Überinterpretation - zuviel des Guten getan

  • ich möchte hier ein Sichtweise beschreiben, die mich seit langem beschäftigt, da sie für mich unlösbare Probleme darstellt.


    kurz beschrieben:


    für mich gibt es Musik, die exakt so ausgeführt werden muß wie notiert, und solche, bei der der Interpret einen notwendigen Teil zum Gelingen des Werks liefern muß.
    das kann ich nicht genau festlegen, welcher Komponist wohin gehört - es ist eher die Beobachtung, daß einige Werke an Wirkung verlieren, je mehr man als Interpret dazutut.
    andere - mein extremstes Erlebnis war Schumanns Kreisleriana - benötigen beinahe ein Aufführungskonzept - die Feindynamik muß vom Interpreten erst ergänzt werden. (Beispiel: 2.Teil, B-Dur - die dynamischen Bezeichnungen sind bei allen wiederholten Phrasen gleich - so kann man das Werk nicht spielen. auch der letzte Satz der Schubert B-Dur Sonate ist so ein Fall.


    mein Orgellehrer war prinzipiell immer der Ansicht: "aus dem Stück muß man was machen" so hat er überall seinen interpretatorischen Senf (besser wäre - seine Barbecuesauce, um etwas banales zu charakterisieren, sein Ketchup...) darübergeschüttet - um seine Marke erkennbar zu machen.
    Klar, seine Schüler kann man an jenen Merkmalen erkennen...(keine Sorge, kaum einer ist noch musikalisch tätig...)


    ich habe dagegen revoltiert und immer mehr die Meinung entwickelt: so wie das Stück komponiert ist, stimmt das auch. Ich sehe mich als Medium, das sich während einer Interpretation dem Komponisten zur Verfügung stellt.
    Mein Ziel ist es, die Komposition "durchscheinen zu lassen" ohne eigene Zutaten.


    Natürlich hab auch ich typische Merkmale entwickelt - Dinge, die ich immer wieder sage, Stereotype - es ist schwer, das zu finden und zu eliminieren.


    Schwierigkeiten bereiten mir z.B: Programme oder Namen, da sie IMO eine Verdoppelung der musikalischen Aussage sind.


    Konkret im Fall der Pathetique op.13 von Beethoven:


    Bedeutet der Titel, daß es sich um eine pathetische Sonate handelt - also eine reine Beschreibung?
    IMO ja, da es kein Programm von Beethoven ist.


    mir wäre trotzdem lieber das Stück nur unter Sonate c-Moll aufzuführen!


    was ist, wenn Hörer meinen, daß meine Interpretation ja gar nicht pathetisch genug ist - die Sonate heißt doch so...


    ich sehe es so:
    das komponierte Stück ist pathetisch
    aber ich will es nicht zusätzlich pathetisch spielen


    ähnlich bei Trauermusik oder Passionen,
    warum sollte der Interpret noch ein "Betroffenheits-Schäuferl" nachlegen?


    wahrscheinlich wird man mir intellektuelle Kälte, mangelndes Einfühlungsvermögen... vorwerfen.



    wie steht Ihr dazu, welche Interpreten geben eurer Meinung nach zuviel oder zuwenig?

    Im übrigen bin ich der Ansicht, dass gepostete Bilder Namen des Fotografen, der dargestellten Personen sowie eine genaue Angabe des Orts enthalten sollten.
    (frei nach Marcus Porcius Cato Censorius)

  • Zitat

    wahrscheinlich wird man mir intellektuelle Kälte, mangelndes Einfühlungsvermögen... vorwerfen.


    Du sprichst das Boulez-Problem an. Boulez gilt als der "Eismann", weil er seine Rolle vor allem darin sieht, die Strukturen exakt deutlich zu machen - wodurch seiner Meinung nach die Musik sozusagen durch sich selbst spricht.


    Für mich gibt es beide Möglichkeiten: Die zutiefst persönliche Interpretation und die analytisch "trockene". Mich kann das subjektive Schäuferl-Nachlegen durchaus faszinieren - wenn es überzeugt, weil es ins Gesamtkonzept einer Sicht auf ein Werk hineinpasst (ist natürlich subjektiv).
    Nicht mag ich diese Gangart, wenn sie geschmacklos wird, wenn die Überzeichnungen nur noch der Willkür entspringen. Wenn etwa das Adagietto der 5. Mahler auf 15 Minuten gedehnt wird, wenn ein Sänger Schubert- oder Mahler-Lieder mehr schluchzt als singt, wenn ein Pianist einen völlig diffusen Debussy säuselt etc.
    Aber mir ist klar, dass mein subjektives Empfinden nicht objektivierbar ist. Was ich in etlichen "Blindverkostungen" am eigenen Leib und an dem anderer schon mehrfach ausprobiert habe.


    Aber Gratulation zu diesem Thread - ich hoffe auf eine sehr schöne kontroversielle Diskussion dieses sehr zentralen Problems bei der Interpretation klassischer Musik.

    ...

  • Hallo!
    Ich kann hier zu Teilen nur aus der kirchenmusikalischen Praxis berichten... Da sieht's zum Beispiel so aus, dass viele Organisten sich schlechtweg nicht mit dem Hintergrund der Werke befassen und demzufolge manches Orgelwerk sooo falsch spielen, weil sie weder etwas von der Interpretationsästhetik des Komponisten wissen, noch für was für eine Art von Orgel er geschrieben hat, ob er sehr viel legato gespielt hat oder eher ein straffes non-legato vorzog, ob die dynamischen Zeichen für die Stellung des Schwelltritts oder aber für eine Umregistrierung stehen... und so weiter, die Liste ist endlos.
    Die Liste der Überinterpretation ist bei vielen Vokalwerken gravierend. Gerade in der Renaissance wird wahnsinnig viel versaut. Ich habe mal irgendwie eine Ansprache des Chorleiters an seinen Renaissance-Chor gelesen, die mir zutiefst aus der Seele sprach: Unsere Musik muss hell, klar und exakt sein. Wir sind Engel, die auf Nadelspitzen balancieren!
    Und das Problem der Romantik ist ja klar! Man kann nun mal nicht aus jedem Gesang eine Piano-Wahnsinns-Crescendo-Schnulze machen. Darunter leiden auch viele weltliche Chorwerke von Mendelssohn, Schubert und Brahms.
    Das schlimmste ist die Interpretation bei Kleinmeistern der Musik. Da wird aus schlichter Unwissenheit der größte Mist verbockt.
    Meiner Meinung nach muss sich der Interpret sehr genau mit dem Hintergrund eines Stückes in allen Facetten auseinandersetzen und kann dann beginnen, vorerst nur nuanciert zu interpretieren.


    Liebe Grüße,
    momo


    PS: Obwohl ich mir manchmal wünschen würde, dass mir mein Orgellehrer wenigstens e t w a s Hilfestellung bei der Interpretation gibt... ;-)

    "Orgel spielen heißt, einem mit dem Schauen der Ewigkeit erfüllten Willen offenbaren!"
    Charles-Marie Widor

  • Ja - es ist wirklich ein schöner Thread


    Dennoch ist (aus meiner Sicht) die Frage nicht wirklich zu beantworten (Das macht das Thema ja so spannend !!)
    Wenn zwei das Gleiche tun - dann ist es noch lange nicht das Selbe.


    Oft haben Interpretem ein Werk überinterpretiert - oder persönlich gefärbt (die Gegner sagen dann übertüncht) und man hat ihnen zugejubelt (im weitesten Sinne: Karajan, Klemperer, Celibidache, Norrington ,Harnoncourt, Gould) , andere haben ähnliches versucht - und man hat sie verdammt (Ulli Mustonen als Beispiel)


    Andere Interpreten waren bemüht ein Werk "werkgetreu" zu gestalten, ernteten dafür nur Hohn und Kritik wogegen es welche gab, die bei gleichem Interpretationsansatz für ihre vornehme Darstellung als positives Beispiel genannt wurden


    Es muß also noch etwas geben - etwas, das man nicht messen kann - und dennoch als Gradmesser dient wie eindrucksvoll oder gelungen ein Werk aufgeführt oder aufgenommen wurde...


    LG


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Hallo Wolfgang [der sich noch immer nicht persönlich vorgestellt hat ;) ],


    Zitat

    Ich sehe mich als Medium


    Großer Pluspunkt!


    Dennoch ist es so, wie Du sagst: Da gibt es jede Menge Werke, die "interpretiert" werden müssen - was auch immer das bedeutet und jene, die absolut keine Gewürze vertragen. Leclair beispielsweise forderte gewisse Auszierungen [gehört das wirklich zum Thema? - ich bin nicht sicher...], hatte aber auch Grenzen: Als ihm das [zu viele!] fremde Ausgeziere auf den Sender ging, schrieb er die seiner Intention nach notwendigen Auszierungen in die Noten! Bei Mozart ist Ähnliches zu beobachten.


    Gott, wie hieß die Sängerin noch, deren Portrait kürzlich im TV kam? Sie meinte, man müsse einfach alles nur singen, wie es da steht, ohne zu interpretieren. Es sei die wahre Kunst, das Ego wegzulassen... sie sang überwiegend Wagner und hatte auch den Schritt in die Moderne [ich glaube, es war Berg "W"] gewagt.


    :hello:


    Ulli, der - so der Gott der Konten will - im April in Wien sich erneut zeigen wird...

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Tamino XBeethoven_Moedling Banner
  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt


    (Ulli Mustonen als Beispiel)


    ;) Ich weiß ja, daß Du mich magst - aber damit hab ich nix am Hut.


    Nimm ein "O"


    :hello:

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Hallo Edwin,


    ich glaube ein Dirigent der beides wunderbar vereinen konnte, war wohl Pierre Monteux. Er legte Strukturen, verabscheute Effekt und war dennoch der Musik entsprechend höchst emotional.


    Aber zurück zum thread-titel:


    Ein Stein des Anstoßes für mich ist zur Zeit Lang Lang. Wenn er Schumanns Träumerei "interpretiert", vergeht mir selbiges.


    Heifetz warf man stets eine enorme Kühle vor. Wer sein Spiel kennt, wird diese Aussage mti Vorsicht geniessen, wenn icht gar verneinen müssen.


    Was bestimmte Werke anbelangt:
    Schumanns Sinfonien können gar nicht ohne das Eingreifen des Dirigenten. Hier sollte nicht nur interpretiert, hier muß sogar anderweitig eingegriffen werden. Denn die Orchestrierung ist dermaßen katastrophal, daß dem Dirigenten die Aufgabe zufällt, ein passables Klangbild zui erzeugen.
    (Man höre sich einmal Zinmans Schumann an - wer den zuerst hört, ohne sonstige Aufnahmen zu kennen,wird wohl einen weiten Bogen um diesen großen Romantiker machen..)


    Ansonsten, hmmm...
    Ach mir fällt bestimmt später noch was ein :D


    In dem Sinne erst einmal


    LG
    Wulf

  • Also jetzt einmal ganz subjektiv (wie gewohnt bei mir) aus der Warte des Komponisten.
    Ich habe mit meinen Interpreten (fast) immer unglaubliches Glück gehabt. So auch mit einem fabelhaften Cellisten, der ein Solostück von mir mit mir minutiös erarbeitete und bei der Uraufführung toll spielte.
    Etwas später nahm er das Werk wieder ins Programm, ich war bei keiner Probe dabei, ich wusste ja, wie er es spielt.
    Mitnichten.
    Die neue Aufführung war von einer derartigen Intensität, Kraft und Schönheit, dass ich behaupte, er hat das Stück besser gespielt als es komponiert ist. Ich fragte ihn, was da passiert sei. Seine Antwort: "Du bist mir diesmal nicht im Nacken gesessen."
    Er war gedanklich frei, folgte seinen Assoziationen (und nicht meinen), spürte etwas auf, das ich so niemals auch nur angedacht hatte, was aber seiner Meinung nach eben doch vorhanden war.
    Kurz: Er hat mein Stück sicher überinterpretiert - aber ausschließlich zum Wohl des Stücks.


    Oben habe ich ein "fast" in Klammer gesetzt. Und auch das hat einen Grund. Es gibt das genaue Gegenbeispiel - die schlechteste Aufführung die ich je von einem eigenen Werk hatte. Ich lasse jedes Detail weg, ich will vermeiden, dass man zurückführen kann, wer diese Aufführung zu verantworten hatte.
    Nur so viel: Das Stück besteht aus bestimmten Klang-Symbolen, die bestimmte Sätze der Bibel umzusetzen versuchen. Der Musiker konnte damit absolut nichts anfangen - er scheiterte schon an den Bibel-Sätzen, die er zutiefst ablehnte. Damit spielte er ausschließlich die Struktur und war keinem Versuch meinerseits zugänglich, ihm die gedanklichen Hintergründe zu vermitteln. Die Aufführung war eine Exekution in jedem Sinn des Wortes. Er spielte genau das, was ich geschrieben hatte, aber nichts zwischen den Noten. Ich dachte, ich hätte einfach schlechte Musik geschrieben.
    Dank eines anderen Musikers weiß ich mittlerweile, dass dieses Stück ganz objektiv kein Meisterwerk ist und dass es auch nicht mein Meisterwerk ist - aber es ist ein ganz ordentliches Stück, zu dem ich stehen kann und das durchaus "funktioniert".


    Als Komponist muss ich also sagen: Ich freue mich sehr, wenn jemand versucht, meine Stücke zu verstehen und etwas Persönliches daraus zu machen. Die Noten allein spielen ist manchmal genug, manchmal aber einfach zuwenig. Allerdings möchte ich weder die eine noch die andere Erfahrung missen.

    ...

  • Das ist wirklich eine spannende Frage - auf die ich ähnlich wie Edwin nur aus der Warte der "Produzentin" antworten kann, genauer gesagt aus der Perspektive derer, die Gedichte schreibt, die manchmal auch von anderen vorgetragen werden.


    Konkret: Es gab hier in Köln mal eine Veranstaltung, bei der eine Schauspielerin mehrere Texte von mir gelesen/vorgetragen hat. Um sie nicht zu sehr zu irritieren, bin ich selber gar nicht hingegangen zu der Veranstaltung sondern habe mir später eine Videoaufzeichnung angeschaut. Ehrlich gesagt: Ich war ziemlich entsetzt, wie die das gelesen hat. Das war mir alles viel zu dramatisch, zu wenig Vertrauen in die Texte selbst, zu viel "gemacht". Ich selber - so sagen jedenfalls andere - lese meine Texte sehr zurückgenommen und irgendwie sachlich. Was damit zu tun hat, dass ich die auch so schon dermaßen intensiv finde, das weiteres Aufdrehen nur schaden würde.


    Im Grunde meines Herzen bin ich ohnehin der Meinung, dass nur ich selber meine Gedichte angemessen vortragen kann. Ich kann das schlecht aus der Hand geben. Andererseits lese ich manchmal Interpretationen, auf die ich selber gar nicht gekommen wäre. Was wieder dafür spräche, die Interpretation durch Vortragen ruhig auch mal anderen zu überlassen - was ich ja ohnehin nicht immer selber beeinflussen kann. Und letztlich kommt es wohl auch auf die künstlerische Qualität des "Mediums" an - und auf mein Vertrauen in diese Qualität.


    So weit so hoffentlich nicht allzu wirr


    von Carola :hello:

  • Salut Ulli


    Zitat

    Gott, wie hieß die Sängerin noch, deren Portrait kürzlich im TV kam? Sie meinte, man müsse einfach alles nur singen, wie es da steht, ohne zu interpretieren. Es sei die wahre Kunst, das Ego wegzulassen... sie sang überwiegend Wagner und hatte auch den Schritt in die Moderne [ich glaube, es war Berg "W"] gewagt.


    Das wird wohl Jessye Norman gewesen sein.

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


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  • Hallo Edwin


    Zitat

    Du sprichst das Boulez-Problem an. Boulez gilt als der "Eismann", weil er seine Rolle vor allem darin sieht, die Strukturen exakt deutlich zu machen - wodurch seiner Meinung nach die Musik sozusagen durch sich selbst spricht.


    Das ist natürlich ein legitimer Ansatz, aber ich glaube doch, dass man sagen kann, dass die meiste Musik nicht so gedacht ist. Speziell Komponisten von der Wiener Klassik bis zur Spätromantik hätten wohl verdutzt drein geschaut, wenn ihnen ein Dirigent eröffnet hätte, er wolle ihre Stücke so spielen, dass man die Strukturen gut erkennen kann.


    Dazu fällt mir eine kleine Anekdote ein. Vor langer langer Zeit hat Pierre Boulez die 5. Beethoven eingespielt, ganz im oberen Sinne, das heißt für damalige Ohren gehörig gegen den Strich gebürstet. Diese Aufnahme kam um Jahrzehnte zu früh, heute könnte man mit ihr vielleicht Punkten, aber mir ist nie ein CD-Transfer untergekommen. Übrigens gab es damals keine weiteren Beethoven-Symphonien von Boulez...


    Aber ich kann mich erinnern, dass diese Aufnahme einem pensionierten Philharmoniker vorgespielt wurde (der seinen Lebensabend in seiner Heimatstadt Graz verbrachte). Der hörte sich das ein paar Minuten an und winkte dann ab: "So derf ma des net spielen" war sein kurzer Kommentar.


    :hello:

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Zitat

    Original von Theophilus
    Das wird wohl Jessye Norman gewesen sein.


    Salut,


    ein, sie war es nicht. Es war eine Münchnerin...


    :hello:

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • :hello: da gibts ja viel zu sagen! (das schaffe ich nicht auf einmal...)


    Zitat

    Und das Problem der Romantik ist ja klar! Man kann nun mal nicht aus jedem Gesang eine Piano-Wahnsinns-Crescendo-Schnulze machen. Darunter leiden auch viele weltliche Chorwerke von Mendelssohn, Schubert und Brahms.


    schön gesagt! das Problem mit der Piano-Wahnsinns-Crescendo-Schnulze ist für mich sehr akut!
    So oft sieht man ein Stück "rückwirkend" - "durch die Brille eines späteren Komponisten..."
    also Mozart durch die Beethoven-Brille - ein riesiges Problem in Wien, um nicht zu sagen ein "philharmonisches Problem" ich habe mal zwei Violinsonatenabende kurz hintereinander gehört - ein Philharmoniker, eine Geigerin vom Concentus musicus - im ersten Fall fand ich die "einspiel"-Mozart-sonate :stumm:
    jenes Mozart Problem sehe ich darin, wenn man um jeden Preis polyphon interpretieren will-d.h. Nebenstimmen sucht bzw. findet, wo keine da sind
    ein Alberti-Baß ist nichts weiter als eine rhythmische Begleitstimme, "die Musik" spielt sich in der Melodie ab...IMO sollte die musikalische Gestaltung in der Melodie durch Dynamische Schattierung, Artikulation und Rubato erfolgen, während die linke Hand - unabhängig davon - dezent begleitet und nicht jede Abweichung mitmacht...quasi Singstimme und Gitarre


    wenn ich da an den Klavierunterricht denke - viele Lehrer sehen ja ihre Aufgabe darin, Crescendo Gabeln zu zeichnen...(wo keine geschrieben sind...)


    Beethoven wird durch die Brahms oder Mahler Brille gesehen, etc.
    die Frühromantik wird mit dem Schwulst der Spätromantik überladen


    mein persönliches Problem stellen viele moderne HIP Interpretationen dar - IMO ist vieles eine Art Post-Expressionismus mit Noten des 17. oder 18. Jahrhunderts. gerade der kantige, schroffe, manchmal bewußt häßliche Klang, der dem armen Vivaldi unterschoben wird, ist Kind der Gegenwart.


    mein Motto ist Identifikation mit dem Kunstwerk,
    (da habe ich in meinem Job eine hübsche Bandbreite zu bewältigen - aber mir ist klar, wenn ich mich nicht schnell genug von Broucek auf Zigeunerbaron, dann auf Evangelimann, dann auf Zauberflöte und auf Sound of music umstelle, dann spiele ich einfach schlecht.)
    Jedes Stück benötigt eine bestimmte "Einstellung", damit meine ich konkret Körperhaltungen, Spannungszustände und -verläufe, ganz besonders die Atem- und Singweise, Phrasenbildung, Artikulation


    Als einfachstes Beispiel für die Körperhaltung nenne ich Militärmärsche - es ist fast unmöglich, in lockerer Haltung zu verbleiben und ruhig weiterzuatmen, wenn man mit der Brutalität jener Musik konfrontiert ist...auch nur in der Fantasie kann ich mir diese starken Zwerchfellimpulse vorstellen, die der Rhythmus auslöst.


    wenn man -vereinfachend- eine Körperhaltung auf verschiedene Interpretationen anwendet, geht das meistens schief.


    fürs erste...

    Im übrigen bin ich der Ansicht, dass gepostete Bilder Namen des Fotografen, der dargestellten Personen sowie eine genaue Angabe des Orts enthalten sollten.
    (frei nach Marcus Porcius Cato Censorius)

  • Hallo,


    mir stellt sich die Frage, ob es nicht Werke gibt, in denen die Möglichkeiten einer freieren Interpretation besser gegeben sind als in anderen. Manche Stücke rufen für mich geradezu nach einer eigenen, zupackenden Herangehensweise. Oder täusche ich mich und grundsätzlich sind die Räume für Interpretation überall gleich?


    Beispiel Violinkonzerte: Vergleiche ich Vivaldi-Konzerte in verschieden Einspielungen, fallen mir erheblich weniger interpretatorische Unterschiede - auch wenn es sie selbstredend gibt - auf, als beispielsweise bei Sibelius. Dort habe ich in sechs mir zur Verfügung stehenden Aufnahmen ein ganzes Spektrum an Lesarten, von technisch beeindruckend aber glatt bis hin zu extremstem Espressivo auf Kosten der Sauberkeit. Wobei mir beim Sibelius-Konzert letzteres mehr zusagt.


    Täuscht mein Eindruck, dass Werken, je näher sie unserer Zeit sind, mehr Optionen eingeräumt werden, als älteren, wo sich vielleicht schon ein Idealbild einer Interpretation etabliert hat?


    Gruß B.

  • gleich ganz schnell vorweg,
    erstens nein, du täuschst dich nicht, die Räume für Interpretation könnten nicht unterschiedlicher sein...


    Ulli hat schon die Verzierungsfrage angesprochen, im 18.Jh hat sich die Einstellung zur Notation geändert.
    Beethoven wird meist als der erste gesehen, der "keine Freiheiten" gestattet hat - genaue Notierung von cresc, ritardando etc.
    die Musik Ende 19. Jh setzte IMO die Maßstäbe für genaueste Notation. Aber jeder hat seinen eigenen Stil, seine Schreibweise entwickelt...


    den Neoklassizismus würde ich als "Wiederentdeckung des Musizierens" bezeichnen, bei Hindemith ist wieder ein größerer Spielraum für den Interpreten vorgesehen.



    in der vorklassischen Musik gab es oft nur eine Handvoll forte und piano Vorschriften und ein paar Artikulationszeichen, alles andere mußte der Interpret "wissen" und dazutun...


    natürlich hat die HIP Bewegung dafür gesorgt, daß der Freiraum etwas eingegrenzt wurde...(genau festlegen läßt sich nichts...)


    Heutzutage sind mit den Aufnahmen ja zusätzliche Kriterien für eine Neuinterpretation dazugekommen, man richtet sich nicht nur nach dem Notentext, sondern nach den (Referenz)Aufnahmen...

    Im übrigen bin ich der Ansicht, dass gepostete Bilder Namen des Fotografen, der dargestellten Personen sowie eine genaue Angabe des Orts enthalten sollten.
    (frei nach Marcus Porcius Cato Censorius)

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  • Hallo,


    vielleicht ist das Problem sogar noch komplexer: Man geht immer davon aus, dass sich die großen Interpretationsfragen erst ab dem Notentext stellen. Die Noten werden als das Gegebene hingenommen (die Forschung um "historisch-kritische" Ausgaben usw. schiebe ich bei Seite - das ist 'ne andere Baustelle). Und alle Fragen kreisen darum, wie viel Freiheit sich ein Interpret bei der Umsetzung der Noten nehmen darf.


    Wenn man sich aber vorstellt, dass der Notentext ja vielleicht schon für den Komponisten nur eine Krücke war, um den Klang, den er in seiner Vorstellung hatte, irgendwie festzuhalten und gegenüber Musikern kommunizierbar zu machen, wenn man also sagt, dass im Hinschreiben von schnöden Punkten und Häkchen auf fünf Linien eine Reduzierung dessen liegt, was der Komponist im Kopf hat, dann könnte der Interpret sich viel freier zum Notentext verhalten. Er könnte sich sagen: Das ist schon nur die schwarz-weiße Kopie eines bunten Klanges, den der Komponist im Kopf trug. Ich muss dem etwas hinzufügen, genauer: versuchen, das hinzuzufügen, was bei der Notation verloren ging, damit aus dem reduzierten Zeichensystem wieder ein bunter Klang wird.


    Manchmal glaube ich, dass die wilden, bunten Partituren der Avantgarde genau das sagen wollen: Fünf Linien mit Noten sind zu wenig und gleichzeitig zu starr und formelhaft, um auszudrücken, welchen Klang wir suchen. Da machen wir lieber verrückte bunte Zeichen. Dann hat der Interpret nämlich gar keine Wahl: Er kann nicht spielen "was da steht", sondern muss Farbe bekennen und spielen "wozu ihn die Zeichen inspirieren".


    Naja, nur so ein Gedanke.


    Freundliche Grüße


    Heinz

  • gar nicht "nur", sondern eine sehr präzise Beschreibung!


    Zitat

    Dann hat der Interpret nämlich gar keine Wahl: Er kann nicht spielen "was da steht", sondern muss Farbe bekennen und spielen "wozu ihn die Zeichen inspirieren".


    das setzt dann eine ganz andere Beschäftigung voraus, die aber IMO problematisch ist - man wird vom flüssigen Noten lesen wieder aufs Noten Entziffern zurückgestuft - fühlt sich wie ein Volksschulkind...

    Im übrigen bin ich der Ansicht, dass gepostete Bilder Namen des Fotografen, der dargestellten Personen sowie eine genaue Angabe des Orts enthalten sollten.
    (frei nach Marcus Porcius Cato Censorius)

  • Zitat

    Original von Barbirolli


    Beispiel Violinkonzerte: Vergleiche ich Vivaldi-Konzerte in verschieden Einspielungen, fallen mir erheblich weniger interpretatorische Unterschiede - auch wenn es sie selbstredend gibt - auf, als beispielsweise bei Sibelius.


    Salut,


    das kommt mir persönlich jetzt eher gerade umgekehrt vor - meine "Lösung": Sibelius ist technisch weitaus schwieriger für den Solisten, so dass [fast] gar keine Zeit bleibt, irgendetwas zu interpretieren. Ausnahme: Man studiert die gewünschten Feinheiten wirklich jahrelang mühsam ein... hingegen wäre bei Vivaldi/Bach/Mozart eine Spontaninterpretation möglich.


    Irre ich mich?


    :hello:

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Zitat

    Original von tastenwolf
    gar nicht "nur", sondern eine sehr präzise Beschreibung!



    das setzt dann eine ganz andere Beschäftigung voraus, die aber IMO problematisch ist - man wird vom flüssigen Noten lesen wieder aufs Noten Entziffern zurückgestuft - fühlt sich wie ein Volksschulkind...


    Vielleicht insofern, als ein Volksschulkind von sich aus kreativer an die Sache heranginge, als ein Orchesterroutinier ...


    Dennoch steigt natürlich die Verantwortung, wenn erst mal gar nicht klar ist, was man eigentlich spielen soll. Man muß schon nachdenken, Inspiration allein reicht sicher nicht. Ich selbst fühle mich bei manchen graphischen Partituren eher hilflos oder glaube, dass sie besser nicht umgesetzt werden sollten, sondern nur angeschaut (Beispiele bei Bussotti, Brown und Haubenstock-Ramati). Beim Ober-Aleatoriker Cage ist die Sache freilich eine ganz andere, hier geht es sehr wohl um Klänge.


    Freilich kann man auch im aleatorischen Bereich als Interpret "zu viel des Guten zun", ja, gerade dort sind die Gefahren groß, vor allem bei "widerwilligen" Interpreten.

  • Zitat

    Vielleicht insofern, als ein Volksschulkind von sich aus kreativer an die Sache heranginge, als ein Orchesterroutinier ...


    mir ging es ums Buchstabieren, also um ein Nicht-lesen-können, so fasse ich jene graphischen Verschlüsselungen auf - der Musiker wird genötigt, sich die kleinsten Handlungsschritte neu zu überlegen, um zu einem Ergebnis zu kommen. Was soll daran kreativ sein?



    auf die Provokation - Routine als geistloses Abspulen eingelernter und trainierter Mechanismen - reagiere ich hier nicht...



    Zitat

    Ich selbst fühle mich bei manchen graphischen Partituren eher hilflos oder glaube, dass sie besser nicht umgesetzt werden sollten, sondern nur angeschaut


    damit kann ich mich identifizieren!



    Ulli


    Sind wir nicht durch Hör und Spielgewohnheiten bei Mozart, Vivaldi etc noch mehr eingeschränkt, als bei moderneren Werken?
    die "stilistischen Kenntnisse" scheinen mir sehr starre Gerüste zu sein - "das spielt man so" wer kann sich schon darüber hinwegsetzen?


    nebenbei zu den Verzierungsfragen - ich glaube, daß die Versuche, Verzierungen bis ins letzte festzulegen, immer scheitern werden. Somit bleiben interpretatorische Freiheiten auch hier... (Einheitstriller finde ich unglaublich öde)
    Auch Artikulationsdebatten scheinen mir darauf hinauszulaufen, daß es Regeln gibt, die frei angewendet werden können.


    Das Argument:die einzig richtige Art = "so, wie der Meister es wollte" ist ungültig...
    selbst bei extrem präzis notierten Stücken finden sich unterschiedliche Interpretationen (z.B: Ravel...)
    (bei meinem Versuch, Boulez 2.Sonate näherzukommen, war eine der wenigen Erkenntnisse die, daß ich an vielen Stellen nicht erkannt habe, was der Pianist da spielt - stand jedenfalls anders in den Noten (ich meine nicht falsche Töne -Rhythmik, Agogik, Dynamik...)



    ein "ewiges" Problem ist die Relativität musikalischer Vorzeichen: solange ein forte nicht als Dezibelzahl definiert wird, gibt es interpretatorische Unterschiede...

    Im übrigen bin ich der Ansicht, dass gepostete Bilder Namen des Fotografen, der dargestellten Personen sowie eine genaue Angabe des Orts enthalten sollten.
    (frei nach Marcus Porcius Cato Censorius)

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  • Salut Wolfgang,


    Zitat

    Original von tastenwolf
    Sind wir nicht durch Hör und Spielgewohnheiten bei Mozart, Vivaldi etc noch mehr eingeschränkt, als bei moderneren Werken?
    die "stilistischen Kenntnisse" scheinen mir sehr starre Gerüste zu sein - "das spielt man so" wer kann sich schon darüber hinwegsetzen?


    Gould zum Beispiel. :jubel: :jubel: :jubel:



    Zitat


    nebenbei zu den Verzierungsfragen - ich glaube, daß die Versuche, Verzierungen bis ins letzte festzulegen, immer scheitern werden. Somit bleiben interpretatorische Freiheiten auch hier... (Einheitstriller finde ich unglaublich öde)
    Auch Artikulationsdebatten scheinen mir darauf hinauszulaufen, daß es Regeln gibt, die frei angewendet werden können.


    Natürlich! Mozart hat seiner Schwester zu Liebe in einigen Klaviersonaten Auszierungen notiert - das sind Möglichkeiten. Ich bin ischer, er hätte es jedesmal anders gespielt. In seinen Klavierkonzerten, besonders im c-moll, ist äußerst viel nur harmonisch skizziert - da ist für den Interpreten viel zu tun! - oder nichts.


    Zitat


    Das Argument:die einzig richtige Art = "so, wie der Meister es wollte" ist ungültig...


    Nicht ganz - es stellt sich eben schon die Frage, wie es der Meister wollte. Aber gerade im "Fall Mozart" gibt es unendlich viele Möglichkeiten. Etwa anders zu machen, steht jedem frei; ob es ankommt, ist eine andere Frage.


    Zitat


    ein "ewiges" Problem ist die Relativität musikalischer Vorzeichen: solange ein forte nicht als Dezibelzahl definiert wird, gibt es interpretatorische Unterschiede...


    Solange die Relation [fff-ppp] gewahrt bleibt, wird sich sicher niemand beschweren, oder?


    :hello:


    Liebe Grüße
    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Zitat

    Original von Theophilus


    Das wird wohl Jessye Norman gewesen sein.


    Waltraud Meier wars...


    :yes:

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)


  • Verzeihung - ähm - war nicht als Provokation sondern wertfrei gemeint. Schließlich geht es in der Aleatorik nicht darum, einen Notentext so zu gestalten, dass er möglichst schwer zu lesen ist, sondern um eine Verlagerung der Grenze zwischen den Aufgabenbereichen von Komponist und Interpret. Mitunter ist ein etwas kindlicher Zugang des Komponisten bemerkbar, auf den der Interpret am besten auch etwas kindlich reagiert. Bei manchen aleatorischen Werken geht es dann hauptsächlich um das Spiel mit graphischen Elementen und deren Bedeutung im Zusammenhang mit Notation, sodass eine Ausführung durch einen Interpreten eher wenig bringt, dafür gibt es den Begriff "musikalische Graphik". Auch das ist völlig wertfrei gemeint gewesen (dass man diese Kunstwerke besser nicht spielt).


    Aleatorik ist in jedem Fall ein vielschichtiges und schwieriges Thema. "Überinterpretation" in der Aleatorik - öh, schwer zu sagen, wann und wie das passiert, falsche Interpretation gibt es auf jeden Fall.

  • Zitat

    Mitunter ist ein etwas kindlicher Zugang des Komponisten bemerkbar, auf den der Interpret am besten auch etwas kindlich reagiert



    ein toller Gedanke!! Danke :hello:




    Ulli

    Zitat

    Solange die Relation [fff-ppp] gewahrt bleibt, wird sich sicher niemand beschweren, oder?


    das mit Relation ist mitunter kaum vorstellbar - was ist bei jener Skala von ffff bis pppp ein forte, was ein fortissimo...
    auf der Orgel läßt sich eine Abstufung der Register leicht eruieren, aber am Klavier?


    und bei Komponisten, die nur ff bis pp verwenden - ist das ff dann äußerste Lautstärke?


    seltsam, daß Bach das ppp verwendet, aber (IMO) nicht das ff

    Im übrigen bin ich der Ansicht, dass gepostete Bilder Namen des Fotografen, der dargestellten Personen sowie eine genaue Angabe des Orts enthalten sollten.
    (frei nach Marcus Porcius Cato Censorius)