Flotte Engländer

  • Sagitt meint:


    Schon kürzlich beim Konzert mit Harding dachte ich daran. Heute hörte ich wieder Gardiner und dachte erneut daran. Gestern hörte ich Norrington. Jetzt ist es drei Mal passiert- das soll Bremer Recht sein. Also los. Alle drei haben Aufnahmen gemacht, die sich durch Eile,Eile,Eile auszeichnen.
    Gardiner in seiner Hetze-Zeit, angefangen mit der h-moll Messe, dann- besonders unangebracht bei der Matthäus-Passion, aber auch beim Weihnachtsoratorium. Norrington hat eine Zauberflöte gemacht, die sehr gut sein könnte, wenn er nicht so durch das Stück hetzen würde und ihm damit jeden Charme raubt.
    Schließlich Harding hat ein Don Giovanni, in Aix vor einiger Zeit aufgeführt, durchhetzt.
    Ist das ein ästhetisches Prinzip ? Müssen die Herren zum Zug ? Etwas ernster gefragt, wie erkennt man denn, das gehetzt wird ?
    Am Beispiel: Horowitz und Gould rasen durch den dritten Satz der Mondscheinsonate. Ich finde,Horowitz hetzt, Gould nicht.
    Das Thema würde ich gerne mit vielen teilen !

  • Salut sagitt,


    ich glaube, das ist sehr schwierig zu unterscheiden. Unter einem "gehetzten" Tempo verstehe ich, dass dabei vor allem Unaufmerksamkeit und Lustlosigkeit herrschen. "Gehetzt" bedeutet ja "schnell durch und dann nix wie weg...". Aber sicher sind die Eindrücke sehr subjektiv [wie fast immer]. Meine Meinung liesse sich evtl. durch Gould bestätigen, der präzise jede Note spielt. Horowitz ist auch durch KV 488 gerast - es war der reinste Horrorwitz... da habe ich weitaus besseres gehört. Das Tempo ist dabei nicht der Störfaktor, sondern die widerliche Art, mit dem Werk umzugehen. Es dürfte nicht nur auf Engländer zureffen.


    Liebe Grüße
    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Hi Ulli und alle Mitstreiter,


    genau, Du schreibst es, solange da Struktur drin ist, wird auch ein schnelles Tempo erträglich. Das kann man zwischen Gould und Horowitz gut festellen. Aber das Thema erschöpft sich damit nicht. Gardiner musiziert schnell,aber er verwischt nichts. Ein Beispiel: "dieser ist Gottes Sohn gewesen "aus der MatthäusPassion dauert bei Gardiner eine knappe Minute. Es ist eine sehr wichtige Stelle in der Passion,auch wenn sie nur 17 Takte hat, aber mit einem crescendo und einem decresendo. Das höre ich natürlich genau bei Richter, der für dieses Teil 2.17 braucht.
    Ich finde, mitteils der Schnelligkeit wird über die Aussage der Musik weg musiziert. Man möchte ein wenig weihnachtliche Gemüt-lichkeit und Gardiner fegt durch den Ehre sei dir Gott gesungen und andere Teile.
    Wie man ein Stück empfindet, dies ist sicher subjekjtiv, aber man kann sich in der Diskussion kommunizierbaren Aspekte,also intersubjektiven( von objektiv mag ich nicht schreiben) vielleicht annähern.


    Schöne Grüsse in den Elsass


    Sagitt


    P.S.


    Es ist unterwegs

  • Zitat

    P.S.


    Es ist unterwegs


    Salut,


    wenn er da ist, melde ich mich in jedem Falle! Danke schonmal!


    Ja, die Tempi - es ist derzeit nach meinen aktustischen Beobachtungen ein Zeitgeschmack, dass vieles viel zu schnell gespielt wird. Es ist den Interpreten, die ein Stück zum aberhundertsten Male spielen, nicht unbedingt abzusprechen, mal etwas zu "ändern" - dennoch hat alles seine Grenzen - vor allem die natürlichen: Beim Gesang ganz besonders, spätestens wenn man die Silben auf einzelne Vokale reduzieren muss, ist Feierabend und Schluß mit Lustig!


    Bach definiert meines Wissens im WT keine Tempi. Diese "ergeben" sich aus dem Metrum [alla breve, 12/8 usf.] und dem Charakter [handelt es sich um eine Gigue? also tänzerisch].


    Hanoncourt kenne ich von Proben zu späteren Haydn-Sinfonien und zum Figaro. Darin konnte ich nichts Gehetztes feststellen, jedoch jede Menge Feuer. Ach, Du sprachst von Sir Roger Norrington - vielleicht war's auch er.


    Aber auch übertriebene Langsamkeit kann einem die Suppe ganz schön versalzen, wenn etwas zu arg hervorgehoben wird, ist der Reiz auch hin.


    LG
    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Hallo Sagitt, hallo Ulli,


    zu dem Zitat von Ulli:
    Aber auch übertriebene Langsamkeit kann einem die Suppe ganz schön versalzen, wenn etwas zu arg hervorgehoben wird, ist der Reiz auch hin.
    -----------------------------------------------


    Genauso sehe ich das auch, in der Verangenheit wurden die Bachwerke viel zu langsam interpretiert,
    man bekam das Gähnen.
    Eine Aufführung lebt von der Spannung die in ihr erzeugt wird. Nur kann der Schuss schnell nach hinten
    losgehen, wenn alles nur noch in einer rasenden Geschwindigkeit heruntergespult wird.


    Hier die richtigen Nuancen zu setzen scheint mit von den heutigen Interpreten nicht mehr möglich zu
    sein bis auf wenige Ausnahmen, wie z.B. von Gardiner, wo ihm die Matthäus-Passion in Königslutter
    grandios gelang, das scheint aber eine absolute Ausnahme gewesen zu sein, in den Weihnachtskantaten
    im Braunschweiger Dom - jetzt im Dezember- verfällt er wieder in seinen alten Fehler und eilt im Magnificat
    im ICE-Tempo durch das Werk. Hier hatte ich mich in ihm geirrt, ich war der Meinung einen geläuterten
    Gardiner erleben zu können, dem war aber nicht so.
    Meine Kritik dazu kann hier nachgeleseen werden!


    Vielleicht muss aus deutscher Sicht eine neue Interpreten-Generation heranwachsen, um diese Werke
    in der richtigen Interpretation und Nuancierung zu Gehör zu bringen.



    Ein schönes Weihnachtsfest
    und herzliche Grüsse nach Bremen
    und ins Elsass


    reklov29

    Bach ist so vielfältig, sein Schatten ist ziemlich lang. Er inspirierte Musiker von Mozart bis Strawinsky. Er ist universal ,ich glaube Bach ist der Komponist der Zukunft.
    Zitat: J.E.G.

  • Tamino XBeethoven_Moedling Banner
  • rekloV ollaH,


    trediwre hcilzreh osnebe nedrew dnu nemmokegna dnis eßürgthcanhieW enieD!


    Manche Dirigenten wechseln die Tempi wie Unterwäsche oder Frauen [das kann man jetzt so oder so sehen...]. Manche ändern auch einfach ihre jahrelange Meinung oder probieren einfach mal etwas anderes aus. Das ist eigentlich der Reiz einer Live-Aufführung. Dadurch wird man gelegentlich überrascht, ist bestenfalls fasziniert oder im schlimmsten Falle enttäuscht. C'est la vie.


    LG
    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Flotte Tempi, oder wer so will gehetzte, sind derzeit scheinbar eine Signatur des Zeitgeistes, zudem meist aggressiv aufgeheizt.


    Ich will hier gegen diesen Interpretationsansatz nicht wettern, es gibt Werke denen das bekommt, anderen hingegen wiederum nicht.


    Vivaldi wurde aus meiner Sicht dadurch erst zum Leben erweckt.
    Jedoch gilt nicht auch hier die goldene Regel "weniger ist mehr" weil aus "mehr ist mehr" oft auch "mehr ist zoviel" werden kann. Das ist mir besinders bei Roger Norrintons einspieluingen aufgefalllen: Sie stehen von Anbeginn unter einem nervös flirrendem Grundcharakter - Norrington vergibt sich auf diese Art die Chance, echte Höhepunkte bzw dramatische Akzente zu setzen.....


    Die Kunst besteht darin, sich immer Reserven freizuhalten um Steigerungen zu ermöglichen, wer immer mit Vollgas fährt kann nicht mehr beschleunigen....


    Freundliche Grüße aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Ich versteh manche Verwunderung ehrlich gesagt nicht.
    Bei Beethovens Sinfonien sind die 40-50 Jahre alten Einspielungen von Leibowitz und Scherchen fast immer schneller, jedenfalls jedoch "wilder" als Norrington oder Gardiner. Mich stören schnelle tempi per se sehr selten. Was mich stört ist, wenn die Musik dadurch nicht an Dramatik gewinnt, sondern verliert, weil alles leicht, locker, stromlinienförmig wird, eben Vollgas in der S-Klasse, nicht halsbrecherischer Galopp über Stock und Stein. Das scheint mir in der Tat bisweilen bei Gardiner, Norrington oder auch Zinman der Fall (bei Harding kenne ich nur die Beethoven-Ouverturen, für die gilt es aber auch). Und ebendies ist auch eine Schwäche von Gardiners Bach (jedenfalls der Aufnahmen aus den 80ern). Für Klangrede, Ausdruck gerade auch der schmerzlicheren Affekte bleibt vor perfektem Klang und Stromlinienförmigkeit keine Zeit (es hat mit den konkreten Tempi nicht viel zu tun, andere HIP-Aufnahmen, z.B. Jacobs oder Otto im Weinachtsoratorium sind ähnlich schnell, trotzdem artikulierter und ausdrucksvoller). Dazu kommen leider oft Solisten, die mit "neutralen" Stimmen diese Ausdrucksarmut noch unterstützen...


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Salut,


    das hat ja sagitt zu Anfang gleich gesagt:


    Zitat

    Am Beispiel: Horowitz und Gould rasen durch den dritten Satz der Mondscheinsonate. Ich finde,Horowitz hetzt, Gould nicht.


    :hello:

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)