Religion - Muse oder Hemmschuh der Musik?

  • Das ist vielleicht doch schon ein heikles Thema. Aber heikle Themen sind ja vielleicht doch manchmal auch die interessantesten.


    Meine eigne Meinung zum Thema ist: Sowohl als auch. Manchmal ist die Religion Hemmschuh der Musik, manchmal versucht sie Musik in eine sakrale, unvitale, unlebendige Ecke abzudrängen. Manchmal aber mag sie auch Muse sein, dem Musiker eine spirituelle Grundlage geben, ihn erst zu einer wahrhaft tiefen, spirituellen Musik inspirieren.


    Wüßte ich mehr als ich weiß ( und leider weiß ich wenig), wäre das sicher ein unerschöpfliches Thema, beginnend schon mal mit der Renaissancemusik, die wir nur als kirchliche Chormusik kennen, von der ich mir aber habe sagen lassen, daß in ihr "weltliche musikalische Themen", geradezu verpönt, ja sogar verboten waren. Und dann gab es in der Kirche natürlich zu frühen Zeiten auch immer den Streit um Polyphonie und Homophonie und den Versuch, Musik in die Homophonie zurückzudrängen. Aber das sind alte Geschichten.


    Daß aber Religion auch eine Muse war, ist für mich ebenso unstrittig. Und solange sie eben dies und nichts als dies ist, sehe ich sie gerne in dieser Rolle als Muse, als Quellle der Inspiration.


    Dabei will ich es erst einmal belassen, vielleicht kommen wir ja im Laufe eines sich hoffentlich noch ergebenden Threads ja mal auf das eine oder andere ( und vielleicht auch für mich neue) zu sprechen. Zum Beispiel darauf, ob denn eine gewisse Musik überhaupt religiös ist oder nur von der Religion in Anspruch genommen wird, eine andere vielleicht religiös ( obwohl man das vielleicht gar nicht einmal von ihr gedacht hat).


    Gruß Martin

  • Alleine schon wenn man Bach betrachtet, merkt man, dass viel für die erste Alternative spricht.
    Jeder Musikliebhaber sollte dankbar sein, dass es die Religion gibt, unabhängig welches Verhältnis er oder sie sonst zur Religion hat.


    1. Ich denke das viele Musiker (bes. BAch) über sich hinausgewachsen sind, weil sie "für Gott" geschrieben haben. Die Religion wirkte als Ansporn und als Verhinderer vom Müßiggang und Mittelmäßigkeit. Gott quasi als das vorgezogenes, tägliche Fegefeuer :D.


    2.Darüber hinaus bietet die Religion die besten Vorlagen für Musik. Zum Beispiel die Passionsgeschichte. Und wie viel ärmer wären wir, wenn es nicht die Vorlage für die geistlichen Kantaten gegeben hätte?


    Mir fällt kein konkreter Grund ein, warum Religion ein Hemmschuh sein sollte.
    Vielleicht wurden bestimmte Komponisten und Musiker zum Teil gebremmst in ihren modernen Ansinnen.

    "Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten" Gustav Mahler

  • Vereinzelte "Kirchenfürsten" wirkten schon als Hemmschuh...
    Da wurde Palestrina ja erst aufgefordert seine Polyphonie zu mässigen, später wurde er dann zur musikalischen Galionsfigur der musikalischen Gegenreform ausgerufen. In katholischen Kreisen gab es immer extreme Schwankungen, ob nun äusserlich prunkvolle Musik erwünscht sei oder gemässigte. (In den protestantischen Kirchen wurden diese Fragen ja teils noch extremer ausgefochten, man bedenke wie die Pietisten die Musik verteufelt hatten).


    Wie gesagt, in seiner Zeit durfte sich Palestrina mit seiner harmonisch/polyphonisch erweiterten Musik gegen die Feinde der musikalischen Sinnenfreude durchsetzen, Palestrina befreite also die Musik in der Kirche. Im 19./20. JH gab es dann die Caecilianer, die eine "Musik im Stile Palestrinas" einforderten (vollkommen groteske Forderung!), also "im Namen Palestrinas" eine Beschränkung im musikalischen Ausdruck einforderten... Palestrina hätte auf diesen Missbrauch seines Namens wohl so geantwortet:


    :angry: :motz: :kotz:


    Mozarts Brötchengeber Erzbischof Coloredo war zwar weit toleranter als Kaiser Joseph II (der eine starke Beschränkung der Kirchenmusik erzwang), hatte aber keine Lust, daß die Messe (auch feierliche Hochämter!) länger als 45 Minuten dauerte, was Mozarts natürlich auch extrem daran hinderte umfangreichere Kirchenmusikwerke zu schreiben.
    Bezüglich der 45-Minuten-Messe muß man aber sagen, daß die Predigt wohl damals nicht innerhalb der Messe stattfand.


    Im Barock wurde in Italien ja auch mal irgendwann von Kirchlichen Kreisen die Oper verboten, was dann halt zu sinnenfreudigen Oratorien führte...


    So, das waren ein paar Gedanken zum "Hemmschuh der Kirchenführer" - dass die "Religion" (reichlich abstrakter Begriff eigentlich) ansonsten hauptsächlich einen sehr guten Einfluß auf die Musik hatte, meine ich schon.


    Auch der "Kirche" hat die Musik meiner Meinung nach trotz der oben genannten Einschränkungen viel zu verdanken.

  • Hallo Martin,


    gerade will ich einen seit einiger Zeit vorbereiteten Thread über „Musik als Heilung von religiösen Gefühlen“ posten, und sehe bei Durchsicht der neuen Beiträge dieses Thema. Stark! Smob, Du wirst sehen, warum durchaus schon einiger unserer Klassiker Sorge vor religiösen Gefühlen hatten.


    Und was Du im Thread über „Kompromittierte Musik“ über Bruckner geschrieben hast, ist eine interessante These. Zum Beispiel Bruckners 1. Sinfonie zeigt, wie sehr er in die Welt hinauswollte. Und doch halte ich Bruckner und seine Musik für religiös, sei dies auch noch so sehr in verschiedenen Büchern platt getreten. Ich bin überzeugt, ohne es natürlich beweisen zu können, aber was gelten bei diesen Fragen Beweise: Er spürte die innere Kraft, die ihn beim Komponieren beflügelte, dankte Gott dafür und sah auf eine neue Weise darin eine Art Auftrag, dies in die Welt zu tragen.


    Es ist schwer, dies nicht missverständlich in Worte zu bringen, aber ich verstehe es wie eine eigene Art von Missionsgedanken, der Welt zu zeigen, welcher Fähigkeiten er sich sicher war. Und da stieß er auf eine Welt, der kaum etwas fremder wurde als die Religion.


    So möchte ich am Ende Deine Frage am Beispiel von Bruckner fast umkehren: Kann nicht auch eine Umgebung, die der Religion verständnislos oder gar feindlich gegenüber steht, ein Hemmschuh für Musik sein, jedenfalls, wenn sie von einem Komponisten wie Bruckner komponiert und vorgetragen wird?


    Viele Grüße,


    Walter

  • Ich finde nicht einmal, dass die genannten Kirchenfürsten Hemmschuhe gewesen wären. Die Auflagen hatten zwar etwas Anderes im Sinn, regten aber auch die Phantasie der Komponisten gewaltig an. Mozarts "Missa brevis" ist schon ein Geniestreich!


    Religion, Glaube ganz allgemein, ist ein der größten Inspirationsquellen durch die Jahrhunderte hindurch. Mir fallen mir nur drei Komponisten ein, die ich zur "ersten Garnitur" zählen würde und die keine Inspiration durch den Glauben fanden: Schostakowitsch und Bartók von den Klassikern und von den Modernen Boulez.

    ...

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  • Lieber Edwin,


    bist Du da bei Schostakowitsch so sicher? Ich lese in meiner Rowohltmonographie zur 7. :


    Zitat

    Seine 7. Sinfonie ( ..). hatte eine Textgrundlage, wie er einmal in einem vertrauten Gespräch mitteilte: die Psalmen Davids, insbesondere wo es heißt: "Gott nimmt Rache für vergossenes Blut", hätten ihm den emotionalen Impuls gegeben


    ( Seite 70, bezieht sich seinerseits auf Volkov, der wie ich weiß allerdings umstritten ist, hab ihn mal gelesen, sehr interessant)


    Das geht dann noch eine Weile so weiter. Nun glaube ich ehrlich gesagt nicht, daß Schostakowitsch ein im engeren Sinne religiöser Mensch war, trotzdem: Das gibt zu denken.


    Gruß Martin

  • Es gibt zu denken, ich weiß - aber was Wolkow anlangt, habe ich halt größte Zweifel. Ich glaube, er wollte Schostakowitsch in einem ganz bestimmten Licht erscheinen lassen, und hat ein wenig dazugemacht und wahrscheinlich ein wenig weggelassen.
    Maxim Schostakowitsch etwa bezeichnete Wolkows Buch als Fälschung. Allerdings war Kondraschin gegenteiliger Meinung.


    Als religiösen Menschen würde ich Schostakowitsch jedoch auch dann nicht einstufen, wenn das Zitat echt ist. Immerhin ist das grandiose Literatur, man muss nicht gläubig sein, um sie zu bewundern oder sich von ihr inspirieren zu lassen.

    ...

  • Lieber Edwin,


    das ist mir alles äußerst unklar, so wie ich überhaupt denke, daß die entscheidenden Dinge über Schostakowitsch wohl für immer im Dunkeln bleiben werden, zumindestens dann, wenn man Volkov keinen Glauben schenken will. Mir erschien er glaubwürdig, zumal mir die Bekundungen von Menschen, die in einem totalitären System leben, auch nicht ganz glaubhaft erscheinen. Ich hatte eigentlich immer gedacht, daß nach dem Ende der Sowjetunion und ihrer totalitären Struktur mal irgend was aufsehenerregendes nachkommen würde, aber mir ist nichts bekannt geworden. Die Zweifel wurden nämlich glaube ich zu einer Zeit geäußert, als die Sowjetunion noch ein totalitärer Staat war oder sehe ich das falsch?


    Insofern könnte ich mir halt doch vorstellen, daß Schostakowitsch auf einer bestimmten Ebene religiös war. Deine Vorstellung vom Religiösen ist mir zu schwarz weiß oder meinetwegen auch blau grün. Da gibt es halt den frommen Betbruder, der jeden Tag 20 Ave Maria betet, und da gibt es halt den Unreligiösen, der aber - wie Schostakowitsch ein literarisches Interesse an der Bibel findet, wenn man dem Volkov Glauben schenken darf. So einfach ist die Sache mit Sicherheit nicht.


    Umgekehrt kann ich mir nun wieder vorstellen, daß irgendein Komponist des 15. oder 16. Jahrhunderts, der hochheilige Messen schrieb, in Wahrheit gar nicht sonderlich religiös war. Man sollte sich doch bitte einmal klar machen, daß der Atheismus historisch meines Wissens das erste mal im vorrevolutionären Frankreich im 18. Jahrhundert auftrat ( Diderot könnte der erste gewesen sein). Also ein Händel oder Johann Sebastian Bach etwa lebten noch zu einer Zeit, in der Atheist zu sein eine solche Ungeheuerlichkeit war, daß es nicht einmal historisch überliefert ist ( jedenfalls habe ich es so gelesen, wer es besser weiß, kann mich gerne eines anderen belehren).


    Da ich mir nun irgendwie auch nicht so ganz vorstellen kann, daß in 1800 Jahren Christentums ( oder jedenfalls seit der Installation des Christentums als Staatsreligion) nun niemals jemand auf die Idee gekommen sein soll, daß es Gott vielleicht doch nicht gibt, bis dann schließlich Diderot dieser Einfall gekommen ist, kommst Du an der Tatsache nicht vorbei, daß das Christentum über viele Jahrhunderte eben doch auch eine totalitäre Struktur gewesen ist, wie es der Islam heute weitestgehend noch ist.


    Insofern halte ich nun in totalitären atheistischen Staaten jeden Komponisten religiöser Gedanken für fähig, auch wenn er sie vielleicht nur ganz im geheimen auslebt, umgekehrt aber in totalitären Religionssystemen, weiß ich von dem "wie's da drinnen aussieht" auch nur herzlich wenig.


    Insofern nun - ganz provokant gesagt ( nicht daß ich das jetzt glaube, aber argumentieren ließe sich so)- vielleicht war ja der Schostakowitsch eigentlich doch ein viel religiöser Mensch als der Bach - wissen kannst Du es nicht.


    Gruß Martin

  • Zitat

    Original von Martin



    Da ich mir nun irgendwie auch nicht so ganz vorstellen kann, daß in 1800 Jahren Christentums ( oder jedenfalls seit der Installation des Christentums als Staatsreligion) nun niemals jemand auf die Idee gekommen sein soll, daß es Gott vielleicht doch nicht gibt, bis dann schließlich Diderot dieser Einfall gekommen ist, kommst Du an der Tatsache nicht vorbei, daß das Christentum über viele Jahrhunderte eben doch auch eine totalitäre Struktur gewesen ist, wie es der Islam heute weitestgehend noch ist.


    Lieber Martin,


    mit dem obigen Vergleich wäre ich vorsichtig: Den Islam gibt es genausowenig wie es das Christentum jemals gab- in dem Sinne das es sich um monolithische Blöcke handelt. Der Islam zerfiel schon kurz nach Mohammeds Tod in zwei Richtungen: Sunniten und Schiiten, um nur ein Beispiel zu nennen. Und die Kirche als Institution unterscheidet sich von totalitären Regimen wie der UDSSR durchaus- auch wenn im Namen Gottes viele Verbrechen begangen worden sind, und im Unterschied zu den meisten totalitären Staaten hat sich die katholische Kirche zu i hren Fehlern bekannt- zuletzt beispielsweise Benedikt XVI. oder auch sein Vorgänger Johannes Paul II.


    Bei der Frage ob die Religion Muse oder Hemmschuh der Musik gewesen ist, muss man zwischen dem persönlichen Glauben des Einzelnen oder der Kirche als Institution unterscheiden. Allerdings würde ich sagen, dass die Kirche weitmehr als Förderin der Künste und damit auch der Musik in Erscheinung getreten ist, denn als Hemmschuh. Keine Kirche keine Missa Solemnis.


    Herzliche Grüße,:hello:


    Christian

    Beherrsche die Sache, die Worte werden folgen! (Cato der Ältere)

  • Lieber Christian,


    da hast Du mich aber wirklich falsch verstanden. Ich habe mit dem Christentum von heute im wesentlichen keine Probleme, ich würde mich sogar in gewisser Hinsicht wenn auch kirchlich ungebundenen Christen bezeichen und halte viel vom jetzigen Papst und auch seinem Vorgänger.


    Es geht auch nicht darum ob das Christentum oder der Islam monolithische Blöcke sind. Sind sie sicher nicht. Aber wenn ich weiß, daß in einer Gesellschaft 100% Christen oder 100% Muslime sind, dann ist allerdings eine solche Gesellschaft für mich totalitär! Daß dieser Totalitarismus die blumigsten Ausprägungen gefunden hat, daß es zum Beispiel in der Renaissance solche Ideen wie die der doppelten Wahrheit gegeben hat ( es gibt eine religiöse und eine wissenschaftliche Wahrheit, die religiöse ist grundsätzlich übergeordnet muß aber nicht übereinstimmen), im England des 17. Jahrhunderts wenn ich mich recht erinnere dann solche schönen Dinge wie den Deismus ( es gibt den christlichen Gott, er hat nur mit der Welt überhaupt nichts mehr zu tun), das sind alles zwar hochinteressante Vorformen auf dem Weg zur Freiheit, die aber erst da beginnt, wo Du Dich wirklich auch offen zu Deinem Atheismus bekennen kannst.


    Und wiegesagt dies sage ich alles als durchaus spiritueller Mensch, der sich selber als Christ versteht und dem Christentum äußerst freundlich gegenüber gesonnen ist. Vor allem halte ich das Christentum für eine äußerst vernünftige Religion, allerdings eben keine "Vernunftreligion", die Ideen einer "Vernunftreligion" sind im Grunde 18. Jahrhundert und ihren albernen Versuchen, das Irrationale zu rationalisieren.


    Mit all dem fällt es mir im Traum nicht ein, Renaissance und Barock mit der Sowjetunion zu vergleichen, nur weil beides eben 100% Gesellschaften waren. Der Unterschied ist völlig evident: Religion ist etwas gegenüber Ideologie unendlich erhabenes und die Religionspolitik innerhalb dieses "totalitären Systems" äußerst komplex.


    Aber wiegesagt, Fichte hat man noch Anfang des 19. Jahrhunderts wegen angeblichem Atheismus von der Universität geschmissen. Anderseits muß man nun wieder sagen, daß die Öffnung der christlichen Gesellschaft, die wir immer noch sind, zur Freiheit zum "ich glaube an Gott" oder auch "ich bin Atheist", zum selbstverständlichen freien Bekenntnis Deiner Haltung, ohne daß Dir daraus ein Nachteil widerfährt, eine Geschichte der größten Katastrophen war.


    Dies nur als Hintergrund. Aber Du mußt einfach sehen, wenn Du Kultur, also auch Musik aus früheren Jahrhunderten betrachtest, vor welchem gesellschaftlichen, politischen und auch religiösen Hintergrund diese statt fand. Sonst stehst Du in der Gefahr, diese Gesellschaften völlig falsch zu lesen. Also wenn ich dann sinngemäß hier lesen mußte, das es in den frühen Jahrhunderten der klassischen Musik bis sagen wir Beethoven nur christliche, gläubige Komponisten gegeben hat, dann ist dies nun wirklich keine große Erkenntnis, solange dies sowieso nur 100% Gesellschaften waren!


    Und ich wollte den Islam keinesfalls abwerten. Aber das es nun in der islamischen Welt nun doch wohl noch viele "100%" Gesellschaften gibt, daß es für Dich eben in der muslimischen Gesellschaft nun nicht gerade selbstverständlich ist zu sagen: Ich will kein Muslim mehr sein, ich werde Atheist und halte den Islam für Unsinn, also das ist doch wohl nun wirklich völlig offensichtlich.


    Gruß Martin

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  • Hallo Martin,


    Zitat

    Die Zweifel wurden nämlich glaube ich zu einer Zeit geäußert, als die Sowjetunion noch ein totalitärer Staat war oder sehe ich das falsch?


    Du meinst die Zweifel an Wolkow? - Nun: Maksim Schostakowitsch ist immerhin ausgewandert und hat das Sowjetsystem mit ganz klaren Worten beschrieben. Nur Wolkow hat er als Lügner hingestellt.
    Kondraschin, ebenfalls ausgewandert, meinte, Wolkow sei authentischer Schostakowitsch.


    Das Problem dabei ist, dass es keine privaten Aufzeichnungen Schostakowitschs gibt. Der Mensch Schostakowitsch mit seinen wirklichen Überzeugungen wird also immer ein Objekt von Vermutungen sein.
    Ich kann es nur rein subjektiv sagen: Schostakowitschs Musik mutet mir humanistisch, aber nicht religiös an. Aber - wie gesagt: Das ist mein Gefühl. Und sagt im Grunde nur über mein Verhältnis zu Schostakowitsch, aber nichts über Schostakowitsch selbst aus.

    ...

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner


    Ich kann es nur rein subjektiv sagen: Schostakowitschs Musik mutet mir humanistisch, aber nicht religiös an. Aber - wie gesagt: Das ist mein Gefühl. Und sagt im Grunde nur über mein Verhältnis zu Schostakowitsch, aber nichts über Schostakowitsch selbst aus.


    Ich verstehe die ganze Diskussion um Schostakowitsch nicht? Ich dachte es herrscht allgemeine Einigkeit, dass Schostakowitsch ein waschechter Sozialist war? Demzufolge war er natürlich NICHT religiös.
    (Sozialismus geht schließlich aus dem Atheismus hervor)


    Zum Thema:
    Meiner Meinung nach ist die Religion ganz klar eine Muse und kein Hemmschuh.
    Ich sehe das nämlich ganz einfach: Allgemein kann nur die Liebe einen Komponisten zu wirklich graziöser Musik inspirieren. Ob man dabei ordentlich in ein Mädchen "verknallt" ist ( 8)) oder eine unendliche Liebe zu Gott hat, spielt dabei keine Rolle.
    Die Religion ist also in Form von Liebe eine unglaubliche Muse der Musik.
    (so sentimental das für manche auch klingen mag)

  • Hallo Thomas,


    also das überrascht mich doch schon stark. Hast Du nicht im Thread über Propaganda folgendes geschrieben:


    Zitat

    So höre ich auch sehr ungern religiöse Werke. Aber ich weiß auch das Glauben einen Menschen erstarken lassen kann und respektiere und beneide die Gläubigen. Das will ich nur klar stellen, ich möchte hier niemanden vor den Kopf stoßen. Für mich ist Glauben auch so etwas wie Politik und deshalb ist es, ginge es nach mir, in einem Klassikforum unumgänglich auch das Thema Politik in dem Forum auch einmal anzuschneiden, schließlich geht es in der Klassik oft um religiöse Inhalte.


    Und nun überrascht Du mich damit, daß Du in der Religion eine Muse der Musik sehen willst. Überrascht mich doch sehr, muß ich Dir doch sagen.


    Aber in Bezug auf den "waschechten Sozialisten" Schostakowitsch erwachen bei mir eben die Zweifel. Was sagst das schon? Wiegesagt: Schostakowitsch wuchs in einer totalitären atheistischen Struktur auf, so wie viele Komponisten früherer Zeiten in einer totalitären theistischen Struktur. Ich kann mich da nur wiederholen. Ich weigere mich einfach, Musiker, die in totalitären Strukturen agierten, unter diese totalitären Strukturen zu vereinnahmen. Schostakowitsch als "waschechten Sozialisten" unter die totalitäre Struktur, unter der er immer agieren mußte, zu vereinnahmen, ist eigentlich hundsgemein. Das war jetzt selbstverständlich nicht gegen Dich gerichtet, Thomas.


    Gruß Martin


    @ Edwin Stein Baumgartner. Lese gerade Krysztof Meyers Schostakowitsch Biographie. Der schreibt:


    "Die von Volkov zusammengestellten Meomoiren von Schostakowitsch sind außerordentlich wichtig (...) Auch wenn wir davon ausgehen, daß es sich bei diesem Buch um ein Apokryh handelt, können wir seinen Wert für die Biographie Schosakowitschs kaum überschätzen."

  • Lieber Martin,
    warum widerspricht sich das? Ich glaube fest daran, dass Menschen, die vollkommen vereinnahmt von Gott und in vollkommener spiritueller Trance sind, eher wunderbare Musik fabrizieren.
    Es ist wie überall: Dort wo halbherzig an die Sache rangegangen wird, kommt nichts Außergewöhnliches Zustande. Die Religion aber, lädt geradezu dazu ein, sich selbst zu übertreffen.
    Trotz alledem muss ich die Musik nicht mögen.
    Wenn du unter zweierlei unterscheiden kannst, nämlich zwischen guter Musik und Musik die dir selber gefällt, dann wirst du es verstehen.


    Es geht hier ja um die Muse DER Musik und nicht um die Muse MEINER Musik.

  • Zitat

    Lese gerade Krysztof Meyers Schostakowitsch Biographie...


    Die Schostakowitsch-Problematik bleibt nicht auf einen Biografen beschränkt. Wolkow will in seinem zweiten Buch "Stalin und Schostakowitsch" ebenfalls religiöse Grundzüge bei Schostakowitsch feststellen. Meyer wiederum hat sich ein Schostakowitsch-Bild zurecht gezimmert und versucht es zu belegen - wie praktisch jeder, der sich mit diesem Komponisten befasst. Warum? - Weil Schostakowitsch den Menschen Schostakowitsch vor jeder Öffentlichkeit verborgen hat. Und zwar so erfolgreich, dass es kein einziges Selbstzeugnis gibt, das weiterführen würde.


    Der religiöse Schostakowitsch scheint mir eine Erfindung zu sein, die dem Wunschdenken entspringt. Immerhin hat Schostakowitsch Stalin überlebt - und auch nachher kein einziges Werk geschrieben, das eine religiöse Überzeugung verraten würde. Möglich wäre etwas Derartiges während und nach der Tauwetter-Politik gewesen - zu sehen etwa an Alfred Schnittkes 2. Symphonie, die ganz direkt auf Religion, sogar auf eine katholische Messe, Bezug nimmt. Natürlich hatte Schnittke mit Problemen zu kämpfen - aber nicht mehr als Schostakowitsch. Ich bin überzeugt, hätte Schostakowitsch ein religiöses Statement machen wollen, hätte er es getan.


    Meiner Meinung nach fühlte sich Schostakowitsch primär als Russe und sekundär als Sozialist, vielleicht sogar Kommunist. Seine humanistische Prägung ließ ihn allerdings den Stalinismus vehement ablehnen. Und auch weiterhin zögerte er nicht, politische Statements zu machen, wenn er eine Ungerechtigkeit spürte - siehe 13. Symphonie. Insoferne würde ich sagen, dass Schostakowitsch ein Wahrheitssuchender war, der mit seinen Mitteln gegen Verlogenheit, Korruption und menschenverachtendes Denken ankämpfte. Ich bin aber der Überzeugung, dass er es auf humanistischer, nicht religiöser Grundlage machte.

    ...

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  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Du meinst die Zweifel an Wolkow? - Nun: Maksim Schostakowitsch ist immerhin ausgewandert und hat das Sowjetsystem mit ganz klaren Worten beschrieben. Nur Wolkow hat er als Lügner hingestellt.


    aus "der lange weg zur wahrheit", vorwort zur "memoiren" neuausgabe 2000 von michael koball:
    "[...] maxim schostakowitsch rückte nach seiner emigration in den westen 1981 nach und nach von seinen zuvor gemachten äußerungen ab [...], bis er [...] schließlich vollends die seiten wechselte: 'alles, was in dem buch über die verfolgung meines vaters und die politischen umstände gesagt wird, entspricht voll und ganz der wahrheit.[...]' "


    allerdings ist das auch nur eine facette des ganzen wolkow-wahr-oder-nicht-komplexes. im selben vorwort wird eine angebliche wendung der prominenten memoiren-kritikerin laurel fay nur dürftig aus zweiter hand belegt. irina schostakowitsch, die witwe, zweifelte (-zumindest 1997) nach wie vor an der echtheit.


    im übrigen: weitestgehend d'accord mit deiner meinung über schosta
    :hello: