Der Einfluss von "Zeitgeist" auf Klassikinterpretationen

  • Liebe Forianer,


    Manchmal glaube ich, das Forum wäre in Bezug auf neue (interessante) Themen bereit an seine Grenzen gestoßen - dann wieder perlt ein neuer Thread nach dem anderen aus unseren Federn - ähh Tastaturen.


    So geschehen mit dem Karajan Thread Nr 3310
    Herbert von Karajan im Kreuzfeuer der Nachwelt


    der von Anbeginn schneller startete als sein älteres Gegenstück Nr 46


    Was ist dran an Karajan ? - Versuch einer Analyse


    und der sogleich einen weiteren veranlasste nämlich Nr 3314


    Lauter Lobreden – Herbert von Karajan


    In Thread 3310 war unter anderem folgendes zu lesen:


    Zitat

    Aber trotzdem glättet (Karajan) er meines Erachtens im Vergleich zu René Jacobs z. B. sehr.


    Und genau dieser Satz hat mich herausgefordert diesen Thread hier zu starten. Ich behaupte nämlich, daß diese Aussage im günstigsten Fall eine Halbwahrheit darstellt.


    Halbwahrheit deshalb, weil die Aussage - nimmt man sie wörtlich - vermittelt, Jacobs würde Werke korrekt wiedergeben - Karajan hingegen nicht. Bei aller Wertschätzung von Rene Jacobs - so behaupte ich doch, daß er ein sehr persönliches - aus meiner Sicht auch verfälschendes (wenn gleich auf hohem Niveau) Mozart-Bild (als Beispiel) vermittelt. Und das dieses verfälschende Mozartbild (JEDER Komponistennamne könnte hier eingesetzt werden) lediglich ein Abbild des derzeit herrschenden Zeitgeschmacks ist.
    Übertüncht mit einem (oft diktierten) Klangideal, das vor 3 Jahrzehnten noch als unanhörbar gegolten hätte:
    Sportlich, bissig, aggressiv, rhythmisch betont, die Brüche in der Partitur nicht nur nicht mildernd (was einst viele Dirigenten BEWUSST taten) sondern im Gegenteil - hässliche Passagen gezielt herausarbeitend.
    Alles muß heute "spannend" sein (sogar Stellenbewerbungen !!) voller Aufruhr und Unruhe. Dies oft unter dem Mäntelchen von HIP (und seit neuestem auch ungeschminkt OHNE diesen Kunstkniff)


    Glaubt wirklich jemand ernstlich, daß hier eine "neutrale" Interpretation geboten wird - mit "Ewigkeitsanspruch" ??


    Ich sage NEIN. Heutige Interpreten verfälschen Werke geanuso stark wie einst HvK -Die sie dem "Zeitgeist" entsprechen, merkt es jedoch keiner....


    LG


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Es geht mir weniger darum, wer es richtig wiedergibt und wer nicht, sondern wer es am ehesten so wiedergibt, wie ich es in dem moment, wo ich es höre, hören mag. Insofern bin ich dankbar für die große Vielfalt an Interpretationen.


    Dabei gefällt mir z. B. Jacobs Figaro im Moment so sehr, dass ich einen anderen Figaro, der nicht so akzentuiert und spritzig ist, im Moment als glattgebügelt empfinde. Es kommt aber bestimmt auch mal eine Zeit, in der ich mich lieber mit einem ausgewogeneren Figaro abgebe.


    Inwiefern das etwas mit Zeitgeist zu tun hat, kann ich nicht sagen. Man scheint nur heute eher, als vor 20 Jahren, geneigt, die Sachen mit Originalinstrumenten zu spielen, was den Sachen natürlich auch einen gewissen Klang gibt.

    29.08.1958 - 25.06.2009
    gone too soon

  • Mein letzter, von mir sehr geschätzter Lehrer hat mal gesagt: "In der Musik gibt es kein richtig und falsch, richtig ist, was dem Zuhörer gefällt!"


    Darüber, wie Barockmusik zu Bachs Zeiten gespielt wurde, weiß man heute unendlich viel mehr als vor 70 Jahren. Trotzdem spricht Edwin Fischers Interpretation des Wohltemperierten Klaviers eindringlicher zu mir als alle bislang gehörten Cembalo-Einspielungen mit Leuten aus der Alte-Musik-Szene. Letzere sind im wissenschaftlich-musealen Sinne sicherlich "richtiger", aber das bringt mich persönlich im Hinblick auf den eigentlichen "Sinn" von Bachs Musik nur sehr bedingt weiter.


    Zitat

    Heutige Interpreten verfälschen Werke genauso stark wie einst HvK


    Ja, natürlich. Interpretation von Musik ist in gewissem Maße immer Verfälschung, das liegt in der Natur der Sache. Und da die emotionale Komponente beim Interpreten und beim Hörer nie komplett auszuschalten ist, kann eine noch so sehr um Objektivität oder "Authentizität" bemühte Wiedergabe trotzdem auf verschiedene Hörer "verfälschender" wirken als eine andere, bei der sich der Künstler nur wenig um die scheinbar "richtige" Stilistik kümmert.


    Viele Grüße


    Bernd

  • Zitat

    Original von Bernd Schulz
    Mein letzter, von mir sehr geschätzter Lehrer hat mal gesagt: "In der Musik gibt es kein richtig und falsch, richtig ist, was dem Zuhörer gefällt!"


    Salut,


    naja - das, was dem Zuhörer gefällt, kann doch auch grottenfalsch sein. ;)


    Vorausgesetzt, der Zuhörer hört das Werk in dieser [sagen wir mal: falschen] Version zum ersten Mal - und er liebt es - dann ist alles andere für ihn falsch, wenn es auch noch so "richtig" gespielt ist. Bei fast ausnahmslos jeder Werkaufführung entsteht jedesmal ein neues Kunstwerk, anderen Interpretationen mehr oder minder ähnlich oder völlig verschieden.


    Natürlich gibt es einen "Zeitgeist": Während vor rund 20-30 Jahren fast alle Werke ziemlich glatt gespielt wurden [Ausnahmen bestätigen die Regel], so ist heute doch eine gewisse "Aggressivität" jedenfalls bei den historisch informierten Einspielungen zu hören- und das tendenziell steigend. Diese "Aggressivität" mag ich schon sehr, - aber zum richtigen Zeitpunkt. Die "Aggressivität" ist für mich gleichbedeutend mit Lebensfreude; das sollte man schon spüren: Musik ist lebendig! Und soll Freu[n]de bereiten!


    Aber auch das aalglatte Abspielen der Musik hat seine Reize: Führt es doch auf den eigentlichen Kern der Sache zurück.


    Schöne Grüße zum Muttertag!


    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Zitat

    Dabei gefällt mir z. B. Jacobs Figaro im Moment so sehr, dass ich einen anderen Figaro, der nicht so akzentuiert und spritzig ist, im Moment als glattgebügelt empfinde.


    Dieses Phänomen nennt man "Prägung"
    Zumeist (wenngleich nicht immer) stellt die erste Begegnung mit einem Werk ein unwiederholbares Erlebnis dar - ähnlich wie die erste Liebe.
    Ist sie geglückt, so werden sehr oft alle späteren Interpretationen als unbefriedigend empfunden - man verwechselt Interpretation mit Werk.


    Würde man Musikfreunden der 50 er Jahre heutige Interpretationen vorführen - sie wären entsetzt.....


    Zitat

    Darüber, wie Barockmusik zu Bachs Zeiten gespielt wurde, weiß man heute unendlich viel mehr als vor 70 Jahren.


    Das ist IMO nicht ganz richtig - auch wenn es immer wieder behauptet wird. Ich kann aber über "vor siebzig Jahren zu wenig sagen - so alt bin ich noch nicht.
    Aber ich kann etwas zu den 60er Jahren sagen: Natürlich wusste man damals vieles über Aufführungpraxis des Barock - aber man negierte es !!
    Einfach weil man meinte, die Musik müsse dem (damals) HEUTIGEN Hörer nahegebreacht werden - mit (damals) heutigem Intrumentarium und zeitgemässer musikalischer Diktion.
    Es war also ABSICHT !!!
    Ähnliches spielt sich heute in der Opernszene ab - wo manche meinen man könne einem heutígen Publikum historisch orientierte Inszenierungen mit realitätsnahen Kostümen und ebensolchen Bühnenbildern "nicht mehr zumuten"


    Der aggressivere Klang wurde jahrelang als "Eigenart historischer Instrumente" "verkauft" - bis irgendjemand auf die Idee kam - sowas kömnne man auch - wen wunderts - mit modernen Instrumenten erreichen. Da entstand nun der Terminus technicus "HIP" - Historisch INFORMIERTE Interpretation - soll heissen - man versucht durch spezielle Spieltechniken - mit modernem Instrumentarium - jenen Eindruck zu erreichen, der (angevblich) historisch korrekt (zumindest annäherungsweise) ist.


    Was dabei rauskommt ist eigenartigerweise ein Klang, der entfernt an nichtklassische Musikarten des 20. Jahrhunderts erinnert . Welch ein Zufall.


    Manchen Werken - das billige ich zu - tut dieser Ansatz sehr gut - zumindest für heutige Ohren. Für historisch korrekt halte ich ihn indessen nicht.


    LG
    aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



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  • Erstmal: Statt "20 Jahre" sollte man oben eher "40 Jahre" schreiben. Vor 20 Jahren wirkten zwar Musica Antiquas Brandenburgische Konzerte auf manchen schockierend, aber Originalinstrumente für Montverdi oder Bach waren schon praktisch Standard und die "Bewegung" hatte bereits Mozart und Beethoven erreicht.


    Zweitens: "Zeitgeist" ist keine wirkliche Erklärung. Es gibt ja nicht einen separat herumschwebenden "Zeitgeist", nach dem sich Musiker richten. ;) Sondern alle Kulturäußerungen sind irgendwie Teil des Zeitgeistes und prägen ihn ihrerseits (der zudem nie so einheitlich ist, weder 1950, noch 1975, noch 2006). Ich würde daher eher von Strömungen sprechen, die parallel existieren können, manche davon natürlich auch weitgehend verebben usw. Ich schätze z.B. viele Interpretationen der Klassiker unter Dirigenten wie Scherchen, Rosbaud, Leibowitz, Fricsay, Markevitch, auch Klemperer, die vor 50 Jahren eine sehr moderne Haltung einnnahmen, die sowohl von hoher Präzision, Transparenz und "Sachlichkeit" als auch von expressionistischer Ausdruckskraft geprägt ist. Für alle die gilt überhaupt nicht, dass "Härten" vermieden werden.


    Drittens: "Neutrale" Interpretationen, "richtig", oder gar "für die Ewigkeit" sind Chimären. Selbst wenn es so etwas wie eine "neutrale Interpretation" geben könnte (etwa von einem Computer) wäre das wohl kaum wünschenswert, oder? (es wäre offenbar auch völlig unhistorisch)


    Man kann, etwa in der Oper, im Extremfall die Musik nur als schöne Töne, die möglichst angenehm präsentiert werden sollen, auffassen. Das ist m.E. eine völlig bizarre Sichtweise (daher unterstelle ich das keinem ernstzunehmenden Musiker), so ähnlich als würde man eine Gedicht nur so vortragen, dass es hübsch klingt, ophne Rücksicht auf die Deutlichkeit und Bedeutung der Worte.
    Natürlich ist es in der Musik komplizierter: es gibt oft keine einfache Bedeutung der Musik, selbst mit unterlegtem Text kann die Musik z.B. nicht einfach den Textinhalt verstärken, sondern kann etwas ausdrücken, was im Text gar nicht vorkommt (ein simples illustratives Beispiel: in Schuberts Lindenbaum tauchen in Klaviervorspiel und Begleitung Hörnerklänge auf).
    Offenbar können Interpreten nun einerseits unterschiedlicher Ansicht darüber sein, was ein bestimmtes Musikstück ausdrückt, andererseits selbst wenn sie darin einig sein sollten, wie dieser Inhalt interpretatorisch verdeutlich werden soll. Z.B. (das ist jetzt aber eher auf der Textebene) kann man Konstanzes "Ach ich liebte" einerseits als Klage über ihre Verschleppung und ihre Trennung von Belmonte verstehen, andererseits derart, dass sie sich tatsächlich in den Bassa verliebt hat, aber Belmonte die versprochene Treue halten will. Das dürfte auch Einfluß auf die musikalische Gestaltung haben.
    Ganz ähnlich und natürlich bestehen hier Beziehungen, kann man auf der "Strukturebene" argumentieren: Man kann z.B. ein bestimmtes Motiv so phrasieren, dass es "heraussticht" und so dem Hörer die Struktur eines Musikstückes deutlicher wird. Bei Wagner etwa, muß immer irgendwie zwischen dem Hervortreten der "Leitmotive" und dem kontinuierlichen Fluß der Musik vermittelt werden. Klar, dass Interpreten hier unterschiedliche Schwerpunkte setzen (müssen, womit eine gelgentelich Quadratur des Kreises nicht ausgeschlossen werden soll).
    Eine gewisse Offenheit der Zugangs- und Interpretationsmöglichkeiten ist wohl gerade das Spannende an Kunst, besonders solcher, die eben nicht als Bild im Museum hängt, sondern immer neuer Aufführungen bedarf.
    Daher sollte man mit "richtig" m.E. vorsichtig sein; eher kann man manchmal Interpretation als verfehlt bezeichnen, wenn nämlich überhaupt keine der verschiedenen legitimen Sichtweisen deutlich herauskommt, sondern nur unverbindliches, leeres Geklingel. (Aber auch das ist nur unter einer gewissen Perspektive verfehlt)


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Guten Morgen,


    ich denke, dass der Zeitgeist schon eine gewaltige Rolle spielt - aber vor allem der Zeitgeist, der sich im jeweiligen Interpreten manifestiert.


    So glaube ich, dass die Originalklang-Bewegungen einfach auch eine Reaktion auf manche Interpretation war, wie beispielsweise auf einen Karajan, der Bach-Orchester-Suiten ins Spätromantische überträgt. Und insofern wäre es schon dem Zeitgeist geschuldet, wenn sch eine Szene auftut, die den (teils selbstherrlichen Pult-) Autoritäten, die nur noch sich selbst verpflichtet schienen, etwas entgegensetzt. Und fast das Einzige, das aus deren Sicht hilft, ist eine noch größere Autorität: die Wahrheit. Also weg vom Diktat des Interpreten, hin zum "eigentlichen Willen" des Komponisten. Wobei ich gestehen muss, dass ich diesen Weg nun auch nicht immer überzeugend finde; zumal letztlich doch immer der Interpret entscheidet (auch, was original ist).


    Zumindest bei mir ist das Gefallen oder Nicht-Gefallen stets vom Einzelfall abhängig. So schreckt mich der überlebensgroße Karajan teilweise ebenso ab, wie die (für mich irgenwie unbelebten, aber originalklingenden) Wagner-Ouvertüren von Norrington. Ich sitze aber auch nicht mit der Partitur auf dem Schoß da und spüre meinerseits dem "eigentlichen Willen" des Komponisten nach.
    Insofern muss es für mich wohl einen Kern an Interpretation geben, der unabhängig ist vom Zeitgeist und der Mode. Und dieser kann sich für mich als Amateur weniger formal-richtigen Maßen orientieren als einfach daran, was mich berührt.


    Zur Oper möchte ich noch anfügen, dass ich durchaus ein Freund von moderneren Interpretationen bin. In Opern werden doch zumeist "ewige", immergültige Themen verhandelt. Warum sollte ich diese in Distanz zu mir setzen, indem ich sie allein in der Vergangenheit ansiedle. M.E. erleichtert es den Zugang (zumindest für ungeübtere Operngänger wie mich) durchaus, wenn man ein bekanntes Lebensumfeld vorfindet, und somit einen selbstverständlicheren Zugang erhält.


    Gruß, l.

    "Jein".

    Fettes Brot

  • Ich möchte mal anmerken, dass ich mit Alfred insofern übereinstimme, als mich das zeitgeistige Gekratze (Musica antiqua Köln oder Arditti Quartett) gewaltig nervt, weil es oft ÜBERHAUPT nicht passt und außerdem die Tonhöhen verschleiert (ja von wegen klar und deutlich!)
    :motz:


    Andererseits stimme ich mit ihm überhaupt nicht überein, da es Interpreten gibt, die sehr wohl sich darum bemühen, den Willen des Komponisten zu erahnen und umzusetzen (Leonhard oder Henck). Ich vermute, dass sie es in einem Ausmaß tun, der im 19. Jahrhundert undenkbar war (wie z.B. der Cembaloklang undenkbar war).


    Nochmal zum Zeitgeist: die Analogien zwischen Musica antiqua Köln, dem Arditti Quartett und den Werken von Lachenmann sowie der Knacks- und Rauschästhetik in gehobener Techno-naher Unterhaltungsmusik sind schon merkwürdig.