Einfluß des politischen Systems auf die Interpretation

  • Eine Frage, die mich seit einiger Zeit beschäftigt, ist diejenige, ob das politische System Einfluß auf die Interpretation hat.


    Pauschal könnte man behaupten, daß tendentiell in demokratischen Systemen die Gefahr besteht, daß sich Interpreten nur noch den eigenen Neigungen und dem Genuß hingeben - dem Erfolg statt der persönlichen Entwicklung. Im Totalitarismus dagegen könnten die Kreativität, der Antrieb und die Motivation zum Erliegen kommen. Die große Spannung, das Leiden unter dem Druck des Systems fördert in manchen, speziell begabten Menschen den Drang, sich nicht zu unterwerfen. Und im Kampf gegen das System bringen sie künstlerisch wertvolle Leistungen hervor.


    Wie ist Eure Meinung dazu?

  • Eine interessante These.
    Allerdings fallen mir sofort die Gegenbeispiele ein: Die Dirigenten der Sowjetunion (wobei ich jetzt außer Acht lasse, ob sie pro oder kontra waren), gingen teilweise sehr subjektiv an Werke heran. Man höre etwa Mrawinskij, Swetlanow, Kondraschin, aber auch Golowanow. Auch Solisten wie Richter, Gilels, Oistrach, Rostropowitsch etc. und auch die Sängerinnen und Sänger erscheinen mir nicht objektiv, sondern faszinierend persönlich.


    Es gibt sicher ein Grundelement des "russischen" (nicht sowjetischen) Stilgefühls, das darin besteht, schnelle Tempi bis an die Grenze der Ausführbarkeit zu steigern und langsame Tempi flüssiger zu nehmen, als das zum Teil westliche Dirigenten machen.


    Andererseits gibt es im demokratischen Westen Meister der Objektivität wie Boulez, Dohnanyi, Harnoncourt, Gielen...


    Die These kann allerdings für mittelmäßige Musiker zutreffen: Anhalten an der Obrigkeit auf der einen, scheinbarer Geniekult auf der anderen Seite.

    ...

  • hallo,


    unter totalitären regimes sehe ich eher die gefahr, dass interpreten für propagandazwecke missbraucht werden oder eben versuchen, sich dem zu entziehen. die interpretation des werkes, sofern es denn erlaubt ist, obliegt dem können und der lebenserfahrung des künstlers, nicht der art des politischen systems.


    gruß, siamak

    Siamak

  • Sagitt meint:


    Ich teile Acomas Ansicht, Künstler " des Volkes" werden zu Systemzwecken eingesetzt. Es gibt erschütternde Dokumente, wie der großartige Oistrakh sich zu Ergebensheitsaktivitäten gedrängt fühlte und die weniger systemkonformen wurden gnadenlos bedrängt, man denke an die vielen Propagandaveranstaltungen irgendwo im Sowjetreich, die Ugorskij spielen musste.
    Wir hatten schon einmal über den Film Taking sides diskutiert, Furtwänglers Turnübungen im dritten Reich.
    Ob aus Widerstand eine Kraft wächst, wage ich ein wenig zu bezweifeln. Viele Menschen neigen eher zur Anpassung. Wieviele Künstler, die im dritten Reich nicht emigrierten, haben mitgemacht und sich nachher exkulpiert, sie seien völlig unpolitisch gewesen- und natürlich in der inneren Emigration- ich kritisiere das nicht, beschreibe es nur- Aber viele von denjenigen, die " nur Kunst gemacht haben",m spielten in Propagandafilmen der Nazis oder traten bei den Wunschkonzerten auf, die an die Front europaweit übertragen wurden.
    Welcher Künstler, der nicht emigriert ist, hat sich gegen das System gestellt ?

  • Alles richtig - alles unbezweifelt. Ich bezweifle nur, dass sich das auf den Interpretationsstil in der Weise auswirkt, wie das im Eingagsstatement dargestellt wird.

    ...

  • Tamino XBeethoven_Moedling Banner
  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Alles richtig - alles unbezweifelt. Ich bezweifle nur, dass sich das auf den Interpretationsstil in der Weise auswirkt, wie das im Eingagsstatement dargestellt wird.


    Salut,


    so habe ich das verstanden: So klingen z.B. - was keine Abwertung sein soll - viele Einspielungen/Aufzeichnungen aus der Ex-DDR 'hymnisch'.


    Zum Beispiel diese hier [1976]:



    Es existiert auch noch eine Zauberflöte [zumindest TV-Version], die ich nicht näher benennen kann...


    :hello:


    Cordialement
    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Die saturierten Zeiten sind nicht bloß fürs Kabarett schlecht. Ziemlich gewaltsam muten die vielen Regieeinfälle an, wo man versucht, einen Stoff wie Aida ins politische Rampenlicht zu zerren.


    Jede Zensur läßt uns gerade politisch denkende Autoren wie z.B. Schiller ernster nehmen als die bloße Verehrung eines Klassikers.


    Das Theater in seiner unberechenbaren Wirksamkeit ist daher dem Establishment immer suspekt gewesen.


    Mir fällt natürlich Furtwänglers pflichtschuldigst abgelieferte IX. Beethoven von 1942 ein, der wohl anzuhören war, wie sie in Tempowahl und Grellheit den neuen Machthabern huldigte.


    Oder die gegen Ende der DDR erfolgte Inszenierung des Fidelio in einem Stasigefängnis.


    Es gibt aber auch den umgekehrten Fall: Böhms Wiener Fidelio von 1955, von dem man das Schlußbild bei youtube bewundern kann, atmet, soweit ich das überhaupt beurteilen kann, eine Begeisterung, in der die Freude über den Zusammenbruch des Naziregimes und das Kriegsende deutlich mitschwingt (da müßte man den Peter dazu befragen).


    Die menschliche Bedeutung des Stücks war damals gewissermaßen für jedermann mit Händen zu greifen (währen sie uns heute oft von zornigen Regisseuren um die Ohren gehauen wird).


    Insofern gibt es geschichtliche Situationen, die für die Qualität einer Aufführung unwiederhobar bleiben müssen.



    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Zitat

    Original von farinelli
    Mir fällt natürlich Furtwänglers pflichtschuldigst abgelieferte IX. Beethoven von 1942 ein, der wohl anzuhören war, wie sie in Tempowahl und Grellheit den neuen Machthabern huldigte.


    Es gibt aber auch den umgekehrten Fall: Böhms Wiener Fidelio von 1955, von dem man das Schlußbild bei youtube bewundern kann, atmet, soweit ich das überhaupt beurteilen kann, eine Begeisterung, in der die Freude über den Zusammenbruch des Naziregimes und das Kriegsende deutlich mitschwingt (da müßte man den Peter dazu befragen).
    :hello:


    Bis auf den Umstand, daß Böhm keineswegs die politische Antipode zu Furtwängler war, als die er hier wohl beispielhaft dienen soll, und die er nach dem Krieg vielleicht gerne gewesen wäre... Ist auch kein Geheimnis und vielerorts nachzulesen.

  • Zitat

    Original von La Gioconda
    Bis auf den Umstand, daß Böhm keineswegs die politische Antipode zu Furtwängler war, als die er hier wohl beispielhaft dienen soll, und die er nach dem Krieg vielleicht gerne gewesen wäre...


    Ich werde doppelt mißverstanden; nur deshalb, liebe Gioconda:


    Ich kenne die besagte Beethoven IX. bloß aus einem Filmbeitrag - dort wurde es (auch aus Furtwänglers Sicht) - so dargestellt, als sei die Aufführung ein gerade noch tolerabler Affront gegen die anwesenden Nazi-Größen gewesen (eine in der triumphalen Exaltiertheit deutlich den Charakter des Konzerts karikirende Interpretaion des Dirigenten). Spezialisten werden Ihnen hier besser weiterhelfen als ich.


    Ebensowenig ist es für mich von Belang, ob Böhm - mit jenem Fidelio - ein Stück innerer Katharsis hat abliefern wollen. - Mir geht es mehr um die in Orchester, Chor und unter den Solisten entzündete Begeisterung, die etwas Gelöstes und Befreiendes hat.


    Vergleichen Sie da mal die Festaufführung der Meistersinger mit Wilhelm Rode, oder die Königsberger RS-Übertragung:


    http://www.youtube.com/watch?v=BlmJ8k4nJEk&feature=related


    Das wäre für mich der Geist der NS-Zeit als hörbare Farbe in der Aufführung. Im übrigen würde ich mich, für meine Person, dagegen wehren, Furtwänglers oder Böhms Dirigate mit dem Geist jenes Regimes in eine unmittelbare Verbindung zu bringen.


    Ich weiß, das ist ein vermintes Terrain. Auch Veit Harlan hat nach dem Krieg zum Film "Jud Süß" dahingehend Stellung bezogen, er habe die ungeliebte, ihm aufgezwungene Arbeit so weit wie möglich an die Grenzen einer Anklage treiben wollen; die berüchtigte Schlußszene sei gemeint als himmelschreiende Opferung, nicht als schadenfrohe Hinrichtung.


    Furtwänglers zu Propagandazwecken verwendete Meistersinger-Vorspiel-Aufführung "vor Arbeitern" wirkt in der Tat auf eine seltsame Weise ernst und getragen, als spiegele sich in der Musik der nordische Schnitt der Gesichter. Ich habe das Stück in dieser Form kennengelernt und mich später gewundert, wie humorvoll diese Musik eigentlich ist. - Aber das geht vielleicht doch auf das Konto der "Demagogie der Bilder", nicht der Musik.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


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  • Zitat

    Original von farinelli
    Vergleichen Sie da mal die Festaufführung der Meistersinger mit Wilhelm Rode, oder die Königsberger RS-Übertragung:


    http://www.youtube.com/watch?v=BlmJ8k4nJEk&feature=related


    Nach nochmaligem Hören finde ich diese Aufnahme fast harmlos gegen die bereits erwähnte Aufführung von 1935 mit Böhm:


    "http://www.youtube.com/watch?v=-YXh1pa_TeE"


    Hier ist Rode stimmlich aber auch m. E. weitaus besser.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

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  • Zitat

    .....Böhms Wiener Fidelio von 1955, von dem man das Schlußbild bei youtube bewundern kann, atmet, soweit ich das überhaupt beurteilen kann, eine Begeisterung, in der die Freude über den Zusammenbruch des Naziregimes und das Kriegsende deutlich mitschwingt......


    Krieg und Naziregime waren 1945 vorbei - danach kam für Österreich eine 10-jährige 4-Mächte-Besatzungszeit.
    1955 erhielt die Republik Österreich durch den Staatsvertrag mit den vier Besatzungsmächten ihre volle staatliche Souveränität zurück. Im September 1955 verließen die letzten sowjetischen Soldaten das Staatsgebiet, diejenigen der Westalliierten folgten am 25. Oktober. Hierüber begeistert zu sein, würde ich noch gelten lassen, aber 1955 waren Kriegsende und Nazizeit schon weit weg, die schwingen in dieser Aufnahme ganz bestimmt nicht mehr mit!


    LG


    :hello:

    Harald


    Freundschaft schließt man nicht, einen Freund erkennt man.
    (Vinícius de Moraes)

  • Lieber Harald,


    Danke für die kleine Kopfwäsche :baby:; ich habe offenbar recht unsinnig spekuliert.


    Ganz so unbedarft bin ich aber auch nicht; natürlich weiß ich, daß den Hauptanlaß 55 die Wiedereröffnung der Wiener StO geboten hat. Damals waren die Kriegsfolgen im Stadtbild und auch sonst sicher noch präsent; andererseits ist mir bewußt, daß die Kriegszeit damals nicht das Hauptgesprächsthema war und die große Not und die Wirren der unmittelbaren Nachkriegsjahre das Überleben an die erste Stelle rückten.


    Vielleicht kann man gelten lassen, daß seinerzeit das Wiederanknüpfen an die große Operntradition, das vor der Welt auf diesem Felde wieder Bestehen Können, jenen Festakten einen anderen Impetus und Idealismus verlieh, als in einer Aufführung unserer Tage.


    Und damit meine ich keineswegs etwas wie ein "Wir sind wieder wer". Tatsächlich ist ja die europäische Kultur von Tätern wie Opfern ursrpünglich und bis weit in den Krieg hinein als eine ungeteilte wahrgenommen und wertgeschätzt worden (noch in Polanskis unlängst gesendetem "Pianist" schlägt die Musik ja solch eine unwahrscheinliche Brücke). Nach der Vertreibung und Eliminierung der unliebsamen Künstler war die Musik im deutschen Sprachraum immer noch ein Residuum europäischer Werte oder konnte doch so verstanden werden - ich denke etwa an Gustav Gründgens, der den Pringsheims, den Schwiegereltern Thomas Manns, noch immer Logenplätze in der Oper verschaffte, als dies für Juden längst nicht mehr möglich war.


    Aber ich schweife ab ...



    LG, :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Zitat

    Original von farinelli
    Mir fällt natürlich Furtwänglers pflichtschuldigst abgelieferte IX. Beethoven von 1942 ein, der wohl anzuhören war, wie sie in Tempowahl und Grellheit den neuen Machthabern huldigte.


    Lieber Farinelli!


    Bitte eimal diese 9. ganz hören, was, wie in einem anderen Beitrag ja deutlich wird, noch nicht geschehen ist. Dies ist keine Huldigung, sondern eine einzige Anklage. Übrigens wundert es mich immer, dass man Furtwängler oder auch anderen Künstler das Dirigat, die Teilnahme an bestimmten Veranstaltungen, den Händedruck usw. übelnimmt (übrigens immer noch nur bestimmten Künstlern). Was bitte hätten sie anderes in dieser Situation tun sollen? "Nein, Herr Hitler, Ihnen gebe ich nicht die Hand!" Wohl kaum. Aber das ist sicherlich ein ganz anderes Thema. Ich wollte eigentlich auch nur etwas zu der Huldigungsbehauptung schreiben. Das ist es definitiv nicht!


    :hello: Gustav

  • Zitat

    Original von farinelli


    Ich werde doppelt mißverstanden; nur deshalb, liebe Gioconda:


    :hello:


    Alles klar! :)
    Schwieriges Thema. Vom musikalischen Stil her hätte etwa auch Toscanini perfekt in Mussolinis System gepaßt - hat er aber nicht. Was Sänger betrifft, finde ich schon, daß sich das über-emphatische, fast hysterische in der politischen Rede bei manchen Sängern wiederfindet, vor allem Tenören zB:
    Max Lorenz, Helge Rosvaenge, Aureliano Pertile.