Interpreten als Opfer der Aufnahmetechnik (?)

  • Liebe Forianer,


    Nein, der Threadname führt (wie so oft bei mir) in die Irre:
    Hier soll nicht die Rede sein von historischen Aufnahmen der 20er bis 50er Jahre mit eingeschränktem Frequenzspektum, auch nicht von Live-Mitschnitten unter schlechten Aufnahmebedingungen, sondern von neueren Aufnahmen ab 1960, wo meistens die Bedingunggen optimal bis akzeptabel waren.


    Es geht hier um "Klangphilospohien" einzelner Labels - vielleicht aber auch lediglich um technische Gegebengeiten einzelner Aufnahmestudios und ihrer Gegebenheiten - das kann ich im Einzelnen nicht trennen.


    Die Idee , das Thema aufzugreifen, kam mir, als Edwin Baumgartner in einem anderen Thread über Pierre Boulez schrieb.
    Boulez ist ein Dirigent, dessen CBS- Aufnahmen ich (trotz relativ hohen Rauschpegels) sehr schätze - und zwar auch jene, wo mir der Komponist/das Werk eher weniger sagt. Alles hat Biß und ist durchwegs überzeugend bis mitreissend. Nun wechselt dieser Man das Label - und siehe da - der Schwung ist weg. Ich empfinde das was ich auf Gelblabel von ihm kenne eher als "farblos" -Die Aufnahmetechnik ist neu, - dennoch wil sich bei mir kein Gefühl von Natürlichkeit einstellen, selltsam synthetisch klingt es in meinen Ohren.
    Nun, es mag sein, daß hier aus einem Gipfelstürmer ein alter Mann ohne Biß wurde - aber das glaube ich nicht.
    Ähnliches habe ich auch bei Bernsteins Einspielungen beobachtet. Siehe:
    Der doppelte Lennie - Bernstein vs. Bernstein
    Na ja könnt man sagen, ach er war ja nicht mehr taufrisch, als er wechselte. Das ist es aber nicht. es ist aus meiner Sicht eine eigenartige Stumfpheit des Klanges, die mich stört
    Gehen wir mal in die nahe Gegenwart: Hilary Hahns Aufnahme der Bachschen Violinkonzerte ist ja durchaus in Ordnung und lässt scheinbar kaum Wünsche offen -bis man vergleichsweise die relativ knapp vorher für Sony eingespielten Aufnahme der gleichen Künstlerin gehört hat: Hier ist die Violine plastischer abgebildet, sie hebt sich besser vom Orchester ab, der Eigencharakter des Instruments kommt besser zu Geltung. Karajan galt als "Glätter der Klangstrukturen" - und gewiss hat er das auch getan - jedoch nicht in dem Ausmaß, das ihm nachgesagt wird - Man höre seine EMI bze wenigen DECCA-Einspielungen. KArl Böhm - Wer wissen will was dieser Dirigent wirklich leitetet, der höre mal die DECCA-Einspielung von Bruckners Sinfonie Nr 4 an.
    Ich frage mich auch oft ob die frühen Digitalaufnahme der EMI dem Dirigenten Riccardo Muti gerecht werden, Philps setzte wiederum auf höchste Durchhörbarkeit - auf Kosten der Baßwiedergabe.
    Umgekehrt - Sir Georg Solti - ein "Universaldirigent" alter Schule: Fast alles -vor allem klassische Moderne und Oper -klingt überzeugend. Ist das nun dem Dirigenten zuzuschreiben, oder (vorwiegend) der superben Aufnahmetechnik, die ihm das DECCA Aufnahmeteam (bzw die Teams) verpassten ? Inwieweit beeinflussten die wunderbaren Tonechniker der EMI in den 60er und 70er Jahren - stellvertretend sei hier Christopher Parker genannt die Karriere der von ihnen superb auf Tonträger eingefangenen Künstler ?


    Das alles sind Fragen, die zumindest die Herren in den Chefetagen der Tonträgerindustriev sich stellen sollten. SACDS und ähnliche Spielereine sind hier sicher nicht die Lösung , sondern Tontechniker, die nicht nur ihr Handwerk beherrschen, sondern auch einen Zugang zu Klassischer Musik haben - und die Möglichkeiten ihr Wissen einzusetzen.


    Mal ehrlich: Wenn ich den durchschnittlichen Klang einer Live-Aufnahme haben wollte - würde ich im Rundfunk mitschneiden...


    Es geht hier aber nicht nur um rauschfreie Aufnahmen mit hoher Dynamik, mit unbeschnitternem Frequenzgang, nein es geht um die optimale Abbildung eines Musikalischen Ereignisses unter Wahrung feinster Klangfarben und der "Aura" des Interpreten.
    Interessanterweise ist das grade bei einigen Celibidache Mitschnitten aus München (für die EMI aufbereitet) allen Vorurteilen von Celi - und auch von mir - weitgehend gelungen. Gut zu hören mit Kopfhörern


    Freundliche Grüße aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt


    Es geht hier aber nicht nur um rauschfreie Aufnahmen mit hoher Dynamik, mit unbeschnitternem Frequenzgang, nein es geht um die optimale Abbildung eines Musikalischen Ereignisses unter Wahrung feinster Klangfarben und der "Aura" des Interpreten.


    Hallo Alfred,


    da gebe ich Dir Recht. Ich bin aber auch der Auffassung, daß es musikalisch nicht unmoralisch ist, nachträglich in das Aufnahmeergebnis einzugreifen, um eine bestmögliche, die "Aura des Interpreten" abbildende Interpretation, zu erreichen. Dies setzt aber freilich voraus, daß der Interpret bei der nachträglichen technischen Aufbereitung des Klangereignisses aktiv beteiligt wird, insoweit nicht "Opfer der Aufnahmetechnik" wird.


    Beste Grüße

  • @Alfred

    Zitat

    Boulez ist ein Dirigent, dessen CBS- Aufnahmen ich (trotz relativ hohen Rauschpegels) sehr schätze - und zwar auch jene, wo mir der Komponist/das Werk eher weniger sagt. Alles hat Biß etc.


    Ich glaube nicht, dass ich das war. Ich würde es nicht so verallgemeinern. Aber wer auch immer es geschrieben hat, hat prinzipiell recht.

    ...

  • Was man so liest, soll ja die Aufnahme von Bruckners Achter mit Boulez an der Akustik/Aufnahmetechnik gescheitert sein - andererseits habe ich jetzt auch ein paar begeisterte Kritiken zu der Aufnahme gelesen und bin vollends ratlos. Ich warte also mal ein bisschen auf preisverfall und werde mir dann ein eigenes Urteil bilden.


  • Hallo,


    ein wenig passt da auch die Kritik am Mitschnitt des jüngsten Neujahrskonzertes herein. Dieser wurde in Rekorszeit (9.1.!) auf den Markt gebracht, die Musik soll dabei wie hinter einem Vorhang klingen (die Mähr berichtet, dass ORF-Techniker bestürzt darüber sind, was die Plattenfirma beim Mastering aus der Originalaufnahme gemacht hat). Dass die Bilder im Booklet eine andere Orchesterbesetzung zeigen sollen, als man im Fernsehen erlebte, ist nur ein weiteres Mosaiksteinchen in der mäßigen Vermarktung. Hauptsache ist die Geschwindigkeit, die Qualität des Produktes ist schon fast nebensächlich...

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


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  • @ Edwin


    Nein, ich habe Dich nicht zitiert, die Aussage stammt von mir...


    DEIN Satz war:


    Zitat

    Den Boulez-Thread habe ich übersehen. Muss ich heute abend unbedingt drin rumstöbern, was man über den angeblichen Eismann so alles an Gemeinheiten zu sagen hat

    .



    Ich habe zwar keinen Absatz hinter meinen ersten Satz gemacht, aber einen Punkt, keinen Doppelpunkt.
    Den Absatz füge ich jetz nachträglich ein, weil ich selbst beim erneuten Lesen, in die Irre geführt wurde......


    Nochmals zu DEINEM Satz, er hat mich zu diesem Thread inspiriert, weil man eigentlich annehmen müsste, daß ich Boulez ablehne - ich wäre also ein guter Kandidat, solche "Gemeinheiten " zu sagen :P.
    Eigenartigerweise jedoch, schätze ich einiger seiner CBS-Aufnahmen sehr -jene auf DGG meide ich, nach dem ich eine Mahler Einspielung dieser Serie gehört habe. Es ist fast unmöglich zu sagen WAS hier auszusetzten ist - aus meiner Sicht klingt es leblos. Ich laste dieses aber in Kenntnis der alten CBS-Einspielungen NICHT dem Dirigenten an.


    LG


    aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Nun, unabhängig von der Entscheidung der Frage, wer wann was geschrieben hat, ist doch wohl die Ausgangsfrage von einigem Interesse.


    Ich denke Interpreten laufen immer dann Gefahr Opfer der Aufnahmetechnik zu werden, wenn der Komponist eine klangliche Balance in sein Werk hineinarbeitet hat, bzw. vorgegeben hat, in welchem Verhältnis die Stimmen zueinander stehen sollen. Dies ist mehr oder weniger stark ausgeprägt im Bereich der Kammermusik. Ich denke hier z.B an die Duosonaten von Bach für Violine und Cembalo (BWV 1014 bis 1019). Als schwerwiegender, geradezu unverzeihlicher Fehler, stellt es sich dar, wenn der Aufnahmeleiter hier ein Instrument zu Lasten des anderen dominieren läßt, so daß aus den Sonaten für Violine und Cembalo plötzlich Sonaten für Violine mit Cembalobegleitung oder umgekehrt werden. Meines Erachtens ist dieser Zyklus so konzipiert, daß in spieltechnischer Hinsicht eine natürliche klangliche gleichrangige Balance zwischen den Instrumenten herzustellen ist. Hier hat die Aufnahmetechnik keinesfalls hineinzupfuschen. In dem Thread zu den Duosonaten habe ich mich kürzlich lobend zu der Aufnahme mit Sitkovetzky und Hill geäußert. Nach nochmaligem Hören und Vergleich mit van Dael/Curtis, Goebel/Hill, Gould/Laredo stehe ich nun nicht mehr hinter dieser Auffassung. Nunmehr meine ich, daß sich die Violine in der Hill/Sitkovetsky-Aufnahme zu sehr in den Vordergrund drängt, wobei ich freilich nicht inder Lage bin zu entscheiden, ob dies auf mangelnde Kommunikation zwischen den Musikern oder auf die Aufnehmetechnik zurückzuführen ist.