Alban BERG: WOZZECK

  • Liebe Musikfreunde,


    in Anlehnung an die Inhaltsbeschreibung im hiesigen Opernführer (BERG, Alban: WOZZECK) möchte ich für die Interessierten über dieses mir so wertvolle und musikgeschichtlich bedeutsame Werk noch einige Informationen abgeben:


    1914 sah Alban Berg in den Wiener Kammerspielen eine Aufführung des Woyzeck nach Georg Büchner. Dieses Werk basiert auf einer tatsächlichen Begebenheit, nämlich dem Soldaten Christian Woyzeck (1780 - 1824), der in Leipzig seine Geliebte, die Witwe eines Chirurgs, erstach. Nach drei Jahren Hin und Her in Sachen der Zurechnungsfähigkeit, es wurden psychiatrische Gutachten ent- und verworfen, wurde er schließlich zum Tode verurteilt und hingerichtet.


    Von der Theatervorstellung war Alban Berg so beeindruckt, dass er sofort beschloss, nach diesem Stoff eine Oper zu schreiben, und begab sich an die Änderung des Textes. Unterbrochen durch den Kriegsdienst dauerten die Arbeiten bis 1922, die Oper wurde als Klavierauszug mit finanzieller Unterstützung Alma Mahlers herausgegeben.


    Am 14. Dezember 1925 wurde der "Wozzeck" an der Wiener Staatsoper unter Erich Kleiber uraufgeführt. Die Reaktion war geteilt wie so oft: konservative Ablehner gegen visionäre Anhänger. Selbstverständlich wurde das Werk im "Dritten Reich" verboten.


    Die Schreibweise "Wozzeck" erklärt sich gegenüber "Woyzeck" lediglich durch das falsche Entziffern des Büchnerschen Handmanuskriptes. Wie ich persönlich meine, ist der Name "Wozzeck" für diese Oper tatsächlich besser geeignet, da die verächtliche Einstellung der Personen gegenüber dem armen Kerl durch das konsonante und scharfe"zz" besser zum Ausdruck kommt.


    Zum Musikalischen werde ich, falls es angebracht ist, eventuell später noch etwas hinzufügen. Ich möchte hier lediglich zum Ausdruck bringen, dass für mich der "Wozzeck" eines meiner wenigen Lieblingswerke des Musiktheaters ist. Bei und nach jedem Hören bin ich sehr ergriffen. Die Einheit von Musik und Text finde ich perfekt.


    Wenngleich ich überhaupt kein Freund des Sprechgesangs oder gar des gesprochenen Wortes in der Oper bin, stört mich dies in diesem Werk überhaupt nicht, nein es muss hier so sein und dient dem Gesamten. Es sind allerdings keine Dialoge oder Rezitative, das Stück ist durchkomponiert.


    Über Äußerungen hinsichtlich der Eindrücke des Werkes sowie eingespielter Interpretationen würde ich mich freuen.


    Gruß,


    Uwe

    Ich bin ein Konservativer, ich erhalte den Fortschritt. (Arnold Schönberg)

  • "Wozzeck" ist eine der großen Opern der Musikgeschichte. Nach "Wozzeck" konnte die Oper nie wieder so sein, wie sie vorher war.
    Die Genialität Bergs offenbart sich auf drei Ebenen: Er kann Stimmung erzeugen (Abenddämmerung, Nebelschwaden und in der Kneipe kann man praktisch den Fusel stinken hören), er kann ganz unmittelbar menschlich ergreifende Musik schreiben - und er schafft es, das in einem formalen Rahmen zu machen, der seiner Musik Struktur, Richtung, Klarheit verleiht.
    Darüber hinaus ist "Wozzeck" eine sehr kurze Oper - man sollte das als Pluspunkt unbedingt anführen. Mit rund 90 Minuten Musikdauer hat er die richtige Länge, um weder zu überfordern noch einzuschläfern. Kurz: Es ist eine der dramatischesten Opern der gesamten Musikgeschichte, es gibt keine einzige Stelle, die durchhängt.


    Dazu kommt, dass Berg keine Scheu hat, bekanntes Vokabular zu verwenden, um sich verständlich zu machen: Der Militärmarsch IST ein Militärmarsch, das Wiegenlied IST ein Wiegenlied etc. Eingefärbt natürlich, aber unmittelbar zugänglich.


    Und ich behaupte noch etwas: "Wozzeck" ist ein Triumph der Melodie. Ja, ja, jetzt spinnt er total, der Edwin. Nein, tut er nicht! Praktisch alle inhaltlich und charkterlich wesentlichen Wendungen des Textes - und das sind doch ziemlich viele - werden in echten Melodien ausgedrückt. Beispiele: "Wir arme Leut'", "Das ist die schöne Jägerei", "Soldaten sind schöne Burschen", "Mädel, was fangst du jetzt an" etc., etc. Oder man höre nur auf die Kantilene im Orchester, wenn Marie das Märchen erzählt; oder diese wunderbare Wendung, die das - übrigens tonale - Zwischenspiel nach Wozzecks Tod durchzieht. Berg ist ein glänzender Opernkomponist, der seine Melodien gezielt einsetzt - und damit ins Herz des Zuhörers trifft.


    Im Grunde wüsste ich keinen Vorzug, den "Wozzeck" nicht hätte. Ein Jahrhundertwerk!

    ...

  • Mich interessiert dieses Stück auch sehr.


    Welche Aufnahmen könnt ihr empfehlen ?


    Es gibt eine DVD Aufnahme mit Abbado. Kennt ihr diese ?


    Auf CD ist auch noch Barenboim erhältlich.

    Gruß
    Rüdiger


    ________________________
    Lärm ist ... nur eines der Übel unserer Zeit, wenn auch vielleicht das auffälligste. Die anderen sind Grammophon, Radio und neuerdings die verheerende Television.


    C.G. Jung

  • hallo,


    kann mich obigen meinungen nur anschließen: wozzeck ist ein geniales stück musiktheater.


    ich habe die abbado-cd, leider nicht die dvd (die gabs damals noch nicht).
    aber: ich habe die produktion seinerzeit in wien live gesehen, das war ganz groß. wenn die dvd klanglich und bildmäßig nur halbwegs in ordnung ist, lohnt sich der kauf auf jeden fall.



    ich kenne auch den naxos-wozzeck aus stockholm mit segerstam, der ist auch nicht schlecht. aber grundheber (bei abbado) ist mir als wozzeck schon lieber.


    bei jpc gibts grad einen wozzeck von böhm (mit geraint evans, anja silja) um 5,99 - kennt den jemand?


    greetings, uhlmann

  • Hallo,


    aus meiner Sicht empfehlenswert sind die Einspielungen von Böhm (DG, Wunderlich als Andres!), Boulez (CBS, Walter Berry hervorragend als Wozzeck) und Mitropoulos (CBS, Ersteinspielung von 1951, vor allem orchestral herausragend, momentan nicht erhältlich). Abbado sollte man als DVD haben: die Regie Dresens in konventionellen Bühnenbildern ist gut, Grundheber und Behrens rollendeckend, Abbados Interpretation vielleicht etwas neutral im Ausdruck.


    Ein jüngst erworbener, offiziell nicht erhältlicher Mitschnitt aus der Bayerischen Staatsoper mit Carlos Kleiber (1970) hat meine Zuneigung zu diesem Stück noch einmal erheblich verstärkt. Ein äußerst kompliziertes musikalisches Geflecht - und doch so sinnlich und luftig. Berg beweist, daß "modern" keineswegs gleichzusetzen ist mit "unzugänglich". Diese Stimmungen, etwa die nach Andres´"Still! Drinnen trommeln sie." einsetzende Abenddämmerung, die dann direkt in den prahlerisch ausschreitenden Militärmarsch übergeht oder diese himmlische Stelle der Celesta im Wiegenlied Maries... Großartig. Und dann dieses wirklich dämonische Akkordeon in der Wirtshausszene, das dortige "Tanzvergnügen", dessen grobmotorische Bewegungen man wie durch einen akustischen Schleier wahrnimmt...


    Etwas aber hat mich dann doch gestört: Berg hat den Büchner-Text dahingehend geändert, daß der Doktor Wozzeck nun vorwirft, "gehustet" zu haben, während er doch eigentlich "wie ein Hund auf der Straße gepißt" hat. In heutigen Aufführungen wird diese falsche Rücksichtnahme auf den damaligen Publikumsgeschmack m.W. wieder rückgängig gemacht.


    Grüße


    GiselherHH

    "Mache es besser! (...) soll ein bloßes Stichblatt sein, die Stöße des Kunstrichters abglitschen zu lassen."


    (Gotthold Ephraim Lessing: Der Rezensent braucht nicht besser machen zu können, was er tadelt)

  • Hallo,


    die DVD unter Abbado kann ich wirklich nur als DVD empfehlen. Franz Grundheber spielt den Wozzeck wirklich klasse, bringt ihn als psychisch fertigen und resigniertes Opfer heraus. Ansonsten die Stimmen: naja, in Ordnung, aber nicht besonders. Die entsprechende CD ist akustisch, wie schon angedeutet, nicht gut. In dieser Live-Zusammenschnitt-Aufnahme hört man einige Gesangspassagen kaum, da diese vom Blech und dem Streichertuttis überlagert sind.


    Aber die Aufnahme unter Pierre Boulez mit dem Pariser Opernorchester! Vom Feinsten! Boulez führt so konkret, so deutlich, dass man die einzelnen Stimmen - Hauptstimmen / Nebenstimmen sehr gut heraushören kann. Außerdem - und das ist für mich der groß Vorteil dieser Einspielung - kann man den Aufbau des Stückes gut verfolgen. Ich meine, man kann die Themen in den Verarbeitungen verfolgen, da diese gut herauszuhören sind. Ebenso die Motive, von denen die Oper voll ist. Boulez Einspielung ist fast schon eine Analyse des Stückes.


    Man könnte nun denken: Und wovon lebt das Stück? Pulsiert es? Meine Antwort ist eindeutig: Und ob. Es pulsiert, es ist spannend, die Musik geht kontinuierlich nach vorne.


    Die Sänger, sowohl die großen wie die kleineren Partien, sind ausgezeichnet. Sie kommen klar rüber und singen mit viel Nuancen, der Sprechgesang ist toll gemeistert.


    Auch aufnahmetechnisch eine gute Aufnahme.


    Tut mir leid, wenn ich so schwärme. Das passiert bei mir nicht so häufig. Aber es handelt sich hier für mich um ein Ausnahmewerk in einer Ausnahmeeinspielung.


    Gruß,


    Uwe

    Ich bin ein Konservativer, ich erhalte den Fortschritt. (Arnold Schönberg)

  • Ich muss mich Uwe anschließen: Die Boulez-Einspielung ist für mich unschlagbar.
    Sie entstand in einer Zeit, als man um dieses Werk noch nicht eine Repertoire-Oper war. Die Pariser Oper wollte das Werk mit französischen Kräften in französischer Sprache spielen. Boulez wehrte sich. Er meinte, dass eine zentrale Stelle etwa Wozzecks "Das Messer..." sei. Berg notiert einen Auftakt ("Das"), einen höheren längeren betonten Ton ("Mes-") und einen tieferen, unbetonten, kurzen "-ser"). Auf Französisch heißt die Stelle "Le couteau" - und das ergäbe entweder eine völlig unfranzösische Betonung oder einen unzulässigen Eingriff in Bergs Musik - wenn man nämlich die Töne an den Sprachtonfall anpasst.
    Mit solchen Argumenten setzte Boulez seinen Willen durch - mit dem Ergebnis, dass er auch ein Ensemble bekam, das akzentfreies Deutsch spricht.


    Was Boulez dann aus der Musik macht, ist atemberaubend - nicht nur, weil jede, absolut jede von Berg notierte oder verbal vermerkte Nuance umgesetzt wird: Die Akkorde sind unglaublich ausbalanciert (das ist für mich die eine Schwäche der legendären Böhm-Aufnahme), die Rhythmen sind völlig präzise, und eine Unmenge an Probenarbeit hat bewirkt, dass das Orchester Bergs Musik dermaßen beherrscht, dass es mit ihr einen natürlichen Umgang pflegen kann. Soll heißen: Es geht nicht mehr um die Gewinnung des richtigen Tons, sondern um den exakten Ausdruck.


    Boulez dirigiert nun "Wozzeck" weniger als Oper des Aufbegehrens, sondern als Oper des Mitleids; er legt in der Musik einen derartigen Schmerz, aber auch eine unglaubliche Liebe zum Menschen bloß, was von Walter Berry in der Titelrolle unterstützt wird. (Fischer-Dieskau ist für mich das zweite Manko bei Böhm, in den Sprechgesang-Stellen ist das Freistil, und die artifizielle Gesangsweise Fischer-Dieskaus passt für mich weniger zum Wozzeck als die menschlichere Berrys.)


    Eine zweite in meinen Ohren faszinierende Aufnahme ist die von Herbert Kegel: Das ist Leidenschaft pur, Theo Adam in der Titelrolle ist unglaublich, und Kegel lässt es in der Musik brodeln und kochen - und grell aufstrahlen. Irgendwie erinnert mich die Kegel-Einspielung an die Gemälde von Emil Nolde: Aufschreiend, eruptiv, wild und grell - und doch auch zart und unendlich schön in den Zwischentönen.

    ...

  • Ich hatte leihweise sowohl die Abbado DVD wie auch die DG-CD, es sind unterschiedliche Aufnahmen, die CD ist wohl klanglich und auch musikalisch noch etwas besser als die DVD.


    Heinz Zednik (Riesenpluspunkt der Abbado-Aufnahme) ist auch stimmlich ein viel überzeugender hysterischer Hauptmann als der der Boulez-Aufnahme. Ist zwar nur ein Aspekt, mehr kann ich nicht liefern, weil ich die Abbado-Aufnahmen ja derzeit nicht besitze, aber man sollte Abbado nicht als hervorragende Zweitaufnahme unterschätzen.

  • Wenn man eine textundeutliche Marie akzeptiert, eine Weichzeichnung des Orchesterparts, ein paar Balancefehler und das Nivellieren von Haupt- und Nebenstimmen, bekommt man mit der Abbado-Aufnahme eine akzeptaple Einspielung geliefert, deren Wozzeck fast so gut ist wie der, den Boulez hat und deren Hauptmann besser ist als der der Boulez-Aufnahme. So würde ich's gelten lassen...
    Zur Abbado-DVD: Ich kenne sie nicht, ich kenne aber die Aufführung der Wiener Staatsoper - und finde sie zum Gähnen langweilig. Mag sein, dass das auf der DVD anders wirkt. Aber ob "Wozzeck" ein so freundliches Genrestück aus dem heiteren Soldatenleben ist, wie man's in der Staatsoper zu sehen bekam und bekommt, wage ich ansatzweise zu bezweifeln.

    ...

  • @ Edwin


    Zitat

    ich kenne aber die Aufführung der Wiener Staatsoper - und finde sie zum Gähnen


    Die Abbado-DVD wurde im Theater an der Wien aufgezeichnet. :D


    :hello:

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  • Zur Erklärung, weil mit der Ortsangabe Nicht-Wiener nämlich Probleme haben können: Die Abbado-Aufführung des "Wozzeck" ist die der Wiener Staatsoper. Sie ist auch heute noch zu sehen, wenn der "Wozzeck" auf dem Programm steht.
    Das Theater an der Wien ist ein kleineres, akustisch unglaublich gutes Haus. Die Staatsoper, die (ich vereinfache das jetzt) dem Bund untersteht, hat das Theater an der Wien, das der Stadt Wien gehört, hie und da angemietet, etwa für Mozart-Produktionen, die später auch in das große Haus übersiedelten.
    Ich nehme an, dass es für das Aufnahmeteam bequemer war, die Aufführung im leichter beherrschbaren Theater an der Wien aufzuzeichnen.


    Was ich zuerst eher meinte, war, dass eine Aufführung auf DVD besser wirken kann - dann nämlich, wenn sie von vorne herein filmisch angelegt ist oder die Regie für die Belange der DVD nachbearbeitet wird. Brittens "Turn of the Screw" in der Luc Bondy-Aufführung etwa fand ich auf der Bühne uninteressant, auf DVD hingegen wirkt die Produktion fabelhaft!

    ...

  • Hallo,


    Zitat

    Und ich behaupte noch etwas: "Wozzeck" ist ein Triumph der Melodie. Ja, ja, jetzt spinnt er total, der Edwin. Nein, tut er nicht!


    Tut er wirklich nicht. Ich wüsste gar nicht, was in dieser Oper überhaupt dagegen spräche.


    Zitat

    Etwas aber hat mich dann doch gestört: Berg hat den Büchner-Text dahingehend geändert, daß der Doktor Wozzeck nun vorwirft, "gehustet" zu haben, während er doch eigentlich "wie ein Hund auf der Straße gepißt" hat. In heutigen Aufführungen wird diese falsche Rücksichtnahme auf den damaligen Publikumsgeschmack m.W. wieder rückgängig gemacht.


    Auch ich finde die "Pinkelversion" besser, aber gönnen wir dem Alban Berg diese Variation. Wie ich gehört habe, hat er dies gemacht, weil er sich und seine eigene Krankheit auf die Schippe nehmen wollte; er war Asthmatiker, litt auch sehr darunter.


    Uwe

    Ich bin ein Konservativer, ich erhalte den Fortschritt. (Arnold Schönberg)

  • Ich überlege nur eben:
    "Er hat auf der Straße wieder gepißt" - macht 10 Silben.
    "Er hat auf der Straße wieder gehustet" - macht 11 Silben und zwangsläufig eine Note mehr.
    Natürlich ist das eine Kleinigkeit - aber weshalb muss dieser Eingriff in das sein, was Berg komponiert hat? Nur, weil das Pissen ein kräftigeres Reizwort ist als das Husten?
    Wagnerianer streiten sich, ob es im "Siegfried" richtig heißt "Selige Öde auf wonniger Höh" oder "Selige Öde auf sonniger Höh".
    Und bei Berg ist es egal auch dann, wenn an den Noten herumgebessert wird?


    Zitat

    Tut er wirklich nicht. Ich wüsste gar nicht, was in dieser Oper überhaupt dagegen spräche.


    Zitate aus meinem Bekanntenkreis:
    "Das hält man ja nicht aus, dieses Gekreische."
    "Nichts als Sprechgesang und keine einzige Melodie."
    "Dieses Herumspringen von einem Ton zum anderen halte ich nicht aus."
    O.k., ich weiß schon, dass es meine eigene Schuld ist, solche Bekannte zu haben. Dennoch: Die Meinung gibt's...

    ...

  • Hallo,


    Zitat

    Natürlich ist das eine Kleinigkeit - aber weshalb muss dieser Eingriff in das sein, was Berg komponiert hat? Nur, weil das Pissen ein kräftigeres Reizwort ist als das Husten?


    Völlig richtig! Auch wenn Woyzeck im Fragment von Büchner nicht ungefragt pinkeln darf, hat Alban Berg sich nun einmal für seine persönliche Variante entschieden, was er ja auch technisch gesehen stimmig in den Gesamtzusammenhang gesetzt hat und was auch so gespielt werden sollte (was Boulez natürlich auch getan hat). Mit den 12-Tönern kann man es ja machen...


    Für diejenigen, die es mit der Musik der letzten hundert Jahre nicht so haben: Das Büchner-Fragment wurde auch ganz ordentlich und fast wortgetreu (also auch Annäherung an das Opernlibretto) verfilmt, und zwar von Werner Herzog, mit Klaus Kinski als Woyzeck. Vor einigen Jahren hat mich der Film sehr mitgenommen, aber jetzt, nachdem ich die Bergsche Oper bereits sehr häufig gehört und verfolgt habe, wirkt der Film für mich vergleichweise leer. Das zeigt mir, wie stark Alban Berg den Wozzeck geschrieben hat, wie kraftvoll die Musik den Text ergänzt, um die größtmögliche Wirkung zu erzielen.


    Uwe

    Ich bin ein Konservativer, ich erhalte den Fortschritt. (Arnold Schönberg)

  • Hallo Edwin und Uwe,


    in kompositionstechnischer und werkintegraler Hinsicht habt Ihr natürlich Recht (bei Wagner wurde ja auch gelegentlich geändert: Nach 1945 "Schützer" statt "Führer" im Lohengrin). Mich stört am "Husten" eben ein wenig die mangelnde Logik eines solchen Verbotes. Der Doktor macht mit Wozzeck doch so eine Art Ernährungsexperiment und da braucht er dessen Urin für seine Untersuchungen. Das "Husten" ist in diesem Zusammenhang eigentlich völlig unerheblich. Aber das kommt halt davon, wenn man Vorlage und Veroperung gleichsetzt - jedes ist eben ein eigenständiges Kunstwerk!


    Grüße


    GiselherHH


    P.S. @Edwin: Ich habe selbst "eigenohrig" mitbekommen, daß eine Konzertbesucherin (sie war Abonnentin!) zu Ravels gerade gehörter "Ma Mère l´Oye" knapp feststellte: "Also ich nenne sowas ´Krachmusik´!" :kotz:

    "Mache es besser! (...) soll ein bloßes Stichblatt sein, die Stöße des Kunstrichters abglitschen zu lassen."


    (Gotthold Ephraim Lessing: Der Rezensent braucht nicht besser machen zu können, was er tadelt)

  • Hallo Giselher,
    ja, bei Ravel fängt's an scheußlich zu werden. Nicht jeder mag den Nonenakkord.


    Übrigens bringt mich die Erwähnung des Films darauf, ebenfalls noch einen "Wozzeck" zu erwähnen, und zwar die Oper von Manfred Gurlitt.


    Gurlitt hatte zweimal Pech: Er komponierte den Wozzeck unabhängig von Berg - und wurde von Berg in den Schatten gestellt. Und er komponierte vor Zimmermann "Die Soldaten" - und wurde von Zimmermann in den Schatten gestellt.


    Zum "Wozzeck": Auch Gurlitt macht eine sehr kurze Oper daraus, etwa 70 Minuten, und auch er tendiert zu absoluten Formen. Auch die Auswahl der Bilder ist ähnlich.
    Der "Gegen-Wozzeck" ist es dennoch nicht geworden: Gurlitts Musik ist konservativer als die Bergs, obwohl auch sie in Expressionismus und Neokassizismus Wurzeln hat. Vor allem aber ist sie nicht halb so suggestiv in der Schilderung von Stimmungen und Charakteren - und sie ist nicht ansatzweise so prägnant in der melodischen Formulierung. Eine Oper für all jene, die im Vergleich erfahren wollen, dass Bergs "Wozzeck" unvergleichlich ist.

    ...

  • Hallo,
    hat Karl Böhm den Wozzeck nur 1 x aufgenommen?
    Mir liegt die Berliner Aufnahme von 1965 mit DFD in der Hauptrolle vor.

    Freundliche Grüße Siegfried

  • Zitat

    Original von Siegfried
    Hallo,
    hat Karl Böhm den Wozzeck nur 1 x aufgenommen?
    Mir liegt die Berliner Aufnahme von 1965 mit Dietrich Fischer-Dieskauin der Hauptrolle vor.


    Hallo Siegfried,


    seit einigen Tagen bin ich im Besitz einer weiteren Böhm-Aufnahme des Wozzeck mit Anja Silja und Fritz Uhl u.a.
    Habe aber bis jetzt erst den ersten Akt geschafft.
    Gefällt mir jedoch gar nicht schlecht soweit.




    Gruß, Peter.

  • Hallo,


    @ Siegfried


    Zitat

    hat Karl Böhm den Wozzeck nur 1 x aufgenommen?


    Karl Böhm hat den Wozzeck meines Wissens mindestens 5 mal aufgenommen. Fast alle Aufnahmen waren Live-Mitschnitte (ich glaube, darunter fällt auch die, deren ersten Satz Peter bereits gehört hat).


    Ich habe mir vor einigen Monaten eine der wenigen (oder einzige?) Studioeinspielung von Karl Böhm mit Dietrich Fischer-Dieskau und Evelyn Lear geliehen (werde ich mir als nächstes kaufen, falls noch erhältlich): diese Aufnahme war für mich fast das Gegenstück zu der Aufnahme unter Boulez. Während Boulez, wie ja oben bereits beschrieben, sehr analytich und deutlich, die Akzente hervorhebend leitet, vernachlässigt dies Böhm etwas, schlägt dafür größere Spannungsbögen und läßt die Farbe der Instrumente, die Klangfarbe mehr zur Entfaltung kommen. Dies wirkt auf mich etwas berauschender; auch der Gesang hat mir sehr gut gefallen.



    @ Peter


    Hast Du Dich auch zu den beiden weiteren Sätzen durchgerungen?


    Uwe

    Ich bin ein Konservativer, ich erhalte den Fortschritt. (Arnold Schönberg)


  • Ja, Uwe.
    Ich habe mich mittlerweile durchgehört (mit Partitur, sonst wäre es weitaus schwieriger gewesen). War aber für mich keine große Schwierigkeit, nur ein Zeitproblem.
    Ich kann jetzt nicht sagen, dass mich der Wozzeck vom Hocker gehauen hat, ich war aber auch nicht irgendwie abgeschreckt. Er hat mir gefallen, mehr kann ich dazu kaum sagen. :angel:



    Gruß, Peter.

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  • Ich habe eine Frage zu dieser Oper.


    Ich würde gerne in diese Oper gehen, nur was erwartet mich da?
    Da das eine Oper aus dem 20(?) Jahrhundert ist wird ja auch die Musik ein wenig anders sein als die von der Zauberflöte oder den Meistersingern von Nürnberg z. B. weil diese ja früher komponiert wurden.


    Ich habe gehört die Musik sei etwas gewöhnungsbedürftig? Nicht so leicht zu hören.


    Sollte ich, bevor ich in die Oper gehe mir erstmal die Oper zu Hause anhören , also auf CD?


    Danke für Tipps.


    Grüße Bastian

  • Hallo Bastian,


    Zitat

    Da das eine Oper aus dem 20(?) Jahrhundert ist wird ja auch die Musik ein wenig anders sein als die von der Zauberflöte oder den Meistersingern von Nürnberg z. B. weil diese ja früher komponiert wurden.


    Ich würde das folgendermaßen sagen: der Unterschied, entwicklungstechnisch gesehen, zwischen Meistersinger und Wozzeck ist sehr groß wie der zwischen Zauberflöte und Meistersinger. Aber klar, an die Nach-Schönbergsche Harmonik und Melodik muss man sich gewöhnen.


    Der Wozzeck macht es einem da allerdings nicht allzu schwer. Er ist voller Dramatik, Emotionen und Spannung, die einen unweigerlich in den Bann ziehen (so ging es zumindest mir).


    Zitat

    Sollte ich, bevor ich in die Oper gehe mir erstmal die Oper zu Hause anhören , also auf CD?


    Diese Frage beantwortet jeder wohl verschieden. Ich persönlich kann, gerade beim Wozzeck, anraten, den Genuss des ERSTEN MALS auszukosten und ohne vorheriges Studium der Partitur die Oper zu genießen. Falls später weiteres Interesse besteht, kannst Du Dich ja allmählich in das reiche "Innenleben" der Komposition hineintasten.


    Was ich auf jeden Fall rate ist, den Text vorher zu lesen. Wenn das Verständnis für die Handlung von vornherein da ist, bleibt natürlich mehr Platz und Konzentration für die Dramatik und das "Miterleben" der Emotionen.


    Aber: Läuft in Deiner Nähe der Wozzeck? Ich habe von einer mir bekannten Sängerin lediglich gehört, dass die Vorbereitungen für die "Lady Macbeth von Mzensk" für den Sommer in Mannheim bereits in vollem Gange sind (ist auch was für mich).


    Gruß,


    Uwe

    Ich bin ein Konservativer, ich erhalte den Fortschritt. (Arnold Schönberg)

  • Zitat

    Original von Uwe Schoof


    Ich würde das folgendermaßen sagen: der Unterschied, entwicklungstechnisch gesehen, zwischen Meistersinger und Wozzeck ist in etwa so groß wie der zwischen Zauberflöte und Meistersinger. Aber klar, an die Nach-Schönbergsche Harmonik und Melodik muss man sich gewöhnen.


    Jedenfalls ist der Unterschied zwischen Zauberflöte und Tristan ziemlich sicher größer als der zwischen Tristan und Wozzeck...


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Hallo Bastian!
    Der "Wozzeck" ist eine sehr kurze Oper, sie wird Dich sicher nicht langweilen. Berg konzentriert das Geschehen in rund 1 1/2 Stunden. Und er schleudert Dir seine Musik sehr direkt an den Kopf.
    Dennoch: Es ist tolle Musik. Sie hat wirklich Melodie, und Du wirst sehen, dass Berg den Text faszinierend umsetzt.
    An Deiner Stelle würde ich das Libretto lesen, in die Aufführung gehen und die ganz unmittelbar wirken lassen. Abgesehen davon: Zumindest ich wäre sehr gespannt, wie Dein Eindruck von dem Werk ist, was Dir gefallen hat, was nicht, und was Dir vielleicht nicht gefallen, Dich aber doch fasziniert hat.
    Auf keinen Fall ist der "Wozzeck" verlorene Zeit - Du wirst sehen und hören!

    ...

  • @Edwin vom 1.2.06:


    Als Siegfried weiß ich,wie sicher es heißt:


    Selige Öde auf sonniger Höh'!
    Was ruht dort schlummernd im schattigen Tann?
    Ein Ross ists,rastend in tiefem Schlaf!


    Es sind Wagners Stabreime,die sich trotz ihrer Textlängen gut lernen und merken lassen.Bei Brünnhildes enganliegendem BH liest sich das so:


    Von schwellendem Atem schwingt sich die Brust:
    Brech ich die engende Brünne?

    Freundliche Grüße Siegfried

  • Hallo Siegfried!


    Und deshalb ist's ja so sonderbar, dass ich selbst die Höh fast immer als wonnig vernahm.
    Dann hat mich der Dirigent Peter Schneider, der auf sonnig bestand, erklärt, es handle sich bei wonnig um einen Druckfehler aufgrund einer Partiturabschrift. Und tatsächlich steht in meinem Klavierauszug ebenso wie in meiner Partitur wonnig.


    Aber wetten, dass das einmal eine musikwissenschaftliche Dissertation wird - falls es nicht schon eine ist...?!


    LG

    ...

  • Hallo Edwin,


    Sobald ich meinen Ruhestand erreicht habe,such ich mir einen Doktorvater dafür.
    Dann denke ich und dichte darauf,
    was kernig fließt aus der Feder Kiel.
    und wenn der Wonnen werden zu viel,
    erahn ich das Ende und höre auf.

    Freundliche Grüße Siegfried

  • Hallo,


    gerade im Internet ein Zitat gelesen:


    "Wozzeck" repräsentiert die Zusammenschau der "Oper an sich" und hat damit vielleicht endgültig die Geschichte dieses Genres beendet - es scheint durchaus so, als müßte sich nach einem solchen Werk das musikalische Schauspiel neue Ausdrucksformen suchen.
    Pierre Boulez


    Uwe

    Ich bin ein Konservativer, ich erhalte den Fortschritt. (Arnold Schönberg)

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