Ich eröffne mal einen eigenen thread hierfür, wenn die Moderatoren es für klüger erachten, kann der Text aber auch an "Passionsmusik außer Bach" angehängt werden.)
Der für die Sünden der Welt gemarterte und sterbende Jesus
ist das Passions-Oratorium von Barthold H(e)inrich Brockes (1680-1747) betitelt.
Dieser Text wurde von Keiser (1712), Telemann (1716), Händel (1716/17) und Mattheson, der zur Passionszeit 1719 alle Vertonungen der drei vorhergehenden sowie seine eigene in Hamburg aufführte, sowie etlichen weiteren Komponisten (u.a. Stölzel) vertont. Auch Teile des Textes zu Bachs Johannespassion basieren auf dem Brockesschen Text.
Man vergleiche etwa den "Eingangschor" (in Händels Vertonung der einzige Chor außer den Turbae und Chorälen):
"Mich vom Stricke meiner Sünde zu entbinden, wird mein Gott gebunden.
Von der Last der Eiterbeulen mich zu heilen, läßt er sich verwunden."
mit der Alt-Arie (Nr. 7) der Bachschen Johannespassion
"Von den Stricken meiner Sünden
mich zu entbinden
wird mein Heil gebunden.
Mich von allen Lasterbeulen
Völlig zu heilen
Läßt er sich verwunden."
(Bach besaß eine Abschrift der Händelschen Brockespassion; ich weiß aber nicht, ob er diese Vertonung und die der anderen schon kannte als er die Johannespassion schrieb. Eine Gemeinsamkeit gibt es in der Arie mit Choreinwürfen "Eilt ihr angefochtnen Seelen")
Ich kenne bisher nur Händels Version, um die soll es hier zunächst gehen.
Es scheint bis heute nicht ganz geklärt, was Händel bewog, dieses Werk zu komponieren. Im Booklet meiner CD (Brilliant, ursprgl. bei hungaroton erschienen) wird die Vermutung geäußert, Mattheson habe in einer Art "Wettbewerb" die beiden berühmtesten deutschen Komponisten Händel (der ja eigentlich schon in England lebte) und Telemann sowie die Hamburger Lokalmatadore Keiser und sich selbst nebeneinanderstellen wollen. Es ist jedenfalls so weit ich sehe Händels einziges größeres geistliches Werk in deutscher Sprache (es gibt eine frühe "Johannespassion" (1704), allerdings unsicherer Autorschaft). Außerdem komponierte er die schönen "9 deutschen Arien", ebenfalls auf Texte von Brockes (aus dessen
berühmten Sammlung "Irdisches Vergnügen in Gott", die Brockes Dichtkunst m.E. von einer wesentlich besseren Seite zeigen als die Passion)
Die Sprache Brockes (einer der bekanntesten geistlichen Dichter dieser Zeit und Ratsherr der Stadt Hamburg!) ist gewöhnungsbedürftig (d.h. stellenweise unerträglich, s.o.), von barocker Drastik und Symbolik. Dazu basiert der Text des Evangelisten und der Personen zwar natürlich auf den Evangelien, ist aber ausgeschmückt und in Versform inklusive Reimen gefaßt.
Zusätzlich zum Evangelisten, Christus, Petrus und kleinen Rollen (Judas, Pilatus etc.) gibt es zwei allegorische Figuren, denen die kommentierenden und kontemplativen Arien zugedacht sind: die "Tochter Zion" (die heimliche Hauptrolle, sie hat mit Abstand am meisten Arien) und "die Gläubige Seele". Der Part des Petrus ist anders als z.B. in Bachs Passionen fast opernhaft ausgestaltet; er hat nicht weniger als 4 Arien. Insgesamt ist Händels Vertonung ziemlich opernhaft; es gibt sehr viel häufiger kleine "Dialoge" zwischen den Figuren (und sogar zwischen der Tochter Zion und Jesus!), ein erschrecktes Auffahren der Jünger, als Jesus sie im Garten zum Wachen ermahnt usw.
Es ist nicht leicht, dem Werk Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, da man sich kaum vom übermächtigen Eindruck der Bachschen Passionen lösen kann. Händels Passion ist jedoch in vieler Hinsicht völlig anders (abgesehen davon, dass vermutlich auch der eifrigste Händel-Freund die Brockes-Passion nicht für eines seiner Hauptwerke halten wird). Sie war nicht zunächst zur Verwendung im Gottesdienst, sondern für wirkliche Konzerte in der Passionszeit gedacht. Daher enthält sie nur relativ wenige,
größtenteils sehr einfache Choräle und außer den turbae nur einen Chor. Man darf also auch keine mächtigen und mitreißenden Chöre wie in den späteren Oratorien (oder im Dixit Dominus) erwarten. Es ist ziemlich lang, ca. 3 Stunden, die 106 einzelnen Nummern sind aber oft sehr kurz (Arien oft nur ca. 2 min). Dadurch ergibt sich, trotz vieler opernhafter Momente, weder der Eindruck einer fast atemlosen dramatischen Erzählung wie in Bachs Johannespassion noch die epische, aber wohlstrukturierte Breite und mystische Tiefe der Matthäuspassion. Ich will nicht näher auf einzelne Stücke eingehen, nach meinen bisherigen Eindruck (ich habe das Stück
jetzt zweimal recht kurz hintereinander gehört, davor vor vielleicht zweimal in den letzten beiden Jahren) stehen durchaus großartige Stücke neben eher routinierten. Der Bookletautor meint, dass Händel sich in diesem Genre anscheinend weniger "wohlgefühlt" ("at ease") habe als in seinen größten Werken. Das sähe man u.a. an den Stücken der Passion, die er für spätere
Werke adaptierte (Esther, Deborah, Athalia, die kenne ich alle nicht) und die dort besser und angemessener wirken würden. Er schiebt das auf das vorgegebene Libretto, das Händel nicht die gewohnten Freiheiten ließ und auf die Distanz von Händels Persönlichkeit zum Pietismus des Texts. (Ich finde das nur mäßig überzeugend, kenne indes eben weder die Vertonungen der Konkurrenten noch die genannten Händel-Oratorien.)
Interessant wären Kommentare der Barock und Kirchenmusikspezialisten, die vielleicht Keisers oder Telemanns Brockes-Vertonungen kennen.
Die Hungaroton/Brilliant-Einspielung ist von weitgehend ordentlicher Qualität; einige der Solisten sind gut oder sehr gut oder (Evangelist: M. Klietmann, Petrus: Guy de Mey (Tenor), Tochter Zion: M. Zadori (Sopran), auch Christus: Istvan Gati und Judas: D. Minter (Altus)), bei anderen (glücklicherweise fast nur für die Minirollen wie die Mägde oder die falschen Zeugen eingesetzt) hört man doch sehr deutlich den ungarischen Akzent (Tenor-Arien) oder andere Unzulänglichkeiten. Der "Stadtsingechor Halle", relativ groß und teils mit Knabenstimmen besetzt, wird seiner vergleichsweise bescheidenen Aufgabe aber durchaus gerecht.
Diese Einspielung ist bei "Brilliant Classics" sehr preiswert zu haben, wer Interesse an Barockmusik jenseits der zentralen Werke hat, sollte sich das Werk unbedingt mal anhören.
Es gibt so weit ich weiß nur eine einzige weitere Gesamtaufnahme, aus den 60ern (ARCHIV), unter August Wenziger mit seinerzeit sehr berühmten Sängern, die in der Reihe DG Originals wiederveröffentlicht wurde, aber schon wieder vergriffen ist; ich habe sie nie gehört.
viele Grüße und schöne Ostertage
JR