die Vorliebe für klassische Musik erst im mittleren oder gar älteren Lebensalter,nachdem man sich der Pop/Rock/Jazzmusik hingegeben hat.
    Nein,die Ohren von heute sind zwar äußerlich noch wie die Ohren von gestern,aber innerlich haben sie sich gewandelt.Deshalb hören wir mit anderen Ohren als unsere Vorfahren.
    Sogar den Sternenhimmel sehen wir nicht mehr,weil die Lichtverschmutzung ihn wegblendet.

    mfG
    Michael

  • Museales Hören taugt mir allenfalls, wenn ich objektiv den 'Wert' eines Musikstücks erschließen und beurteilen möchte.


    Wenn ich aber herausfinden will, ob mich ein Stück innerlich berührt, habe ich nur meine Ohren und meine Seele. Beides lebt (unglücklicherweise?) heute.


    Es gibt Musik aller Epochen, die mein (heutiges) Ohr und meine (heutige) Seele rühren. Das ist die Musik, die ich liebe.


    Alles Andere kann für mich allenfalls intellektuelle Beschäftigung sein, aber keine Liebe.


    Für mich kann Musik nie ein museales Erlebnis sein, ich will Futter für meine Seele. Und das kann mir ein Orlando di Lasso, ein Mozart, ein Beethoven, ein Schumann, ein Bruckner, ein Strauss, ein Mahler, aber auch ein Schönberg oder ein Saygun geben!


    Meine These: Wahre Kunst ist zeitlos und nicht kontextgebunden!


    Deshalb schätzen wir auch heute noch eine Antike Statue so wie ein gelungens Bauwerk des 21. Jahrhunderts.


    Was Schneewittchen schreibt, empfinde ich ähnlich. Filmmusik lasse ich mir meistens noch gefallen, aber der Akkustik-Terror, dem ich mich täglich ausgesetzt fühle, macht mich krank und gestreßt! Für mich ist Musik (ohne Attribute wie 'klassisch' im nicht-epochalen Sinne, obwohl es zu mehr als 90% darauf hinausläuft) die einzige Ruheinsel und Therapie.


    Und es gibt, gottseidank wenige, Momente, wo mir nur noch eines hilft:






    ...Stille...

  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    Auslöser dafür, daß ich das Thema wieder hervorgeholt habe, war ein Statement von Johannes Röhl im Kunstliedbereich, wo er meinte, Schuberts "Taubenpost" wäre eine eher "flache" Komposition.
    Ungeachtet dessen ob die Aussage prinzipiell zutreffend ist oder nicht, finde ich, daß hier eben am "musealen" Aspekt vorbeigesehen , vorbeigehört und vorbeigeschrieben wurde. Zu Schuberts Zeiten galten andere emotionellen Werte, ein einfacherer Volkston war in Mode.


    Vergleich doch einfach mal "Taubenpost" mit den meisten anderen Liedern aus dem "Schwanengesang".
    Wieviele von denen weisen einen ähnlichen schlichten Volkston auf? Nicht allzuviele. Sogar das "Ständchen" geht mehr in Richtung Opernarie. Von dem "Doppelgänger" will ich gar nicht anfangen, aber auch Rellstabs "In der Ferne", "Aufenthalt" oder "Kriegers Ahnung" teilen diese extreme Schlichtheit nicht. Ich vergleiche hier schon Schubert mit Schubert, nicht mit Wolf oder Mahler.


    Zitat


    Schubert selbst ver langt - wenn ich mich richtig erinnere - für seine Lieder einen eher einfachen Vortrag. Diese Anweisung wird heute ja leider nicht mehr befolgt, was teilweise zu Überinterpretationen führt.


    Ja, z.B. im Falle des forenweit verehrten Fischer-Dieskau... ;)


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Original von Travinius
    Museales Hören taugt mir allenfalls, wenn ich objektiv den 'Wert' eines Musikstücks erschließen und beurteilen möchte.


    Wenn ich aber herausfinden will, ob mich ein Stück innerlich berührt, habe ich nur meine Ohren und meine Seele. Beides lebt (unglücklicherweise?) heute.


    Bei mir gibt es nicht diese Zweiteilung.
    Ich bemühe mich immer, mich in die jeweilige Epoche zu "versetzen", also den jeweiligen "Materialstand" vorauszusetzen, auf die jeweiligen zugehörigen Entwicklungsmöglichkeiten und Feinheiten sensibilisiert zu sein.
    Das beeinflusst dann auch, was mich berührt. Ich bereite mich also vor, mich berühren zu lassen.
    Dass meine Ohren von heute sind, ist ohnehin selbstverständlich. Und diese historische Herangehensweise ist ja auch ein typisch heutiger Zug im Zusammenhang mit HIP.
    :hello:

  • 5 Jahre sind seit den letzten Beiträgen hier im Thread vergangen - im Internet ist das schier eine Ewigkeit. Die meisten Mitglieder, die hier mitgescherieben haben sind nicht mehr bei uns, andere sind dazugekommen. Das verleitet natürlich, die damaligen Statements gegen heutige zu stellen. Hören wie wirklich mit "heutigen" Ohren? "Natürlich- ja - ist doch klar" werden einige sagen - aber das ist natürlich nicht unbedingt richtig. Es gibt Leute mit einem Gespür für das Nostalgische, mit der Affinität zu einem längst vergangenem Wertesystem - und natürlich tun sich solche Leute oft leichter, wenn sie mit Musik der Vergangenheit konfrontiert werden. Dazu kommt oft eine vermeintlich historisch korrekte Interpretation. Mit letzterer habe ich oft meine liebe Not, weil ich mit kaum je vorstellen kann, daß das was uns heute als "historisch informiert" verkauft wird auch annähernd so geklungen hat. So wie die Ungangsformen vergangener Zeiten gezierter und förmlicher Waren, so war auch die Kunst behübschender und eingängiger. Wir können das recht gut bei den Verzierungen der Musik des 18. Jahrhunderts hören. Ich kann mich in diese Zeit recht gut hineinversetzen - und fühle mich in dieser zeitlichen Umgebung heimischer als in der Welt der Gegenwart mit ihrer teilweise recht primitiven Ästhetik, die mich eigentlich nie wirklich erreicht - sondern abgestoßen hat. Insofern höre ich in der Tat weitgehend mit Ohren, denen "museale" Klänge sehr vertraut sind....


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



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  • Musik kann m.E. per se nicht museal sein, denn Musik muss, um zu wirken, immer neu entstehen. Museal können bestimmte festgehaltene Interpretationen sein, das Violinspiel von Kreisler und Heifetz, die Interpretationen von Furtwängler und Toscanini. Die sind museal, die kann ich immer wieder hören und sie verändern sich nicht, genauso wenig wie ein Bild, das im Louvre hängt oder ein Buch. Aber die 5. von Beethoven, Mozarts Klavierkonzerte, Bachs Fugen, die verändern sich mit jeder neuen Interpretation. Das ist vermutlich ein Grund, warum ich Musik interessanter finde als Bilder und Bücher.