Bruckner: Symphonie in d-Moll - die „Nullte“

  • „ungiltig, verworfen, ganz nichtig, Ø“


    Mit diesen Zusätzen versah Bruckner die Partitur , als er seine d-moll Symphonie (spätestens 1872 nach Vollendung der II. Symphonie) annullierte.


    Diese Bezeichnungen haben nicht gerade einer gesteigerten Wertschätzung dieses Werkes gedient, und so fand und findet die d-moll Symphonie nur selten Einzug in die Konzertsäle.


    Ich habe manchmal den Eindruck, diese Symphonie wird immer nur dann eingespielt, wenn ein Zyklus komplettiert werden soll oder muss.


    In den Gesamtaufnahmen der Herren Asahina, Chailly (Concertgebouw und DSO), Barenboim (Chicago SO), Bruckner Orchester Linz / Eichhorn/Guschlbauer/Sieghart, Haitink (Concertgebouw), Maazel (Bayerisches RSO) , Solti (Chicago SO) findet man die „Nullte“, insgesamt ist das Werk 26 mal auf Tonträger erschienen (Vergleich Vierte: mehr als 200).


    Über die Entstehungszeit gab und gibt es unterschiedliche Auffassungen der Forschung, auf die hier aber nicht näher eingegangen werden soll, durchgesetzt hat sich wohl, dass das Werk zwischen dem 24. Januar und dem 12. September 1869 in Wien und Linz entstanden ist.


    Es liegt nur eine Fassung vor, Widmung gibt es keine.
    Die Uraufführung fand am 17. Mai 1924 (nur Scherzo und Finale), und am 12. Oktober 1924 (komplett) unter Franz Moißl in Klosterneuburg statt.


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    Satzbezeichnungen:
    1. Allegro
    2. Andante
    3. Scherzo. Presto – Trio. Langsamer und ruhiger
    4. Finale. Moderato – Allegro vivace



    Der Beginn des ersten Satzes erinnert sehr stark an den Beginn von Beethovens IX. Wie bei vielen anderen Bruckner-Werken auch, entsteht das Thema „aus dem Nichts“, aus einem Urnebel heraus.
    Der Wiener Hofkapellmeister Otto Dessoff soll nach der Begutachtung der Symphonie gefragt haben: „Ja, wo ist das Thema?“


    Neben das Haupt- und das Gesangsthema gesellt sich im Kopfsatz auch noch ein Choralthema hinzu, das dem Satz (wie dem ganzen Werk) einen sakralen, ja transzendenten Charakter vermittelt, ein guter Aufhänger, um die Brücke zum zweiten Satz zu schlagen.


    Hier hören wir kirchenliedartige Passagen, einen Choral, und die Erkenntnis, dass Bruckner das Orchester wie eine Orgel registriert wird in diesem Andante überdeutlich .


    Beim Scherzo wird der Hörer geradezu ins musikalische Geschehen hineinkatapultiert. Das in späteren Symphonien benutze Stilmittel „Energie-Stau / Entladung“ kann hier schon verfolgt werden.


    Das Finale zeigt einmal mehr, dass Bruckner ein geübter Kontrapunktiker war.
    Die Symphonie endet in einem strahlenden d-Dur.


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    Ich selbst beschäftige mich erst seit kurzem mit diesem Werk, deshalb ist der beschreibende Teil oben etwas „dünn“, aber dazu gibt es ja jetzt diesen Thread, in den jeder seine Eindrücke dieses Werkes und seine Lieblingeinspielungen nennen soll.


    Meine Favoriten sind:


    Tintner / Irland


    Maazel SO des bayerischen Rundfunks (nicht ganz einfach, dranzukommen)



    ... viel mehr habe ich bisher auch nicht gehört, ich wollte mir jetzt mal Asahina (Tokyo Metr. SO, 1979) und Marriner (Stuttgart RSO 1993) vornehmen und werde dann weiterberichten.


    Ich habe ausserdem die Aufnahme aus der Barenboim/Chicago Box, einen Asahina mit dem Osaka PO, und Chailly mit dem Berlin RSO.



    Eine hochgelobte Einspielung, die ich aber nicht mein Eigen nennen kann, ist Skrowaczewski, Saarbruecken RSO 22-25/3/99.


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    PS: Special thanks an den Unzeitgemässen, der mir dieses Werk näher gebracht hat.

  • Hallo Holger,


    Zitat

    Der Beginn des ersten Satzes erinnert sehr stark an den Beginn von Beethovens IX.


    Genau - Bruckner hat sich an Beethoven, den er sehr verehrte, gerne orientiert und das macht schon die Nullte für mich sympatisch.
    Ich höre das Werk schon deshalb ganz gerne, weil ich zwei anständige Aufnahmen habe.


    Beide sind aber nicht mehr als Einzel-CD zu haben:
    1.) Chailly / Deutsches SO Berlin auf Decca
    Eine TOP-Aufnahme in allen Punkten, die auch noch die frühe Ouvertüre in g enthält.
    Eigendlich hätte ich mir nach dieser sehr guetn Auifnahme nie mehr eine andere gekauft, aber in meiner Bruckner-Solti-Decca-Box ist die Nr.0 auch enthalten.
    2.) Solti / Chicago SO auf Decca
    Solti steht Chailly kaum nach und bietet noch die besseren Blechbläser des CSO.
    Beide verstehen es die noch vorhandenen kompositorischen Schwächen zu überdecken - TOP. Bei Solti hat man schon den Eindruck einer großen Bruckner-Sinfonie, aber deshalb ist die Aufnahme nicht besser als Chailly.
    Die Klangqualität ist bei beiden höchstwertiger Decca-Sound.

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Zitat

    Original von teleton
    Beide verstehen es die noch vorhandenen kompositorischen Schwächen zu überdecken


    Das interessiert mich jetzt mal, wo in diesem Werk die kompositorischen Schwächen genau stecken?


    Ich jedenfalls habe keine entdeckt, oder war das nur so dahergesagt? :rolleyes:


    Das soll jetzt keine Kritik sein, aber ich möchte mit diesem Thread ja auch eine Lanze für dieses Frühwerk Bruckners brechen.


    Und nur, weil einige Jet-Set Dirigenten© dieses Werk immer links liegen lassen, muss es noch lange nicht "schlecht" sein.


    Vielleicht schaffen wir mit dieser Diskussion ja ein bisschen Leben in diesen Thread zu bekommen, der seit gestern so vor sich hindümpelt-anscheinend kennt kaum jemand diese d-moll Symphonie, weil sich in allen Köpfen verankert hat: "Das Werk zeigt noch kompositorische Schwächen", ist demnach minderwertig.


    Andererseits, wenn ich im Nachbarthread zur #8 lese, daß das Scherzo und das Finale nur überflüssiges Beiwerk in dieser Symphonie sind, dann wundert mich eigentlich gar nichts mehr. :motz:

  • Hallo Holger,


    Bruckner selbst hat doch nach seiner Fertigstellung der Sinfonie Nr.0 festgestellt, das es noch nicht das ist, wofür er eine Nr.1 bereitstellen würde - deshalb hat er die Sinfonie später Nr.0 genannt.
    Erst die wirkliche Nr.1 war der erste bruchnersche Durchbruch - in ihrem formalen Aufbau schon vollendet - eine der meistgehörten Bruckner-Sinfonien bei mir (mit Solti ein Feuerwerk !).
    Der Nr.0 fehlt diese Größe noch und Chailly und Solti machen mehr drauß - gut gelungen und IMO voll OK.


    :hello: Ich will die Sinfonie Nr.0 aber keineswegs abwerten - ich sagte ja, ich höre sie ganz gerne, schon wegen meinen beiden guten Aufnahmen, die das Hören schmackhaft machen.

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Zitat

    Original von teleton
    Hallo Holger,


    Bruckner selbst hat doch nach seiner Fertigstellung der Sinfonie Nr.0 festgestellt, das es noch nicht das ist, wofür er eine Nr.1 bereitstellen würde -


    Die Nr. 1 war auch schon vergeben ;)

  • Zitat

    Original von Holger_Grintz


    Vielleicht schaffen wir mit dieser Diskussion ja ein bisschen Leben in diesen Thread zu bekommen, der seit gestern so vor sich hindümpelt-anscheinend kennt kaum jemand diese d-moll Symphonie, weil sich in allen Köpfen verankert hat: "Das Werk zeigt noch kompositorische Schwächen", ist demnach minderwertig.


    ...oder aber man steckt mitten in einer "Mahler-Phase", die man erst einmal ausleben (oder aushören) muß, widmet sich dann der von Dir erwähnten Marriner-Aufnahme und meldet sich dann wieder... ;)


    Wenn ein Tag lang über ein relativ unbekanntes Werk nichts geschrieben wird, dann muß das kein negatives Qualitätskriterium darstellen.

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • Zum "Streit" über die Entstehungsgeschichte der "Nullten" hier mal ein kurzes Zitat:

    Zitat

    [...]sondern löste indirekt auch eine beträchtliche Forschungsdiskussion aus, die erst vor wenigen Jahren ihr vorläufiges Ende gefunden hat. Die einzige handschriftliche Partitur der d-moll-Symphonie entstand nämlich im Jahr 1869 – also drei Jahre nach der Fertigstellung der Ersten Symphonie in c-moll; da man sich aber nicht vorstellen konnte oder wollte, dass der Komponist nach der "Ersten" von 1866 ein kleiner besetztes, vermeintlich schwächeres, "unreiferes", Werk geschrieben habe, verlegte man die Entstehung in die Jahre um 1863-65, also noch in die Zeit vor der Übersiedelung Bruckners von Linz nach Wien, und sah die Partitur von 1869 als – später dann doch wieder verworfene – Revision an. Alle vermeintlichen Anhaltspunkte für eine frühe Entstehungszeit haben sich jedoch als haltlos herausgestellt, und so handelt es sich bei der d-moll-Symphonie in der Tat um die zunächst als "Zweite" Symphonie intendierte Komposition, die zwischen dem 24. Januar und dem 12. September 1869 (so die Daten der Partitur) konzipiert und vollendet wurde [...]


    Ich habe auch etwas von irgendwelchen "Tintenanlysen" gelesen, die das bestätigen.


    Ich habe mal den ersten Auftritt des Choralthemas im Kopfsatz (Ende Exposition) mit den ersten zwei Kyriestellen der kurz davor fertiggestellten f-moll Messe (1867-68 ) gemischt , wenn hier tatsächlich das Kyrie aus der f-moll-Messe (3.) zitiert wird, dann spricht aus meiner Sicht auch vieles für das spätere Entstehungsjahr.


    OK, kein wissenschaftlicher Beweis, aber irgendwie einleuchtend, oder?

  • Hallo Holger,


    genau wie Du bin ich auch immer interessiert das Richtige im Forum zu schreiben. Man sollte sich erst informieren, bevor man etwas nicht genau weiß - das gilt nicht nur für mich, denn ich habe auch schon einige Male in meinen Beiträgen daneben gelegen, sondern für alle.


    Es scheint tatsächlich Unklarheit zu herschen, welche Reihenfolge der Sinfonien tatsächlich erfolgt ist.

    Im Programmheft zur Chailly-Aufnahme steht es anders, als von Dir vorgetragen:
    Die Nullte in d-moll vom Oktober 1863 bis zum Mai 1864 komponiert ist eigentlich Bruckners zweite Sinfonie; vorausgegangen war die sogenannte Studien-Sinfonie f-moll (die hier im Forum einige als 00 bezeichnen). In der Reinschrift der d-moll-Sinfonie , die nach Umarbeitungen nur in der Fassung von 1869 erhalten ist, ist deshalb der Titel Sinf.Nr.2 enthalten, den Bruckner aber 1895 mit dem Vermerk "anuliert" strich. Als Nullte wollte Bruckner diese Sinfonie aber nicht ohne Grund gelten lassen.....
    Die Sinfonie Nr.0 d-moll wurde das erste mal bei den Bruckner-Festspielen in Klosterneuburg unter Franz Moißl aufgeführt - Bruckner hat sie nie gehört.


    Die von Bruckner als Richtig angesehene Sinfonie Nr.1 c-moll ist von 1866 Linzer Fassung und wurde 1868 uraufgeführt.
    :hello:..Demnach war für die Nullte d-moll die Nr.1 nicht vergeben, es war nämlich die zweite Sinfonie.

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Zitat

    Original von teleton
    Die Nullte in d-moll vom Oktober 1863 bis zum Mai 1864 komponiert ist eigentlich Bruckners zweite Sinfonie; vorausgegangen war die sogenannte Studien-Sinfonie f-moll (die hier im Forum einige als 00 bezeichnen). In der Reinschrift der d-moll-Sinfonie , die nach Umarbeitungen nur in der Fassung von 1869 erhalten ist, ist deshalb der Titel Sinf.Nr.2 enthalten,


    Das ist inzwischen definitiv widerlegt.


    Zitat

    Original von teleton
    :..Demnach war für die Nullte d-moll die Nr.1 nicht vergeben, es war nämlich die zweite Sinfonie.


    Eben, und deshalb war ja die #1 wohl schon vergeben :rolleyes:

  • Die "Nullte" ist in Wirklichkeit Bruckners Dritte, nämlich nach der Studiensymphonie, die noch sehr uncharakteristisch ist und voller Mendelssohn und Schumann steckt, und nach der normal gezählten Ersten.
    Dennoch hat Bruckner sie "anuliert". - Warum?
    Weil sie das Experimentierfeld Bruckners ist, sozusagen die Rezeptesammlung dieses Hexenmeisters.
    Nach der Ersten hat Bruckner ein paar Sachen ausprobiert, und bei einem Genie wird daraus eben ein Werk und nicht nur ein Haufen Skizzenpapier. Bruckner scheint aber empfunden zu haben, dass dieses Werk etwas knapp für seine Verhältnisse ist; abgesehen davon hat es nicht zu leugnende Schwächen: Der langsame Satz kommt nicht in Fluss und mäandert eher, als dass er sich entwickelt. Und der letzte Satz ist dermaßen kurz, dass er in keinem Verhältnis zum Entwicklungspotential seiner Themen steht.
    Nun kommt etwas, was keine Bruckner-Forschung, die ich kenne, sagt und was ich daher nicht belegen kann; es ist nur mein ganz subjektives Gefühl. Bruckner war mit dem Werk unzufrieden, hat geglaubt, dass es in die falsche Richtung geht - und hat eine Neuauflage der "Ersten" komponiert - das einzige meiner Meinung nach wirklich schwächelnde Werk dieses Genies, nämlich die Zweite. Und dann kommt die Dritte - und die knüpft nicht bei der Ersten oder bei der Zweiten an, sondern bei der Nullten. Ich denke da etwa an die wie besessen repetierten Ostinati, die Kurzthemen, die in immer neuen Varianten erstehen, die Satzstrukturen, die sich immer mehr mit Energie aufladen und, über jähe Abstürze hinweg, zu immer grandioseren Höhepunkten aufgetürmt werden.
    Soweit meine Ansicht zur Position der Nullten im Gesamtwerk.


    Bei den Aufnahmen bin ich etwas unsicher. Es gab eine fulminante Aufführung der Niederösterreichischen Tonkünstler unter einem gewissen Arild Remmereit in Wien, die ziemlich genau das experimentelle Stadium des Werkes, diese geradezu verrückten Kühnheiten hörbar gemacht hat - aber diese Aufführung ist leider nicht mitgeschnitten worden, sonst bekäme sie meine rückhaltlose Empfehlung.


    Solti ist mir etwas zu glatt und zu geschönt, da merke ich nicht das Unfertige an dem Werk (und gerade das macht dieses Stück für mich so spannend: Diese Möglichkeiten, die es eröffnet, die es dem Zuhörer an den Kopf schmeißt, als wolle Bruckner sagen: Da hast Du das Material, jetzt denk' Dir daraus eine Symphonie zusammen!), der solide Tintner ist mir etwas zu bieder, und das Orchester ist nicht ganz mein Fall.
    Ich muss zugeben, dass mir Chailly im Vergleich (Tintner, Chailly, Solti, Barenboim) am liebsten ist. Stimmt schon: Das Orchester hat Mängel, und ob das Werk so total durchgeknallt gemeint ist, wie Chailly es dirigiert, wage sogar ich, der ich Bruckner für den, neben Mussorgskij, durchgeknalltesten Komponisten des 19. Jahrhunderts halte, zu bezweifeln. Dennoch: Die Chailly-Aufnahme lohnt die Auseinandersetzung.


    Noch ein Wort zu den "Mängeln" von Beethoven und Bruckner: Kurz: Beide waren miserable Melodiker. Beide schreiben kurzatmige aus kleinen Zellen zusammengesetzte Melodien, die nicht ansatzweise die Bögen eines Schubert erreichen.
    Ist auch gar nicht notwendig.
    Sowohl Beethoven als auch Bruckner kompensieren das mit der genialsten Motiv-Technik der Musikgeschichte. Beethoven atomisiert seine Themen, Bruckner bildet sie um, modifiziert sie, reduziert sie auf Kernintervalle etc. Das nenne ich Verarbeitungstechnik! Mindestens ein halbes Jahrhundert nimmt er damit vorweg!

    ...

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  • Allen Freunden der annulierten d-moll Symphonie WAB 100 empfehle ich den Artikel von Bo Marschner zur Chronologie und Entstehung des Werkes aus dem Bruckner Jahrbuch 1987/88, Linz 1990, zu beziehen über den Musikwissenschaftlichen Verlag Wien, Dorotheergasse 10, A-1010 Wien oder in jeder besseren Uni-Musikbibliothek. Da steht alles drin, was man über die Geschichte der von Max Auer in die Welt gesetzten falschen Datierung auf 1864 wissen sollte. Beste Grüße
    Ben Cohrs

  • Zitat

    Original von teleton
    Solti / Chicago SO auf Decca
    Solti steht Chailly kaum nach und bietet noch die besseren Blechbläser des CSO.
    Beide verstehen es die noch vorhandenen kompositorischen Schwächen zu überdecken - TOP. Bei Solti hat man schon den Eindruck einer großen Bruckner-Sinfonie, aber deshalb ist die Aufnahme nicht besser als Chailly.
    Die Klangqualität ist bei beiden höchstwertiger Decca-Sound.



    Kann ich bestätigen. Solti holt in einer seiner letzten Aufnahmen (1995 entstanden) das Maximum aus der Symphonie heraus. Hier wird auch dieses Frühwerk zum Ereignis. Sehr gelungen m. E. Allegro und Finale. Das Orchester ist nicht zu toppen.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Selbst für Brucknerianer scheint die "Nullte" keine große Bedeutung zu haben. Gar so selten wird sie nach meinem Eindruck indes gar nicht aufgeführt in den letzten Jahren. Paavo Järvi dirigierte sie mehrfach, so auch Mario Venzago, Osmo Vänskä und Stanislaw Skrowaczewski. An Aufnahmen mangelt es auch nicht. Kennengelernt habe ich sie vor über einem Jahrzehnt mit Solti. Weitere wirklich gelungene Einspielungen sind folgende:


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    Nürnberger Symphoniker
    Hortense von Gelmini

    Colosseum, 1975


    RSO Saarbrücken

    Stanislaw Skrowaczewski

    Oehms, 1999

    Von letzterem gibt es noch eine ganz späte Aufnahme von 2014 mit dem mir anderweitig als ausgezeichnet bekanntem Yomiuri Nippon Symphony Orchestra, Tokio, die ich aber nicht kenne:



    Sie alle haben die 1968 erschienene Nowak-Edition zur Grundlage. Bis dahin gab es nur die 1924 erschienene Fassung von Josef Venantius von Wöss, die wohl deutliche Striche macht. Bernard Haitinks Philips-Einspielung von 1966 beruht noch auf dieser. Auf CD wohl nicht einzeln zu haben.


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    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Lieber Joseph,


    Bruckners "annullierte" Sinfonie ist eine meiner "heimlichen Bruckner-Lieben", wie die 2. Sinfonie auch. Es ist natürlich kein Werk des "fertigen Meisters", aber man kann ihm musikalisch gut auf dem Weg dorthin folgen.


    Ich kenne und schätze die Oehms-Aufnahme mit Stanislaw Skrowaczewski, daneben insbesondere die mit Riccardo Chailly, noch aus frühen Berliner Jahren und die mit Eliahu Inbal:


    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • Danke für die Ergänzungen, lieber Norbert. Es scheint kein Mangel an gelungenen Interpretationen zu bestehen.


    Gestern hörte ich mir auch noch die Einspielung von Haitink an, die sich als einzige an die Wöss-Fassung hält, die seit Nowak als obsolet gilt. Nun, entgegen meiner Annahme konnte ich gar nicht so viele Unterschiede feststellen. Da müsste sich mal ein Fachmann äußern. John F. Berky listet immerhin sieben Aufnahmen der Wöss-Edition, wobei Haitink die jüngste darstellt. Die erste Aufnahme der Nowak-Edition scheint unter Ernst Märzendorfer 1972 für den ORF entstanden zu sein.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões



  • Eine weitere Einspielung, die in diesem Thread genannt werden sollte, ist die späte von Stanislaw Skrowaczewski mit dem Yomiuri Nippon Symphony Orchestra. Diesem Orchester aus Tokio stand er zwischen 2007 und 2010 im Greisenalter sogar noch als Chefdirigent vor. Die Aufnahme datiert auf den 8. Oktober 2014 (Denon COGQ-75, Strichcode 4988001772149). Fünf Tage zuvor hatte der Dirigent des 91. Lebensjahr vollendet. Von etwaiger Altersmüdigkeit keine Spur. Das ist ohne Frage eine der überzeugendsten und mitreißendsten Lesarten, wozu auch das ausgezeichnete Orchester beiträgt. Dem Paukisten und den Blechbläsern gebührt ein Sonderlob. Was das Schlagwerk da etwa am Ende des furiosen Scherzos erzielt, habe ich in dieser Deutlichkeit wohl noch in keiner anderen Aufnahme vernommen. Die Pauke bringt in der Coda des Finalsatzes einen deftigen Paukenwirbel und setzt den Schlusstakt sehr extraviert und knallig. Die Tontechniker haben ganze Arbeit geleistet. Auch die reine Stereospur ist frappierend gut eingefangen (die Hybrid-SACD bietet auch 5-Kanal). Skrowaczewski übertrifft seine ältere Einspielung mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Saarbrücken (Oehms), die beileibe nicht schlecht ist, aber sowohl der Klangkörper als auch der Klang sind dort unterlegen.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

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    – Luís de Camões



  • Lange nicht gehört hatte ich die "Nullte", die in dieser Box enthalten ist, die mir seit zehn Jahren vorliegt. Mir war gar nicht mehr bewusst, dass Lorin Maazel seinerzeit bei seinem Zyklus mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks auch dieses Werk mit berücksichtigt hat (BR-Klassik, 1999). Völlig überzeugt mich das Ergebnis nicht. Ungläubig blickt man auf die Spielzeit des Kopfsatzes: 18:25. Kein anderer Dirigent hat diesen Satz so langsam dirigiert (vgl. abruckner.com). Was wohl so gedacht war, die "Nullte" dadurch endgültig zur ganz großen Symphonik aufzuwerten, erweist sich als zu viel des Guten. Der Satz ist völlig zerdehnt, der Spannungsbogen reißt mehrfach ab. Das kann auch die wirklich imposant dargebotene Coda nicht mehr ausgleichen. Komischerweise erklingt der langsame zweite Satz in einem völlig normalen, vergleichsweise sogar flotten Tempomaß (knapp 12 Minuten). Hier gibt es nichts groß zu bekritteln. Beim fetzigen Scherzo kann man nicht viel falsch machen. Auch wenn es Maazel getragen angeht (fast 8 Minuten), bleibt es im Rahmen; habe es aber schon feuriger gehört. Den Beginn des Finalsatzes (gut 10 Minuten) könnte man sich noch empfundener vorstellen. Im weiteren Verlauf wird es besser, aber es mutet nicht wirklich so an, als würde eine besonders intensive Auseinandersetzung mit der Partitur stattfinden. Dem Orchester ist an einigen wenigen Stellen anzumerken, dass es bei dieser Symphonie Neuland betrat. Der Klang ist soweit gut eingefangen, ohne besonders hervorzustechen.


    Eine sehr eigenwillige Interpretation, die ich zum Kennenlernen des Werkes eher nicht empfehlen würde. Wirklich kein Vergleich mit der Aufnahme im Vorbeitrag.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Noch ein paar Anmerkungen zu weiteren Aufnahmen, die ich der Tage hörte:



    Chicago Symphony Orchestra/Daniel Barenboim (DG, 1979)


    Ein frühes Plädoyer für dieses Werk, das in der Nowak-Edition erst seit 1968 auf dem modernen Stande der Forschung vorlag. Vermutlich auch die erste "Hochglanzproduktion" mit Weltklasseorchester und berühmtem Dirigenten. Noch heute durchaus konkurrenzfähig, was Interpretation und Klang anbelangt. Kam mir sogar gehaltvoller vor als die spätere Solti-Einspielung mit demselben Orchester. Im Kopfsatz vielleicht ein bisschen zu verhalten und an manchen Stellen ein wenig wie eine Pflichtübung. Barenboim hat die "Nullte" bezeichnenderweise später nicht wieder in seinen weiteren Zyklen berücksichtigt.


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    Radio-Sinfonieorchester Stuttgart/Sir Neville Marriner (Laserlight, 1993)


    Aus den Stuttgarter Jahren Marriners (eigentlich kurz nach seiner Chefdirigentenzeit), offenbar leider auf dem "falschen" Label erschienen (die restlichen Stuttgart-Aufnahmen findet man mittlerweile in einer praktischen Box). Hat mir insgesamt sehr gut gefallen und würde ich zur Spitzengruppe rechnen. Man muss beim Orchester leichte Abstriche machen, da es ab und an kleine Patzer gibt. Ob das ein Live-Mitschnitt oder eine echte Studioaufnahme ist, geht nicht hervor (kein genaues Aufnahmedatum), ich tippe aber fast auf ersteres.


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    Symphonieorchester des Kulturministeriums der UdSSR/Gennadi Roschdestwenski (Melodia, 1983)


    Eine Außenseiter-Aufnahme, die aber ungeahnte Meriten besitzt. Roschdestwenski hat sich sehr um Bruckners Schaffen angenommen und als einziger Dirigent wirklich sämtliche Symphonien in allen möglichen Fassungen irgendwann eingespielt. Es ist der typisch sowjetische Orchesterklang, wie ihn manche lieben und andere wie der Teufel das Weihwasser meiden. Der Dirigent hat wirklich etwas mitzuteilen und bietet eine sehr stringente und insgesamt packende Darbietung. Wohl keine "Erstaufnahme", aber absolut hörenswert.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Reinhard

    Hat den Titel des Themas von „Bruckner: Symphonie in D-Moll - die „Nullte““ zu „Bruckner: Symphonie in d-Moll - die „Nullte““ geändert.