Ich bin nicht sicher, ob es hierher gehört, habe aber keine Unterabteilung für allgemeinen Kulturpessimismus gefunden...falls die existiert, dorthin verschieben!
Mir fällt heute in der online-Präsentation des renommierten Wochenblattes Die Zeit (das dürfte wohl jeder ohne link finden) eine Rubrik "Mein Leben mit Musik - Erfahrungsberichte aus dem tönenden Alltag" ins Auge. Praktisch bei online: man erhält leicht einen Überblick über alle 11 bisher erschienen Kolumnen.
Die erschütternde Bilanz: In genau zweien davon geht es am Rande um klassische Musik, nämlich den beiden, die auch eigenes Musizieren zum Thema haben "Ich übe mit meiner Tochter" [und zwar Cello] und "Ich singe" [u.a. Schuberts "An die Musik"]
Zweimal geht es um Tangotanzen, zweimal um Vinyl-Sammeln, zweimal um Mixkassetten, zweimal um deren zeitgenössische Nachfolger mp3 und "Podcast" (beim Joggen und U-Bahnfahren), einmal Karaoke in der Küche und einmal (wirklich interessant) der Bericht einer Frau, die eine Art musikalischer Wahrnehmungsstörung ("Dysmusia") hat und Musik als belangloses Geräusch empfindet.
Eine solche Verteilung wundert mich bei einem bildungsbürgerlich geprägten Blatt (Helmut Schmidt!) doch ein wenig...
Ich kann nicht feststellen, ob die Beiträge alle von regelmßigen Mitarbeitern verfaßt sind (in einige Fällen anscheinend nicht, der Mixkassettensammler hat einen Laden in München). Ich will einigen der anderen Kolumnisten keine analoge Wahrnehmungsstörung unterstellen und es liegt vielleicht auch am Medium solcher Texte und ihrer Aufgabe, möglichst cool zu sein, oder der Vorgabe "tönender Alltag". Aber ich habe den Eindruck, es geht hier nur sehr selten um Musik als Musik und wenn, dann nur in einer derart gründlich von der Popkultur der letzten 40 Jahre geprägte Rezeptionshaltung, bei der es kein Wunder ist, dass Klassik nicht vorkommt. Es geht um den Freundschaftsdienst der Mixkassetten, das feeling, eine bestimmte Musik per Kopfhörer in der U-Bahn zu hören, die Platte, die einen begleitet wie ein Teddy aus Jugendzeiten, oder direkt um Fetische wie "Sticky Fingers" als Sammelobjekt für EUR XX.
Unmittelbares Feeling, Reminiszenz an die Teenagerzeit oder Sammlerfetisch. Wenn das die Musikwahrnehmung der modernen Elite ist, sind wirklich Alpträume Realität geworden.
kulturpessimistische Grüße
JR