Der TAMINO-Advent-Kalender - DAS VOTING



  • Salut,


    obschon die Resonanz im Tritsch-Tratsch-Forum erstaunlich gering ausfiel, möchte ich den Thread starten, da ich denke, dass das Ergebnis von Interesse sein könnte.


    Jede Tamina, jeder Tamino, die/der mitmachen möchte, kann sich im Tritsch-Tratsch-Thread: TAMINO-Adventskalender ein Wunschdatum reservieren, wobei gilt: „Wer zu erst kommt, mahlt zuerst…“. Ich werde den Kalender hier in diesem Thread am 01. Dezember mit dem „ersten Türchen“ eröffnen.


    Jeder Tag vom 01. bis 24. Dezember sollte EINEN [von anderen unkommentierten] Beitrag enthalten. Das Thema ist hierbei egal, sollte aber im weitesten Sinne mit Klassischer Musik zu tun haben: Es können also Anekdoten, Werkbeschreibungen, Kurzbiografien [ :D ], CD-Empfehlungen [bitte mit erläuterndem Text], Nachdenkliches und, und, und sein… Die Überschrift in der Betreffzeile sollte dann wie folgt aussehen:


    Erstes Türchen: 01.12.2005 usf.


    Ich bin gespannt, was sich alles so zusammenträgt.


    Klaffende Lücken werde ich dann [wohl oder übel] gerne selbst schließen.


    Eine schöne Advent-Zeit wünscht
    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • MELODIEN


    Häufig heißt es, Beethoven sei kein Melodiker. Das stimmt, obwohl sein Werk die längsten und ausgearbeitetsten* musikalischen Phrasen enthält, die je geschrieben wurden, etwa im Adagio der Neunten Sinfonie, in der Cavatine des Streichquartetts Nr. 13 op. 130 B-Dur oder im „Sanctus“ der Missa solemnis. Die Melodie ist eine Rede, auch wenn sie keinen Text hat. Sie ist ein Zuruf an die uns umgebende lebendige oder unbelebte Welt, kein Kommentar über diese oder über unsere Seelenregungen. Sie ist das Ergebnis einer physischen Handlung, die an die Möglichkeiten unserer Stimme angepasst ist; sobald wir sie gesungen haben, gewinnt sie eine Autonomie, die uns die Empfindung vergessen läßt, weswegen wir sie angestimmt hatten. Die Themen der Beethovenschen Streichquartette gewinnen hingegen nichts, wenn wir sie wirklich singen, auch wenn es nicht schwer ist, zumindest ihre Anfänge zu trillern oder zu pfeifen, denn danach steigen sie meistens sehr schnell zu Quinten oder Oktaven auf, wohin keine menschliche Stimme ihnen folgen kann – was uns freilich nicht hindert, ihnen in der Imagination mehr oder weniger zu folgen, entsprechend der Güte unseres Gehörs.


    […]


    Und trotzdem sollte die Oper Mozart, nicht aber Beethoven glücken: ein nur scheinbares Paradox, weil Bühne und Text jenem das Maß an Partikularität mitteilten, das er aus seinem eigenen Grund nicht schöpfen konnte, während dieser einer solchen Mitteilung nicht bedurfte. […] Die Musik Beethovens schließt in sich selbst zu viel Dramatik und Humor ein – während es sich bei Mozart stets um das gleiche Drama und den gleichen Ernst handelt, nämlich den des Seins -, als daß sie sich mit anekdotischen Zugaben anreichern könnte. Vielleicht gehen uns deshalb die sehr schönen Arien des Fidelio kaum im Kopfe herum und behalten wir deshalb nur die Ouvertüren dieser Oper im Gedächtnis. […]



    [ERIC ROHMER: Von Mozart zu Beethoven, *aus dem frz. von Christian Rochow, Residenz Verlag, Salzburg und Wien, 1997]



    [Mein „Genesungsbuch“ von observator]


    Der Franzose Eric Rohmer war zunächst Filmkritiker, dann Filmemacher: L'ami de mon amie [Der Freund meiner Freundin] 1987 dürfte einigermaßen bekannt sein. Rohmer besteht im Vorwort zu seinem Buch „Von Mozart zu Beethoven“ [im frz. Original De Mozart en Beethoven. Essais sur la notation de profondeur en musique] darauf, sich als Laie in diesen abgeschlossenen Bereich [der Musik] zu wagen und: Alle Welt hat das Recht, über Musik zu sprechen.


    In den beiden von mir zitierten Absätzen stecken mindestens zwei neue Threads…

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Ich sage Ihnen vor Gott, als ein Ehrlicher Mann, Ihr Sohn ist der größte Componist, den ich von Person und dem Namen nach kenne; er hat Ge-schmack und überdies die größte Compositionswissenschaft.


    Mit „Compositionswissenschaft“ meinte Haydn, der selbst ein Meister seines Handwerks war, die kompositorischen Fähigkeiten Mozarts. Joseph Haydn gilt schlechthin als der „Vater der Sinfonie und des Streichquartettes“, hat er doch in seinem für damalige Verhältnisse unwahrscheinlich langem Leben 104 Sinfonien und 83 Streichquartette geschrieben. Er ist 77 Jahre alt und damit mehr als doppelt so alt wie Mozart geworden.


    Erfahren wir etwas über die Entstehung des Streichquartettes:


    Zwei Geigen, eine Bratsche und ein Violoncello: der Dorfpfarrer, der Gutsverwalter, ein Berufsmusiker namens Albrechtsberger und Haydn fanden sich 1756 (Mozarts Geburtsjahr!) auf dem abgelegenen Gut Weinzierl zusammen, um für den Hausherrn Carl Joseph Fürnberg Kammermusik zu spielen. Doch es fehlte an Literatur für diese Besetzung, und so schrieb Haydn versehentlich seine ersten Streichquartette. Er konnte natürlich nicht ahnen, dass er dabei den Grundstein für eine Gattung legte, die bald zur beliebtesten Form bürgerlicher Hausmusikpflege werden sollte. Seine Quartette wurden in Österreich schnell verbreitet, schon wenige Jahre nach ihrer Entstehung kursierten ihre Abschriften in österreichischen Klöstern.


    Wahrscheinlich haben sich Mozart und Haydn einander 1784 in Wien bei der Sängerin Nancy Storace kennen gelernt, in deren privater "Quartett-Party" sie mit zwei weiteren Komponisten, Karl Ditters von Dittersdorf (1739-1799) und Johann Baptist Vanhal (1739-1813), Streichquartette spielten. Verbürgt jedenfalls ist die Freimaurer-Logenbruderschaft Haydns und Mozarts sowie die gegenseitige Hochachtung musikalischen Könnens.


    Was Mozart und Haydn noch verbindet, ist der 17jährige Beethoven, der im Jahre 1787 nach Wien reiste, um bei Joseph Haydn Unterricht zu nehmen. Natürlich nutzte er die Gelegenheit, um auch bei Herrn Mozart auf einen Kaffee vorbeizuschauen. Mehr Zeit hatte Mozart für den jungen Beethoven in der Tat nicht, denn der Erfolg des „Figaro“ war noch nicht ganz verdaut, da arbeitete Mozart bereits fieberhaft an seinem „Don Giovanni“, der ihm auch noch zwei unabdingbare Reisen nach Prag abverlang-te. Beethoven traf etwas später - 1790 - abermals auf Joseph Haydn in Bonn-Bad Godesberg, um ihm seine Werke vorzulegen.


    Nach den Strapazen des „Don Giovanni“ komponierte Mozart mal eben innerhalb eines Jahres die beiden Klavierquartette g-moll und Es-Dur, das Kegelstatt-Trio, zwei Klaviertrios, die „kleine Nachtmusik“, zwei Streichquintette, die kleine Oper „Der Schauspieldirektor“ und ganz nebenbei 5 große Klavierkonzerte, darunter das allzu bekannte Klavierkonzert in d-moll, zu dem die bis heute unvergleichbaren und eigentlich obligatorischen Kadenzen aus der Hand und Feder Ludwig van Beethovens erhalten sind.


    Im Frühjahr 1789 reiste Mozart nach Potsdam und Berlin und erhielt dort offenbar Anregung, sich mit der Komposition von Streichquartetten zu be-schäftigen. Es entstanden also die drei „Preußischen Quartette“. Der König von Preußen, Friedrich Wilhelm II., war ein außerordentlich guter Cellist, weshalb Mozart in dem Quartett D-Dur KV 575 dem Violoncello viele Solopassagen zugedacht hat. Er wollte eigentlich sechs Quartette für den König von Preußen schreiben, diese auf eigene Kosten stechen lassen und sie dem König von Preußen widmen. Er erhoffte sich davon eine Aufbesserung seines Geldbeutels. Ein finanzieller Engpass hinderte ihn jedoch bald an seinem Vorhaben, so schreibt er am 12. Juni 1790 an den Freund Puchberg: Nun bin ich gezwungen, meine Quartetten (diese mühsame Arbeit) um ein Spottgeld herzugeben, nur um in meinen Umständen Geld in die Hände zu bekommen.


    Kommen wir zurück zu Joseph Haydn, dem „Vater des Streichquartettes“. Die Verehrung Mozarts gegenüber Haydn war unglaublich groß. So groß, dass er sich die Quartette Haydns zur Vorlage nahm und in den Jahren 1782 bis 1785 – also in vier Jahren ! was ungewöhnlich für einen Mozart ist – ganze sechs Streichquartette schrieb, die er Joseph Haydn zum Geschenk machte. Er trat alle Rechte, insbesondere die finanziellen (!), an Haydn ab und versah die sechs Streichquartette, die heute unter dem Na-men „Haydn-Quartette“ bekannt sind mit folgender ergreifender Widmung:


    An meinen teuren Freund Haydn.


    Ein Vater, der sich entschlossen hat, seine Söhne in die große, weite Welt hinauszuschicken, hielt es für seine Pflicht, sie dem Schutz und der Leitung eines zu dieser Zeit sehr gefeierten Mannes anzuvertrauen, der zudem noch sein bester Freund war.


    In der gleichen Weise sende ich Ihnen meine sechs Söhne, vielgefeierter und sehr teurer Freund. Sie sind wirklich die Frucht langen, harten Studiums; aber die Hoffnung, die viele meiner Freunde mir gaben, dass diese Mühe in irgendeiner Weise belohnt werden wird, ermutigt mich und legt mir den Gedanken nahe, dass diese Kinder sich eines Tages als eine Quelle des Trostes für mich erweisen werden.


    Während Ihres letzten Aufenthalts in dieser Hauptstadt drückten Sie, mein sehr teurer Freund, selbst Ihr Wohlgefallen an diesen Kompositionen aus. Ihre gute Meinung ermutigt mich, Sie Ihnen darzubieten und leitet mich in der Hoffnung, dass Sie sie Ihrer Gunst nicht ganz unwürdig erachten werden. Nehmen Sie sie also freundlich auf und seien Sie ihnen ein Vater, Führer und Freund! Von diesem Augenblick an trete ich alle meine Rechte daran an Sie ab. Ich bitte Sie aber, mit jenen Fehlern, die dem parteiischen Blick des Vaters entgangen sein mögen, Geduld zu haben und, ihnen zum Trotz, Ihre großzügige Freundschaft mit jenem fortzusetzen, der Sie so hoch schätzt. In der Zwischenzeit bin ich von ganzem Herzen, teuerster Freund, Ihr aufrichtigster Freund


    W.A. Mozart. / Wien, den 1. September 1785


    Haydns Wohlgefallen an diesen Kompositionen haben wir wörtlich zu Beginn gelesen. So schließt sich nun der Kreis, der Verehrer wird zum Verehrten und umgekehrt.


    Die Komposition des Quartettes C-Dur KV 465 ist nicht ganz unumstritten gewesen und trägt nicht ohne Hintergrund den Titel „Dissonanzen-Quartett“. Wir haben also die Gelegenheit nicht ausgelassen, Ihnen heute Abend doch noch „Katzenmusik“ zu präsentieren. Die langsame Einleitung des gleich folgenden Dissonanzen-Quartettes hat in den Musikerkreisen der damaligen Zeit einigen Anlass zu größeren Diskussionen gegeben. Ja, es wurden sogar in Druckausgaben dieses Quartettes die angeblichen „Dissonanzen“ von einem Dilettanten beseitigt und „harmonisiert“. Weiterhin mutmaßte man im zweiten Satz weitere Flüchtigkeitsfehler Mozarts, die angepasst wurden. Sogar heute noch findet man in modernen Druckausgaben renommierter Musikverlage diese „Ausbesserungsarbeiten“ ohne Hinweis auf eine vorgenommene Ergänzung. Ich habe mit meiner Frau in akribischer Kleinstarbeit anhand der zugänglichen Quellen und Notentexte diese „Verunglimpfungen“ eliminiert, so dass Sie heute Abend wieder die RICHTIGE Katzenmusik zu Gehör bekommen werden, denn ein echter Wolfgang Amadeus Mozart irrt NIEMALS.


    [aus meiner Moderation vom 27.01.2005]

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • DER DIRIGENT


    Es gibt keinen anschaulicheren Ausdruck für Macht als die Tätigkeit des Dirigenten. Jede Einzelheit seines öffentlichen Verhaltens ist bezeichnend, was immer er tut, wirft Licht auf die Natur der Macht. Wer nichts über sie wüsste, könnte eine nach der anderen aus einer aufmerksamen Betrachtung des Dirigenten ableiten. Daß es nie geschehen ist, hat einen einleuchtenden Grund: Die Musik, die der Dirigent hervorruft, schien den Menschen die Hauptsache, und es galt als ausgemacht, dass man in Konzerte geht, um Symphonien zu hören. Der Dirigent selber ist davon am meisten überzeugt; sein Treiben, glaubt er, ist Dienst an der Musik und soll diese genau vermitteln, nichts sonst.


    Der Dirigent hält sich für den ersten Diener an der Musik. Er ist von ihr so sehr erfüllt, daß ihm der Gedanke an einen zweiten, außermusikalischen Sinn für seine Tätigkeit gar nicht kommen kann. Über die folgende Deutung wäre niemand mehr erstaunt als er.


    Der Dirigent steht. Die Aufrichtung des Menschen als alte Erinnerung ist in vielen Darstellungen der Macht noch von Bedeutung. Er steht allein. Um ihn herum sitzt sein Orchester, hinter ihm sitzen die Zuhörer, es ist auffallend, daß er allein steht. Er steht erhöht und ist von vorn und im Rücken sichtbar. Vorne wirken seine Bewegungen aufs Orchester, nach rückwärts auf die Zuhörer. Die eigentlichen Anordnungen gibt er mit der Hand allein oder mit Hand und Stab. Diese oder jene Stimme weckt er plötzlich zum Leben durch eine ganz kleine Bewegung, und was immer er will, verstummt. So hat er Macht über Leben und Tod der Stimmen. Eine Stimme, die lange tot ist, kann auf seinen Befehl wiederauferstehen. Die Verschiedenheit der Instrumente steht für die Verschiedenheit der Menschen. Das Orchester ist wie eine Versammlung all ihrer wichtigsten Typen. Ihre Bereitschaft, zu gehorchen, ermöglicht es dem Dirigenten, sie in eine Einheit zu verwandeln, die er dann allgemein sichtbar für sie vorstellt.


    Das Werk, das er aufführt, auf alle Fälle komplexer Natur, erfordert von ihm, daß er scharf aufpaßt. Geistesgegenwart und Raschheit gehören zu seinen kardinalen Eigenschaften. Über Gesetzesbrecher muss er mit Blitzesschnelle herfallen. Die Gesetze werden ihm an die Hand gegeben als Partitur. Andere haben sie auch und können seine Durchführung kontrollieren, aber er ganz allein bestimmt, und er ganz allein richtet auf der Stelle über Fehler. Daß dies öffentlich geschieht, in jeder Einzelheit allgemein sichtbar, gibt dem Dirigenten ein Selbstgefühl eigener Art. Er gewöhnt sich daran, immer gesehen zu werden und kann es immer schwer entbehren.


    Das Stillsitzen der Zuhörer gehört so sehr zur Absicht des Dirigenten wie die Folgsamkeit des Orchesters. Es wird ein Zwang auf die Zuhörer ausgeübt, sich unbeweglich zu verhalten. Bevor er da ist, vor dem Konzert, sprechen und bewegen sie sich durcheinander. Die Anwesenheit der Musiker stört niemand, man beachtet sie kaum. Da erscheint der Dirigent. Es wird still. Er stellt sich auf; er räuspert sich, er hebt den Stab: alle verstummen und erstarren. Solange er dirigiert, dürfen sie sich nicht bewegen. Sobald er zu Ende ist, sollen sie klatschen. Alle ihre Bewegungslust, die durch die Musik geweckt und gesteigert wird, soll sich bis zum Ende stauen, dann aber losbrechen. Für die klatschenden Hände verneigt er sich. Die sie kehrt er immer wieder zurück, sooft die Hände es wollen. Ihnen, aber ihnen allein, ist er ausgeliefert, für sie lebt er wirklich. Es ist die alte Akklamation des Siegers, die ihm so zuteil wird. Die Größe des Sieges drückt sich im Maß des Beifalls aus. Sieg und Niederlage werden zur Form, in der sein seelischer Haushalt sich organisiert. Nichts außerhalb zählt, alles, was es sonst im Leben von anderen gibt, verwandelt sich hier in Sieg und Niederlage.


    Während des Spiels ist der Dirigent für die Menge im Saal ein Führer. Er steht an ihrer Spitze und hat ihnen den Rücken zugekehrt. Er ist es, dem man folgt, denn er tut den ersten Schritt. Aber statt mit dem Fuße holt er mit der Hand aus. Der Ablauf innerhalb der Musik, den die Hand bewirkt, steht für den Weg, den er mit den Beinen voranschreiten würde. Der Haufen im Saal wird durch ihn entführt. Während eines ganzen Werkes bekommen sie sein Gesicht nie zu sehen. Er ist unerbittlich, Rast ist nicht erlaubt. Sein Rücken steht immer vor ihnen, als wäre er das Ziel. Würde er sich einmal wenden, ein einziges Mal, der Bann wäre gebrochen. Der Weg, den sie gehen, wäre nicht mehr ein Weg, und sie säßen enttäuscht in einem unbewegten Saal. Aber man kann sich darauf verlassen, daß er sich nicht umwendet. Denn während sie ihm folgen, hat er vorne eine kleine Armee von Berufsspielern zu meistern. Auch hier hilft ihm die Hand, aber sie gibt nicht nur Schritte an, wie für die Leute hinten, sie erteilt Befehle.


    Sein Blick, so intensiv wie möglich, erfasst das ganze Orchester. Jedes Mitglied fühlt sich von ihm gesehen, aber noch mehr von ihm gehört. Die Stimmen der Instrumente sind die Meinungen und Überzeugungen, auf die er schärfstens achtet. Er ist allwissend, denn während die Musiker nur ihre Stimmen vor sich liegen haben, hat er die vollständige Partitur im Kopf oder auf dem Pult. Es ist ihm genau bekannt, was jedem in jedem Augenblick erlaubt ist. Daß er auf alle zusammen achtet, gibt ihm das Ansehen der Allgegenwärtigkeit. Er ist sozusagen in jedermanns Kopf. Er weiß, was jeder machen soll, und er weiß auch, was jeder macht. Er, die lebende Sammlung der Gesetze, schaltet über beide Seiten der moralischen Welt. Er gibt an, was geschieht, durch das Gebot seiner Hand, und verhindert, was nicht geschehen soll. Sein Ohr sucht die Luft nach Verbotenem ab. Für das Orchester stellt der Dirigent so tatsächlich das ganze Werk vor, in seiner Gleichzeitigkeit und Aufeinanderfolge, und da während der Aufführung die Welt aus nichts anderem bestehen soll als aus dem Werk, ist er genau solange der Herrscher der Welt.



    (aus: Elias Canetti: Masse und Macht; Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main, 1981, S.442 ff.)

    Die wirkliche Basis eines schöpferischen Werks ist Experimentieren - kühnes Experimentieren! (Edgar Varèse)

  • Hinter dem heutigen 4. Türchen des Tamino-Advent-Kalenders liegen die Schweizer Alpen – genauer: die Flumserberge südlich von Zürich.


    Es ist ein wunderschöner Sommertag in der Mitte der achtziger Jahre. Wir – noch ohne Kinder – sind zum Wandern da. Früh brechen wir auf, steigen hinauf zu jenem märchenhaften kleinen See zwischen den Bergen, den wir bisher nur aus dem Ski-Urlaub als weißverschneite Ebene kennen. Starr und glatt ruht er nun vor unseren Augen und malt uns auf seiner Oberfläche das Abbild des herrlichen Bergpanoramas. Am Ufer liegt ein altes, verwunschenes Hotel mit spitzen Türmchen, das den Betrachter an die Kulissen aus der Verfilmung des Zauberbergs von Thomas Mann denken lässt. Ein Idyll des Friedens und der Stille, wie es schöner nicht sein kann. Wir schreiten aus, genießen den Anblick dieses Elysiums und merken mit Freude, wie die Seele zur Ruhe kommt.


    Mit einem Male höre ich Musik: weiche, getragene Töne, rund und voll, wie ein fernes Rufen von irgendwoher. Es ist ein Alphorn! Die Klänge hallen von den Hängen wider und fügen sich zu einer Melodie, die ich nur allzu gut kenne. Es ist Musik von Brahms, aus seiner Ersten Sinfonie.


    Kurz nach dem Adagio-Beginn des 4. Satzes mit dem zweifachen, zögernden Anlauf der Streicher im Pizzicato kommt jenes wilde Auffahren, das in einem verebbenden Paukenwirbel mündet, und dann…… Ja, was dann?


    Es geht die Mär, dass Brahms nicht nur an dieser Stelle stockte und mit dem Fortgang seiner Ersten Sinfonie haderte. 15 Jahre lang beschäftigte ihn das Projekt. Ab 1862 finden sich die ersten Entwürfe. Doch die Fertigstellung gelang ihm erst 1876.


    Nach jenem Paukenwirbel im vierten Satz kommt in Takt 30 eine der schönsten Wendungen der Sinfonie: eine Hornmelodie (sempre e passionato). Brahms soll lange gesucht haben, bis ihm die Idee kam, eine Alphorn-Melodie, die er einst in den Schweizer Bergen gehört hatte, als Überleitung zum Allegro des Finales einzufügen.


    Er kannte diese Melodie schon lange. Am 12. September 1868 hatte er sie schon einmal an Clara Schumann als Geburtstagsgruß geschickt mit der Überschrift „Also blus das Alphorn heut“. Unter die Melodie schrieb er damals an die geliebte Clara: „Hoch auf dem Berg, tief im Tal, grüß ich dich vieltausendmal.“
    Jahre später fand diese wunderschöne Melodie dann Eingang in das Finale seiner c-moll-Sinfonie.


    Als ich diese Melodie in den Flumserbergen hörte, durchfuhr mich ein köstlicher Schauer. Wir liefen den Tönen nach, kamen um eine Biegung, und da stand der Alphornbläser, in zünftiger Tracht, das lange Rohr mit beiden Händen fest umfassend. Den Trichter des Instruments hatte er zum See gerichtet und auf einem Baumstumpf aufgestützt. Niemand sonst war da. Wir gingen zu ihm, sprachen ihn an.


    „Das ist doch Brahms!“, sagte ich. „Ach ja?“ erwidert er. - Er wusste es nicht einmal! Wir suchten in den Noten, konnten zunächst nichts finden. Dann blätterte er noch einmal zurück und wies mit dem Finger darauf. Tatsächlich war es dort vermerkt, ganz klein. Er hatte es immer überlesen: „Alte Volksweise, von Johannes Brahms im Finale seiner 1. Sinfonie verwendet.“


    Eine Weile noch standen wir bei ihm und hörten zu. Dann gingen wir weiter in die Berge hinein und lauschten noch lange den verklingenden Weisen des Alphorns.


    Immer wenn ich die Erste Sinfonie von Johannes Brahms höre, denke ich an diesen Tag in den Alpen. Ich werde ihn nie vergessen.

    "Muss es sein? - Es muss sein!" Grave man non troppo tratto.

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  • Es ist nicht gut, sich auf etwas zu freuen


    Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, daß wir eigentlich nichts anderes tun, als unser Leben in Vorfreude zu verbringen, und daß wir nicht leben können, ohne uns auf etwas zu freuen? Im Winter freuen wir uns auf den Frühling, und wir zaubern uns die Schönheit warmer Abende und die Herrlichkeiten der Sommersonne am Wasser vor Augen. Im Sommer schmieden wir Pläne für einen Skiausflug, stellen uns mit heimlicher Wonne einen geheizten Kachelofen, eine Stehlampe und ein liebes Buch vor, denken an Winterstimmungen im Schnee und an den Reiz eines grauen, verhangenen Himmels. Wir freuen uns auf ein Kleid, das wir bekommen werden, auf ein Konzert, das wir besuchen werden, auf eine Stadt, die wir sehen werden, und auf ein Wiedersehen, das uns bevorsteht. Als ich ein kleines Mädchen war, freute ich mich unbändig - "auf das Leben". Ich erwartete, daß auf einmal, plötzlich, ganz unversehens das Leben beginnen würde. Ein Vorhang öffnet sich, und nun kommt das Leben. Es kam nichts, und es kamen viele Dinge, aber es war nicht das Richtige, irgendwie war es nicht das Leben, ich merkte nicht einmal, daß ich kein kleines Mädchen mehr war und mich immer noch auf das Leben freute, immer noch darauf wartete. Dagegen war es längst das Leben auch schon damals, als ich klein war und mich darauf freute. Dinge und Ereignisse, auf die ich mich freute, zogen nacheinander vorüber und waren bei weitem nicht so schön wie die Freude darauf und wurden erst in der Erinnerung wieder schön und in der neuen Freude auf ihre Wiederholung. Manchmal scheint mir, wir leben am Rande einer Versenkung, in die unsere Gegenwart fällt. Wir sind über die Vergangenheit unterrichtet und befassen uns überflüssigerweise mit ihr, ohne sie ändern zu können, und wir kennen genau die Zukunft und befassen uns überflüssigerweise mit ihr, ohne sie je erraten oder lenken zu können. Das einzige, worüber wir nichts wissen, ist die Gegenwart, der heutige Nachmittag, die Stunde, in der wir uns befinden. Wir hüten die Vergangenheit als Schatz und berechnen die Zukunft, aber vergeuden die Gegenwart auf hoffnungslose Weise. Es dringt kaum bis in unser Bewußtsein, daß sie das Leben ist und allein sie. Wir kochen Tee und meinen, das sei nur ein Zwischenspiel zwischen etwas, was war und was sein wird. In Wahrheit ist es nicht so, sondern das ist das Leben. Etwas anderes ist das Leben nicht. Es ist ruhmlos, gewöhnlich und voller Enttäuschungen, es ist nämlich eine einzige große Enttäuschung, ist das ewige Sitzen im Wartesaal, das Warten auf einen Schnellzug, der nie kommt. Aber diese Waldlichtung mit Heidekraut, Sand und spärlichen Kiefern, durch deren Kronen die Sonne scheint, ist wunderbar schön, dummes Herz, denke jetzt nicht an einen Mann, der dich entweder zu wenig oder zu sehr liebt, denke nicht an einen neuen Mantel mit gebrauchtem Futterstoff und nicht an die Notwendigkeit, ans Steueramt zu schreiben, denke nur an das, was du siehst. Denke einzig und allein daran, erfasse es gänzlich, vergiß alles andere, sei weder traurig noch fröhlich, auch nicht glücklich oder sehnsüchtig, das ist alles Unsinn, sei jetzt gegenwärtig und sei fähig, mein Gott, sei fähig nur diese Stunde zu sehen und alles auszukosten, was sie in sich birgt. Sei fähig, die Kette aus Angst, Unsicherheit, Schmerz, Unzufriedenheit und Sehnsucht zu zerreißen, ganz einfach: sei. Niemand wird dir je ersetzen, was dir gerade entflogen ist, aber über den heutigen Schmerz wirst du morgen lachen. Du hast noch nie etwas erlebt, was du tags darauf nicht in anderem Lichte gesehen hättest und am nächsten Tag wieder in anderem, man kann sich also darauf verlassen: Was dir alles todwichtig vorkommt, ist es nicht. Wenn du deine Sorgen so ernst nimmst, vergißt du leichtsinnig die gegenwärtige Stunde, und sie allein ist in deinem Leben todwichtig, unwiederbringlich verloren und unersetzlich vertan.


    (Milena, Národni Lsty, 22. August 1926)
    aus: Milena Jesenská "Alles ist Leben"

  • “Falstaff” oder: “Das Geschenk des Lebens”






    “Ein alter Herr wird geprellt. Verdientermaßen. Denn sein Lebenslauf ist Saufen, Fluchen, Nichtstun und das Herumkriegen von anderer Leute Weiber. Und trotzdem und obgleich er die Weiber nebenbei auch gebraucht, an dem Geld ihrer Männer nutzzunießen, hat der Ritter Falstaff nicht nur unsere Sympathie, sondern unsere Liebe.”


    Alfred Polgar



    “Keine Erlösung, kein tragischer Rest, nichts als schlichte Dankbarkeit für das Geschenk - theologischer: die Gnade - des Lebens.”


    Ulrich Schreiber





    Hinter meinem Adventstürchen verbergen sich Ausschnitte aus Texten über Verdis letzte Oper “Falstaff”, deren Inhaltsangabe ich gerade für unseren Tamino-Opernführer verfasse. Zwei Musikschriftsteller erhalten das Wort. Zum einen: Oskar Bie ( 1864 -1938 ), einflußreicher Feuilletonist, der 1913 ein berühmt gewordenes Buch über das “unmögliche Kunstwerk Oper” veröffentlichte. Zum anderen: Dietmar Holland (geb. 1949), Musikkritiker, Schallplattenrezensent sowie Herausgeber von Konzert-, und Opernführern. Beide beleuchten in ihrer teilweise recht subjektiven Art wichtige Facetten dieses Meisterwerkes wissenden Lachens.




    Oskar Bie



    Falstaff



    Das Ende ist der Falstaff. Ein Ende im Geiste, der alle irdischen Versuchungen überwunden hat. Nicht ein Versinken in die Tiefen der Sentimentalität oder Religiosität, sondern ein Hinaufführen in die freudige Höhe, in die Höhe, da man dankbar auf das Leben zurückblickt und von ihm genesen ist zu jener großen Weisheit, die Humor heißt. Der Herbst neigt zum Winter, alles wird fein, klein, alles wird Gehirn und Anschauung, Behaglichkeit der Erinnerung, Schellenklingen und Gelächter am Kamin. Die Augen leuchten, der Witz sprüht und das Herz bleibt ruhig. Welche innere Güte gehört zu dieser Leidenschaftslosigkeit, welcher ausgeglichene Ernst zu diesem Humor. Das ist ein Werk, das ihn wirklich besitzt, diesen viel beredten Humor, den tausend andere um ihn herum durch Springen und Grinsen zu erreichen suchen. Es sucht ihn nicht, es hat ihn; es doziert ihn nicht, sondern es gibt ihn zu. Es nimmt sich selbst lustig und befreit ohne Widerstand alle Sentiments. Es ist ein Wiederaufleben des alten Buffotums aus dem Intellekt des modernen Menschen. Nicolai war mit demselben Stoff aus dem Buffotum ins Romantische gesunken. Verdi steigt aus jeder Romantik in das Buffotum. Boito hat ihm den Text sehr glücklich zurechtgemacht. Er scheidet die Verkleidungsszene aus und beschränkt sich auf den Waschkorb. Er setzt die Paraphrase auf die Ehre aus Heinrich IV. in die lustigen Weiber ein. Alles ist knapp und spritzig. Der Übermut Shakespearscher Worte bleibt nackt, für leichte Hüllen der Musik. Und es wurde so neu, durchsichtig, spielend, verwegen und voll letzten Geistes, dass es niemals dem Publikum sonderlich gefallen hat und überall die Kenner zu einem Entzücken ohnegleichen führte. (...) Laßt uns leben, erlösen wir uns, reißen wir uns die Masken herunter, seien wir fröhlich und guter Dinge, und um dieser Wahrheit dieselbe Ehre zu geben wie unserer vortrefflichen alten musikalischen Schule, verbindet zum Schluß ein Zukünftiges mit einem Vergangenen, singt eine große, richtige, feierlich-unfeierliche Ensemblefuge auf den Inhalt “Tutto in mondo è burla”. Und Verdi singt eine Stimme mit: ridi ben, chi ride la risata final.


    (aus: Oskar Bie, “Die Oper”, 1913, S. 415 ff.)




    Dietmar Holland



    Die Welt ist ein Irrenhaus oder:
    Die Obertöne Shakespeares


    (...)


    Ende gut, alles gut?


    (...) Wie wäre nun also zu schließen? Von einem guten Ende kann keine Rede sein (außer für Nanetta und Fenton, aber sie haben es ja von Anfang an gewusst), von einer Lösung der Konflikte auch nicht. Die Bühne ist weiterhin offen für die Welt als Irrenhaus, diese Botschaft ist das Fazit, das Verdi mit dem einzigartigen Fall zieht, noch ein Stück nach der Handlung zu schreiben, jenes unvergleichliche Wort des Musikers an das Publikum, nein, an die ganze Menschheit aller Zeiten, das zugleich ein Abschied vom Theater ist: die Schlussfuge. Wie könnte besser das Chaos der Welt in Ordnung gebracht werden, als in der strengsten musikalischen Gattung, die es überhaupt gibt? Und hätte Verdi sein Lebenswerk besser abschließen können als mit den Klängen jener “Banda” am Ende der Fuge, mit der er einst seine Laufbahn begonnen hat? Wo der letzte Wagner nur “Verklärung” will, da steht Verdi auf dem festesten Boden, der überhaupt denkbar ist. Und der Musiker merkt, dass das Thema der Schlussfuge das heimliche Integral der gesamten Oper ist. Die hermetische Kunstwelt des “Falstaff”, des Textbuchs wie der Musik, gipfelt in dieser Fuge als ausdrückliche Demonstration des Kunstcharakters, und es ist Boitos letzte Hommage an Shakespeares Welttheater, von dem Goethe sagte, es drehe sich um den geheimen Punkt, den noch kein Philosoph gesehen und bestimmt habe, in dem das Eigentümliche unseres Ichs, die prätendierte Freiheit unsres Willens, mit dem notwendigen Gang des Ganzen zusammenstoße: Der Text der Fuge ist zwar Boitos Erfindung, aber die Anregung stammt aus Shakespeares Komödie “As you like it”. Es sind Jacques´ Worte vom Schluss des zweiten Aktes: “Die ganze Welt ist Bühne, und alle Fraun und Männer bloße Spieler.” Damit schließt sich der Kreis. Verdis Kunst hat die Obertöne Shakespeares für uns hörbar gemacht.


    (aus: Attila Csampai / Dietmar Holland (Hrsg.), “Giuseppe Verdi - Falstaff - Texte, Materialien, Kommentare”, 1986, S. 31)

    "Mache es besser! (...) soll ein bloßes Stichblatt sein, die Stöße des Kunstrichters abglitschen zu lassen."


    (Gotthold Ephraim Lessing: Der Rezensent braucht nicht besser machen zu können, was er tadelt)

  • Bronchitis catarrhalis in d-Moll


    Der Abend des Konzertzyklus begann wie üblich. Die Mitglieder des Orchesters stimmten ihre Instrumente, und der Dirigent wurde mit warmem Beifall empfangen. Er konnte ihn brauchen, denn draußen war es saukalt. Tschaikowskis Pathétique klang denn auch am Beginn ein wenig starr und steif. Erst als die Streicher gegen Ende des ersten Satzes das Hauptmotiv wiederholten, kam Schwung in die Sache: Ein in der Mitte der dritten Reihe sitzender Textilindustrieller hustete. Es war ein scharfes Sforzato-Husten, gemildert durch ein gefühlvolles Tremolo, mit dem der Vortragende nicht nur seine perfekte Kehlkopftechnik bewies, sondern auch seine flexible Musikalität.


    Von jetzt an steuerte der Abend immer neuen Höhepunkten zu. Die katarrhalischen Parkettreihen in der Mitte und ein Schnupfensextett auf dem Balkon, spürbar von der aufwühlenden Hustenkadenz inspiriert, fielen mit einer jubelnden Presto-Passage ein, deren Fülle – eine Ensemblewirkung von natürlichem, wenn auch etwas nasalem Timbre – nichts zu wünschen übrig ließ. In diesem Abschnitt machte besonders die auf einem Eckplatz sitzende Inhaberin eines führenden Frisiersalons auf sich aufmerksam, die ihr trompetenähnliches Instrument virtuos zu behandeln wusste und mit Hilfe ihres Taschentuches reizvolle Con-sordino-Wirkungen erzielte. Obwohl sie manchmal etwas blechern intonierte, verdiente die Präzision, mit der sie das Thema aufnahm, höchste Bewunderung. Ihr Gatte steuerte durch diskretes Räuspern ein kontrapunktisches Element bei, das sich dem Klangbild aufs glücklichste einfügte.


    Ein gemischtes Duo, das neben uns saß, beeindruckte uns durch werkkundiges Mitgehen. Beide hielten sich mit beispielhaft konsequentem Husten an die auf ihren Knien liegende Partitur: tam-tam – moderato sostenuto; tim-tim – allegro ma non troppo. Meine Frau und ich – zunächst etwas beschämt wegen chronischen Bazillenmangels nichts beitragen zu können – waren von den Darbietungen hingerissen und ließen uns auch durch das Orchester nicht stören, dessen disparate Bemühungen in unvorteilhaftem Kontrast zur Harmonie des Tutti-Niesens standen.


    Das nächste Programmstück, ein blässlicher Sibelius, wurde durch den polyphonen Einsatz der Zuhörerschaft nachhaltig übertönt. Da überwand ich meine heilen Stimmbänder, wartete, bis das Tongedicht an einer Fermate zum Stillstand kam und die Bläser für die kommenden Strapazen tief Atem holten, erhob mich ein wenig von meinem Sitz und ließ ein sonores, ausdrucksvolles Husten hören, das meine musikalische Individualität voll zur Geltung brachte.


    Die Folgen waren elektrisierend. Der Dirigent, respektvolles Erstaunen im Blick, wandte sich um und gab dem Orchester ein Zeichen, meine Darbietung nicht zu unterbrechen. Er zog auch einen in der ersten Reihe sitzenden Solisten heran, einen erfolgreichen Grundstücksmakler, der das von mir angeschlagene Motiv in hämmerndem Staccato weiterführte. Befeuert von den immer schnelleren Tempi, die der Maestro ihm andeutete, steigerte er sich zu einem trillernden Arpeggio, dessen lyrischer Wohlklanggelegentlich von einer kleinen Unreinheit gestört wurde, im ganzen aber eine höchst männliche, ja martialische Färbung aufwies.


    Es ist lange her, seit das große Auditorium von einer ähnlich überwältigenden Hustensymphonie erfüllt war. Auch das Orchester konnte nicht umhin, vor der unwiderstehlichen Wucht dieser Leistung zurückzuweichen und das Feld denen zu überlassen, die in der schwierigen Kunst des konzertanten Hustens solche Meisterschaft an den Tag legten. Das sorgfältig ausgewogene Programm gipfelte in einem Crescendo von unvergleichlicher Authentizität und einem machtvollen Unisono, das – frei von falschen Romantizismus und billigen Phrasierungen – alle instrumentalen Feinheiten herausarbeitete und mit höchster Bravour sämtliche Taschentücher, Zellophansäckchen, vor den Mund gehaltene Schals und Inhalationsapparate einsetzte.
    Ein unvergeßlicher Abend. Vor allem für Hals-, Nasen-, Ohrenärzte.



    (aus: Ephraim Kishon, Hausapotheke für Gesunde, Weltbild Verlag, S. 37 ff)

    Da freute sich der Hase:
    "Wie schön ist meine Nase
    und auch mein blaues Ohr!
    Das kommt so selten vor."
    - H. Heine -

  • Franz Kafka war ein Mensch, dem ich mich beim Lesen seiner Schriften sehr verbunden fühle. Heute eine kleine, harmlose, Auswahl von Texten, die mittlerweile mein „täglich Brod“ geworden sind:



    So fest wie die Hand den Stein hält.
    Sie hält ihn aber fest, nur um ihn desto weiter zu werfen.
    Aber auch in jene Weite führt der Weg.
    Du bist die Aufgabe. Kein Schüler weit und breit.
    Vom wahren Gegner fährt grenzenloser Mut in dich.
    Das Glück begreifen, daß der Boden, auf dem du stehst,
    nicht größer sein kann, als die zwei Füße ihn bedecken.
    Wie kann man sich über die Welt freuen,
    außer wenn man zu ihr flüchtet?


    [aus dem dritten Oktavheft, Eintrag vom 12. November 1917]



    * * *


    Es gibt ein Ziel, aber keinen Weg;
    Was wir Weg nennen, ist Zögern.


    [aus dem dritten Oktavheft, Eintrag vom 18. November 1917]



    * * *


    Eine Katze hatte eine Maus gefangen. „Was wirst Du nun machen?“
    fragte die Maus, „du hast schreckliche Augen.“
    „Ach“, sagte die Katze, „solche Augen habe ich immer. Du wirst dich daran gewöhnen.“
    „Ich werde lieber weggehn“, sagte die Maus, „meine Kinder warten auf mich.“
    „Deine Kinder warten?“ sagte die Katze, „dann geh nur so schnell als möglich. Ich wollte dich nur etwas fragen.“
    „Dann frage, bitte, es ist wirklich schon sehr spät.“


    [Fragmente aus Heften und losen Blättern]



    * * *


    KLEINE FABEL


    „Ach“, sagte die Maus, „die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit,
    dass ich Angst hatte; ich lief weiter und war glücklich, dass ich endlich in der Ferne Mauern
    sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, dass ich schon im letzten
    Zimmer bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe.“ –
    „Du musst nur die Laufrichtung ändern“, sagte die Katze und fraß sie.



    * * *


    Starker Regenguß.
    Stelle dich dem Regen entgegen,
    laß die eisernen Strahlen dich durchdringen,
    gleite in dem Wasser, das dich fortschwemmen will,
    aber bleibe doch,
    erwarte so aufrecht die plötzlich und endlos
    einströmende Sonne.


    [Aufzeichnungen aus dem Jahre 1914, ~ Anfang Mai]

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Dvorák - Triumph in England



    Es war in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts ein selbstverständlicher Normalfall, dass ein tschechischer Komponist (oder auch Schriftsteller, Maler oder Sänger) seinen Weg des internationalen Ruhmes über Wien oder eine der deutschen Kulturhauptstädte antrat. Durch Förderungen seiner Freunde Brahms oder auch Joachim gelang es ihm, seinen Kollegen Smetana abzuhängen, indem sein Name nun nicht mehr nur nationalen Klang hatte – jedoch beschränkte sich dieser internationale Ruf zunächst nur auf den deutschen Kulturkreis.
    Umso bedeutender wurde es nun, dass sich der Name Dvorák noch weiter in der Welt herumspricht.
    Seine ersten Akzente setzte Dvorák in England, als er bei Dirigier-Gastspielen erste Erfolge feierte.


    „…Musik eines Volkes, von dessen Existenz die Bewohner Albions sonst vielleicht keine Ahnung gehabt hätten! Kann jemand die große künstlerische und kulturelle Bedeutung dieser Erfolge Dvoráks bestreiten?“
    (Otakar Sourek)


    Als Dvorák die Engländer zum ersten Mal begeisterte, machten sich Fachkritiker auf den Weg in deutschen Quellen Informationen über ihn zu finden, weil er selbst diesen noch so unbekannt war.
    Nach seinem fünften Englandbesuch hatte er die Insel erobert und nun konkurrierte sein Name mit Brahms – „böhmischer Brahms“ tituliert, empfang er einen wahren Ehrentitel.


    Im Jahre 1884 kam es zu einer wahrhaften Sensation! So erhielt der tschechische Komponist eine Einladung durch die Londoner Philharmonic Society, seine eigenen Werke in London zu dirigieren – sein Landsmann Smetana, mittlerweile durch die „Verkaufte Braut“ international als Genie eingestuft und zu Hause viel berühmter, wurde zu dergleichen nie aufgefordert.


    Bevor Dvorák nach England kam, wurde der neue Boden für den Böhmen schon vorbereitet. Der deutsche Star-Dirigent Hans Richter und das Joachim-Quartett taten dies mit Bravour. Unter dem Taktstock Richters spielte die Philharmonic Society in London die Slawischen Tänze und die Slawische Rhapsodie, welche auf positive Resonanz trafen. Nach der typisch englischen Art war man nun begierig auf den Kontakt mit dem unbekannten Urheber solch liebenswürdiger Klänge – es folgte die besagte Einladung, welcher Dvorák im März des Jahres 1884 nachkam. In Begleitung des Pianisten und Fürstenbergischen Hofkomponisten Jindrich Kàan landete er jenseits des Kanals und wurde aufs Herzlichste begrüßt.
    Eine Herberge fand Dvorák bei dem in London wirkenden deutschen Pianisten Oskar Beringer, über den Dvorák sagte, er sei Muster eines Musikanten, ein Ehrenmann, der mich geradezu auf Händen trägt.


    Mit der Aufführung des Stabat mater in der riesigen Royal Albert Hall unter der Leitung des Komponisten feierte Dvorák einen sensationellen Erfolg! Die ‚Times’ schrieb von einer vollendeten Wiedergabe und die ‚Morning Post’ rühmte seine ruhige, unauffällige und doch feste Art zu dirigieren.
    Natürlich war er kein Pult-Star. So äußerte er sich selbst grimmig darüber, dass man so viel mit der Rechten herumfuchteln müsse, obwohl er doch lieber mit ihr dreinschlüge…


    Bei all den Erfolgen, die Dvorák auf der Insel genoss, schrieb er immer wieder in seine Heimat. Besonders mit seinem Vater hatte er Briefkontakt. In seinen Briefen drückte er nicht nur seine Freude über sein Vorankommen aus, sondern auch seine Überwältigung über die Weltstadt London und die Engländer.


    Damit Ihr nur einen kleinen Begriff davon bekommt, wie dieses London aussieht, und wie ungeheuer groß es ist, lasst Euch also dies sagen: Wenn man die ganze tschechische Bevölkerung in ganz Böhmen im ganzen nähme, dann wäre es noch immer nicht soviel, wie London Einwohner zählt! Und wenn die gesamte Einwohnerschaft Kladnos den ungeheuren Saal besuchen würde, wo ich mein Stabat mater dirigiert habe, so wäre dort immer noch Platz genug; denn so kolossal groß ist diese Albert Hall!
    (Dvorák an seinen Vater, 1884)


    Im Zusammenhang mit dem Stabat mater berichtet er seinem Freund Karel Brendl: Stell Dir das Neustädter Theater etwa fünfmal so groß vor, dann begreifst Du, was die Albert Hall ist, wo 10 000 Menschen das Stabat mater hörten und 1050 Musiker und Sänger spielten und sangen und dazu diese kolossale Orgel!
    (Dvorák an Karel Brendl, 1884)


    Ein für mich unglaublich sympathischer Wesenszug Dvoráks wird in dem Brief an seinen Vater deutlich, wo dicht nebeneinander Stolz und dankbare Demut steht: Ich kann Euch gar nicht sagen, wie diese Engländer mich auszeichnen und mögen! Überall schreiben und reden sie von mir und behaupten, ich sei der Löwe der diesjährigen Musiksaison in London!...In einigen Zeitungen war auch von Euch die Rede, dass ich von armen Eltern abstamme und dass mein Vater Fleischer und Gastwirt in Nelhahozeves war und dass er alles tat, um seinem Sohn die rechte Erziehung zu geben! Ehre sei Euch dafür!
    (Dvorák an seinen Vater, 1884)


    Einen traurigen Schatten werfen die Vorkommnisse in Dvoráks Heimat auf den Erfolg. Letztlich führen sie dazu, dass Smetana, dessen tragischer Niedergang mit dem Ruhme Dvoráks zusammenfiel, in die Prager Landesirrenanstalt eingeliefert wurde. Und zwar nur ein paar Wochen nach der Ankunft seines Rivalen in der Heimat. Dort starb Smetana im Mai – zu einem Zeitpunkt, wo Dvorák sein Glück in Vysoká genoss. Von seinen Erträgnissen durch die Hussiten-Ouvertüre und dem Böhmerwald-Zyklus sowie seiner Englandreise kaufte er einen Schafstall und baute diesen zu einem Landhaus für seine wachsende Familie um.


    Seine Gastspiele in England machten sich wortwörtlich bezahlt. Er erhielt Kompositionsaufträge und so schrieb er im Auftrag der Londoner Philharmonic Society seine Symphonie Nr.7 in d-Moll. Voller Stolz schreibt er Simrock, daß in unserer Familie wieder ein neues Opus (ein Bube) mehr ist! Also sehen Sie, eine neue Symphonie und ein Bube dazu! Was sagen Sie zu dieser schöpferischen Kraft?
    Simrock bot Dvorák zunächst nur 3000Mark für diese Symphonie, womit sich Dvorák nicht zufrieden gab, da andere Firmen das Doppelte boten. Er bekam von Simrock die 6000Mark, aber ein ‚armer Künstler’ war er längst nicht mehr, denn die Engländer zahlten hervorragend und sie feierten ihn bei seinem zweiten Auftreten im Herbst 1884 beim Musikfest in Worcester. Und noch viel mehr, als er mit seinen neuen Werken erschien: Aufführung seiner Siebten Symphonie in der St. James Hall in London im April 1885, die Geisterbraut im August 1885 beim Festival in Birmingham und im Oktober 1886 mit der Heiligen Ludmila in Leeds zum Musikfest. Die Aufführungen wurden überall mit Ovationen gefeiert und erhielten höchst anerkennende Fachkritiken.


    Die Siebte Symphonie d-Moll stellt das überragende Werk und wertvollste Frucht seiner Englandreisen dar, auch wenn das Oratorium Die heilige Ludmila das erste große tschechischsprachige Oratorium war und als englisches Aufftragswerk bei der dreieinhalbstündigen Aufführung von den Engländern hoch bejubelt wurde.
    Die Wiedergaben der Symphonie in den folgenden Jahren durch die deutschen Dirigenten Hans Richter, Hans von Bülow und Arthur Nikisch waren klar ausschlaggebend für den internationalen Ruhm des Symphonikers Dvorák. Diese Verbreitung reichte sogar bis Boston.


    Erwähnenswertes Schaffen aus dieser Zeit ist auch seine Orchestrierung der Slawischen Tänze, die sich Simrock wünscht, er selbst jedoch gar nicht so recht angehen wollte – bekanntlich tat er es.
    Als kleine Kompositionen sind seine Lieder Im Volkston zu erwähnen.


    Mit den Triumphen in England, mit den Werken dieser Jahre erreichte Dvorák den ersten Lebensgipfel. Die Erfolge schmeichelten ihm, der neue Wohlstand tat ihm gut, nichts von beidem warf ihn aus der Bahn seiner charakterlichen und künstlerischen Verwirklichung. Als ihn ein tschechischer Chordirigent einmal anschmeichelte, antwortete Dvorák: Ich muß Ihnen ehrlich bekennen, dass Ihr geschätztes Schreiben mich einigermaßen betroffen gemacht hat, und zwar wegen seiner übergroßen Devotion und Demut, das sieht so aus, als ob Sie zu irgendeinem Halbgott sprächen, wofür ich mich niemals hielt, nicht halte und nicht halten werde. Ich bin ein ganz einfacher, tschechischer Musiker, der solche übertriebenen Demütigung nicht liebt, und obwohl ich mich in der großen Welt der Musik zur Genüge bewegt habe, bleibe ich doch, was ich war - - ein einfacher tschechischer Musikant….




    [Als Grundlage diente mir das Buch Dvorák von Kurt Honolka erschienen bei Rowohlt.]

    Wie ein Rubin auf einem Goldring leuchtet, so ziert die Musik das Festmahl.


    Sirach 32, 7

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  • Man wird allgemein zugeben, daß Beethovens fünfte Sinfonie den erhabensten Lärm darstellt, der je ins menschliche Ohr gedrungen ist. Niemand und nichts kommen dabei zu kurz.


    Ob man es nun hält wie Mrs. Munt und bei den melodiösen Stellen heimlich den Takt mitschlägt - selbstverständlich ohne die anderen zu stören - oder wie Helen, die in den Fluten der Musik Helden und Schiffbrüche zu erkennen vermag; oder wie Margret, die nur die Musik wahrnimmt; oder wie Tibby, der so profunde Kenntnisse im Kontrapunkt besitzt und die Partitur aufgeschlagen auf den Knieen hält; oder wie ihre Cousine, Fräulein Mosebach, die fortweg daran denkt, daß Beethoven "echt deutsch" ist; oder wie Fräulein Mosebachs junger Verehrer, der an nichts anderes denken kann als an Fräulein Mosebach:


    In jedem Falle werden die ureigensten Leidenschaften noch stärker belebt und man wird doch zugeben müssen, daß solch ein Lärm für zwei Schilling recht billig ist. Er ist auch dann noch billig, wenn man sich ihn in der Queens Hall anhört, Londons trostlosestem Konzertsaal, wenngleich nicht ganz so trostlos wie die Free Trade Hall in Manchester; und selbst wenn man in diesem Saal ganz links aussen sitzt, so daß einem das Blech schon eine ganze Weile vor dem ganzen Orchester entgegenschlägt, dann ist er immer noch billig.......



    aus: Edward M. Forster: Wiedersehen in Howards End (nymphenburger u. F.A.Herbigs Verlagsbuchhandlung München)

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Göttliche Inspiration:


    Beim ersten Wort fuhr er auf. „Comfort ye“, so begann der geschriebene Text. „Sei getrost!“ – wie ein Zauber war es, dieses Wort – nein, nicht Wort: Antwort war es, göttlich gegeben, Engelsruf aus verhangenen Himmeln in sein verzagendes Herz. „Comfort ye“ – wie dies klang, wie es aufrüttelte innen die verschüchterte Seele, schaffendes, erschaffendes Wort. Und schon, kaum gelesen, kaum durchfühlt, hörte Händel es als Musik, in Tönen schwebend, rufend, rauschend, singend. O Glück, die Pforten waren aufgetan, er fühlte, er hörte wieder in Musik!
    Die Hände bebten ihm, wie er nun Blatt um Blatt wandte. Ja, er war aufgerufen, angerufen, jedes Wort griff in ihn ein mit unwiderstehlicher Macht. „Thus saith the Lord“, war dies nicht ihm gesagt, und ihm allein, war dies nicht dieselbe Hand, die ihn zu Boden geschlagen, die ihn nun selig aufhob von der Erde? „And he shall purify“ – ja, dies war ihm geschehen; weggefegt war mit einemmal die Düsternis aus dem Herzen, Helle war eingebrochen und die kristallische Reinheit des tönenden Lichtes.
    […]
    „Denn der Engel des Herrn trat zu ihnen“ – ja, mit silberner Schwinge war er niedergefahren in den Raum und hatte ihn angerührt und erlöst. Wie da nicht danken, wie nicht aufjauchzen und jubeln in tausend Stimmen in der einen und eigenen, wie nicht singen und lobpreisen: „Glory to God!“
    Händel beugte sein Haupt über die Blätter wie unter großem Sturm. Alle Müdigkeit war dahin. So hatte er nie seine Kraft gefühlt, noch nie sich ähnlich durchströmt empfunden von aller Lust des Schöpfertums. Und immer wieder wie Güsse von warmem, lösendem Licht strömten die Worte über ihn, jedes in sein Herz gezielt, beschwörend, befreiend! „Rejoice“ – wie dieser Chorgesang herrlich aufriß, unwillkürlich hob er das Haupt, und die Arme spannten sich weit. „Er ist der wahre Helfer“ – ja, dies wollte er bezeugen, wie nie es ein Irdischer getan, aufheben wollte er sein Zeugnis wie eine leuchtende Tafel über die Welt. Nur der viel gelitten, weiß um die Freude, nur der Geprüfte ahnt die letzte Güte der Begnadigung, sein ist es, vor den Menschen zu zeugen von der Auferstehung um des erlebten Todes willen.
    […]
    „He trusted in God“, er vertraute Gott, und siehe, er ließ ihn nicht im Grabe ruhen – „But thou didst not leave his soul in hell“. Nein, nicht im Grabe seiner Verzweiflung, nicht in der Hölle seiner Ohnmacht, einem Gebundenen, einem Entschwundenen, hatte ihm Gott die Seele gelassen, nein, aufgerufen noch einmal hatte er ihn, daß er die Botschaft der Freude zu den Menschen trage. „Lift up your heads“ – wie das tönend nun aus ihm drang, großer Befehl der Verkündigung! Und plötzlich erschauerte er, denn da stand, von des armen Jennens Hand geschrieben: „The Lord gave the word.“
    Der Atem stockte ihm. Hier war Wahrheit gesagt durch einen zufälligen Menschenmund: der Herr hatte ihm das Wort gesandt, von oben war es an ihn ergangen. „The Lord gave the word“: von ihm kam das Wort, von ihm kam der Klang, von ihm die Gnade!
    […]
    Und siehe: da war es hingeschrieben, da klang es, das Wort, unendlich wiederholbar, verwandelbar, da war es: „Halleluja! Halleluja! Halleluja!“ […] – aus diesem Wort, aus diesem Dank einen Jubel schaffen, der von der Erde zurückdröhnte bis zum Schöpfer des Alls!
    Tränen dunkelten Händel das Auge, so ungeheuer drängte die Inbrunst in ihm. Noch waren Blätter zu lesen, der dritte Teil des Oratoriums. Aber nach diesem „Halleluja, Halleluja“ vermochte er nicht mehr weiter. Vokalisch füllte ihn dieses Jauchzen innen an, es dehnte und spannte, es schmerzte schon wie flüssiges Feuer, das strömen wollte, entströmen. Oh, wie es engte und drängte, denn es wollte aus ihm, wollte auf und in den Himmel zurück. Hastig griff Händel zur Feder und zeichnete Noten auf, mit magischer Eile formte sich Zeichen auf Zeichen. Er konnte nicht innehalten, wie ein Schiff, die Segel vom Sturm gefaßt, riß es ihn fort und fort. Rings schwieg die Nacht, stumm lag das feuchte Dunkel über der großen Stadt. Aber in ihm strömte das Licht, und unhörbar dröhnte das Zimmer von der Musik des Alls.



    (aus: Stefan Zweig: Sternstunden der Menschheit)

  • Nachruf von John Cage auf Luigi Nono, der am 8.5.1990 in Venedig starb:



    (in: MusikTexte 35, Juli 1990, S.44)

    Die wirkliche Basis eines schöpferischen Werks ist Experimentieren - kühnes Experimentieren! (Edgar Varèse)

  • Zwei Gedichte von Eugen Roth



    Verkannte Kunst


    Ein Mensch, der sonst kein Instrument,
    Ja, überhaupt Musik kaum kennt
    Bläst Trübsal - denn ein jeder glaubt,
    Dies sei auch ungelernt erlaubt.
    Der unglückselge Mensch jedoch
    Bläst bald auch auf dem letzten Loch.
    Dann ist´s mit seiner Puste aus
    Und niemand macht sich was daraus.
    Moral: Ein Trübsalbläser sei
    Ein Meister, wie auf der Schalmei.



    Theaterbillets


    Ein Mensch besitzt zwei Festspielkarten
    Auf die vielleicht zehntausend warten,
    Die, würden sie beschenkt mit diesen,
    Sich ungeheuer glücklich priesen.
    Der Mensch, von diesen schroff getrennt
    Dadurch, daß er sie gar nicht kennt,
    Denkt vorerst seiner beiden Schwestern:
    "Nein danke" heißt´s, "wir waren gestern."
    Dann fällt ihm noch Herr Müller ein,
    Der wird vermutlich selig sein.
    Doch selig ist der keinesfalls,
    Ihm steht die Opern schon zum Hals.
    Wie konnt ich Fräulein Schulz vergessen?
    Die ist auf sowas ganz versessen!
    "Wie, heute abend, Lohengrin?
    Da geh ich sowieso schon hin!"
    Herr Meier hätte sicher Lust:
    "Hätt vor drei Tagen ich´s gewußt!"
    Frau Huber leht es ab empört:
    "Vor zwanzig Jahren schon gehört!"
    Herr Lieblich meint, begeistert ging er,
    Wär es für morgen, Meistersinger,
    Doch heute Abend, leider nein.
    Der Mensch läßt es von nun an sein.
    Zwei Plätze, keinen Sitzer habend,
    Genießen still den freien Abend.

    Da freute sich der Hase:
    "Wie schön ist meine Nase
    und auch mein blaues Ohr!
    Das kommt so selten vor."
    - H. Heine -

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  • 1 mal Kaschnitz:


    Amselsturm


    Angenehme Vorstellungen von Dingen, die noch nicht sind, aber sein werden, zum Beispiel im März, wenn wieder einmal keine einzige Knospe zu sehen, kein Frühlingslufthauch zu spüren ist, während doch gegen Abend der Amselsturm sich erhebt. Blüten aus Terzen, Blätter aus Quinten, Sonne aus Trillern, ganze Landschaften aus Tönen aufgebaut. Frühlingslandschaften, rosaweiße Apfelbäume vor blauen Gewitterwolken, Sumpfdotterbäche talabwärts, rötlicher Schleier über den Buchenwäldern, Sonne auf den Lidern, Sonne auf der ausgestreckten Hand. Lauter Erfreuliches, was doch auch in anderer Beziehung, zum Beispiel in der Beziehung der Menschen zueinander eintreten könnte, Freude, Erkennen. Hinz liebt Kunz, Kunz umarmt Hinz, Hinz und Kunz lachen einander an. Amselsturm hinter den Regenschleiern und wer sagt, daß in dem undurchsichtigen Sack Zukunft nicht auch ein Entzücken steckt.


    Maria Luise Kaschnitz, Steht noch dahin, Insel Verlag, Frankfurt 1970


    1 mal Carola:


    Advent vielleicht


    Das wäre schön auf etwas hoffen können
    was das Leben lichter macht und leichter das Herz
    das gebrochene ängstliche
    und dann den Mut haben die Türen weit aufzumachen
    und die Ohren und die Augen und auch den Mund
    nicht länger verschließen
    das wäre schön
    wenn am Horizont Schiffe auftauchten
    eins nach dem anderen
    beladen mit Hoffnungsbrot bis an den Rand
    das mehr wird immer mehr
    durch Teilen
    das wäre schön
    wenn Gott nicht aufhörte zu träumen in uns
    vom vollen Leben einer Zukunft für alle
    und wenn dann der Himmel aufreißen würde ganz plötzlich
    neue Wege sich auftun hinter dem Horizont
    das wäre schön

  • Einige Zitate von und über Brahms:



    „Sie haben das Eisen brennen sehen, ich muß es oft denken“
    Brahms an Clara Schumann 1854, über das Leiden von Ehemann Robert



    „Schon Mittags ging ich fort von Heidelberg, um nur recht bald mitten in der Welt zu sein und die Sehnsucht zu verlieren. Bis Heilbronn ging ich zu Fuß am Neckar, sah unterwegs viel Herrliches…
    In Heilbronn hatte ich große Kämpfe zu bestehen; ich wollte rasch nach Ulm und weiter und wollte umkehren. Ich habe oft Streit mit mir, das heißt, Kreisler und Brahms streiten sich. Aber sonst hat jeder seine entschiedene Meinung und ficht die durch. Diesmal jedoch waren sie beide ganz konfus, keiner wußte, was er wollte, höchst possierlich wars anzusehen. Übrigens standen mir fast die Tränen in den Augen. Jetzt bin ich schon weiter, schon in Eßlingen, und schreibe an Sie, während etwas Eichendorff losgelassen ist:
    dunkle Mitternacht, die Brunnen verschlafen rauschen, verworrene Stimmen und tiefe Wehmut im Herzen.“
    Brahms während einer Wanderung durch Süddeutschland 1854 an Clara



    „Er war vierschrötig, eher kleiner Gestalt, mit einer Neigung zur Dicke…
    die gesunde und lebhafte Farbe seiner Haut ließ seine Liebe zur Natur und die Gewohnheit erkennen, bei jeder Art von Wetter in freier Luft zu sein. Seine Kleider und Stiefel waren nicht gerade nach der neuesten Mode…die Wäsche tadellos…Am meisten nahm mich die Güte gefangen, die aus seinen Augen sprach. Sie waren von lichtem Blau, wundervoll klar und glänzend, hin und wieder schelmisch blinzelnd, und doch manchmal von kindlicher Treuherzigekeit.“
    Georg Henschel über das Äußere des einundvierzigjährigen Johannes Brahms



    „Halten Sie mich für so beschränkt, daß ich von der Heiterkeit und Größe der Meistersinger nicht auch entzückt werden könnte? Oder für so unehrlich, meine Ansicht zu verschweigen, daß ich ein paar Takte dieses Werkes für wertvoller halte, als alle Opern, die nachher komponiert wurden. Und ich ein Gegenpapst? Es ist ja zu dumm!“
    Brahms gesprächsweise zu Richard Specht



    „Ich muß ein musikalisches Werk erst viele Male hören, es auch selbst wiederholt mit eigenen Fingern heraustasten, stückweise im Innern erklingen lassen, ehe ich es genießen kann, etwa so genießen, wie wenn ich Wein trinke…
    Ich höre mitunter Gedanken von Ihnen, als redeten Sie eine fremde Sprache. Aber ich lese dann so lange, bis ich sie doch verstehe, ja, oft werden diese Gedanken mir die allerklarsten…“
    Der Dichter und Musikliebhaber Klaus Groth an Brahms



    „Ich will gestehen, daß ich bei dieser Gelegenheit zum erstenmal gelächelt habe beim Anblick eines gedruckten Werkes – von mir. Übrigens möchte ich doch riskieren, ein Esel zu heißen, wenn unsere Liebeslieder nicht einigen Leute Freude machen…Ich lege der Korrektur eine kleine Neuigkeit bei, für dich ich in Anbetracht ihrer Vortrefflichkeit 40 Friedrichsdor begehre…Postludium zu des Verfassers Liebesliedern op. 52. Das Ding heißt:
    Rhapsodie (Fragment aus Goethes Harzreise im Winter) für eine Altstimme, Männerchor und Orchester (oder Pianoforte).
    Es ist das Beste, was ich noch gebetet habe, und wenns nun auch die werten Altistinnen nicht gleich begierig singen werden, so gibt’s genug Leute, die ein derartiges Gebet nötig hätten…“
    Brahms an Simrock, als er die Korrektur der Liebesliederwalzer erhalten hatte



    „Von vorne wie ein Löwe, von hinten wie ein verbummelter Literat!“
    Mariechen Rückert, Tochter des Dichters, 1885 über Brahms

  • „So, so - du bist also dieser Taubstumme mit dem besonderen Gespür für Holz,“ sprach Friedhelm Sproß ihn an, als sie unten waren. „Man lobt deine Arbeit und dein Verständnis als höchst vollkommen. - Verstehst du, was ich sage?“


    Seit das Gehör ihn verlassen hatte, pflegte Leander bei allen Menschen, die er traf, das Spiel ihrer Lippen, die Bewegungen des Kiefers und den Tanz der Zunge hinter den Zähnen zu studieren. Er hätte ganze Traktate schreiben können über Form und Vielfalt dieser außergewöhnlichen Körperöffnung, über ihre Krankheiten und Defekte, über Zahnleiden und Gerüche und was sie über den Menschen erzählen, und wie der Mund im Zusammenspiel Dutzender Gesichtsmuskeln eine sichtbare Sprache hervorbrachte, die den meisten Menschen verborgen blieb, weil sie sich mit dem Gehörten zufrieden gaben. Leander verstand die Menschen wohl, wenn er sie ansehen konnte. Also nickte er und wartete, was der Theatermaschinist von ihm wollte.


    „Du sollst auch im Feinen recht fingerfertig sein, wie mir zu Ohren kam - nicht nur im Groben. Stimmt das?“
    Wieder nickte Leander.
    „Fürderhin wird gesagt, du würdest Noten zeichnen, ganze Melodien sogar. Warst wohl nicht immer stumm und taub.... Richtig?“
    Argwöhnisch zögerte Leander, bevor er erneut zustimmte. War es ein Fehler gewesen, der Versuchung nicht zu widerstehen und beflügelt vom Geist des Ortes immer neue Fugenanfänge, Kadenzen und harmonische Spielereien in Balken und Baugerüste zu ritzen?
    „Du wirst mir im alten Schlosstheater helfen - als Technicus bei den Effektmaschinen.“


    Diesmal war Leander sich nicht sicher, ob er die Worte, die er wohl sah, richtig verstanden hatte. Was waren Effektmaschinen? Er kannte das Wort nicht, obwohl er eine Ahnung hatte, die ihn neugierig machte. Fragend zuckte er mit den Schultern und öffnete die Handflächen als Zeichen seines Zweifels. Friedhelm Sproß zögerte einen Moment und meinte dann mehr zu sich selber:
    „Na ja - woher sollst du das auch kennen.... Ach, komm einfach mit!“
    Kurzentschlossen machte der Theatermaschinist auf dem Absatz kehrt und lief in Richtung Schloss. Nach ein paar Schritten drehte er sich um und winkte Leander zu sich heran: „Nun komm schon! Bist doch sonst nicht so langwierig!“ Da ging Leander mit ihm.


    Im Schlosstheater probte Vinzenz van Eisenmann gerade eine Arie mit der Sopranistin und versuchte zum wiederholten Male die Dame davon abzubringen, nach dem Vorspiel des Orchesters einen halben Takt zu früh einzusetzen:
    „Auf der Drei, meine Liebe - nicht schon auf der Eins! Ich kann verstehen, dass sie ihre wohlklingende Stimme dem geneigten Publikum so früh wie möglich zu Gehör bringen möchte, aber diesen halben Takt kann sie vielleicht noch warten - zumal es dann sehr viel richtiger klingt. Bei der Wiederkehr des Themas in Takt 24 ist die Eins durchaus recht. Aber dort ist es ja auch eine ganze und nicht eine halbe Note so wie hier. Zu Beginn also bitte auf der Drei einsetzen! - Und jetzt bitte noch einmal!...... Oh nein!.... Aber doch bitte jetzt nicht stören, Kollege Sproß! Jetzt doch nicht!“


    Entnervt ließ der Hofcompositeur die Arme sinken und brach den Einsatz für das Orchester ab. Friedhelm Sproß winkte ihm kurz und eilte zur Bühne.
    „Es hat alles seine Richtigkeit, mein lieber Eisenmann. Ich bitte ihn lediglich um eine kleine Unterbrechung! Dieser Bursche hier wird uns bei der Effektentechnik unterstützen. Wir müssen nur einmal für einen kurzen Moment auf den Oberboden hinauf. Danach mag Er weiter probieren.“


    Verblüfft sah der Kapellmeister zu, wie Friedhelm Sproß und Leander zwischen den Kulissen auf das Dach über der Bühne kletterten und auf dem Schnürboden verschwanden. Dann, nach ein paar Sekunden der Ruhe, rumpelte es so heftig im Donnerschacht, dass die Musiker im Orchestergraben vor Schreck zusammenzuckten und die Sopranistin auf der Bühne quiekte. Kapellmeister Vinzenz van Eisenmann schaute konsterniert zum Schnürboden hinauf.


    Dort oben stand der fremde junge Mann, umfasste mit beiden Händen die Bretterröhre des Donnerschachts, als wollte er sie umarmen, und lächelte mit geschlossenen Augen. Mit jeder Faser seines Körpers spürte Leander Lautenschläger dem verhallenden Donner der hinabstürzenden Kugeln nach und war glücklich.


    (Aus meinem Roman „Leanders Passion“, Heyne 2004)

    "Muss es sein? - Es muss sein!" Grave man non troppo tratto.

  • "Ohne Anfang, ohne Ende..."


    Leonard Bernsteins Erinnerung an seinen letzten Besuch bei Nadia Boulanger (ein Auszug):


    Nadja war wunderschön gekleidet und gepflegt, als wäre sie schon für den Sarg bereit. Ein Kreuz schimmerte an ihrem Hals: ihre Augen und ihr Mund waren geschlossen. Das Koma schien ihr ganzes Gesicht geschlossen zu haben. Ich kniete neben dem Bett - in schweigender Vereinigung. Auf einmal: Der Schock ihrer Stimme - tief und stark wie stets. (Woher kam sie? Die Lippen schienen sich nicht zu bewegen. Woher?) - "Wer ist da?" Ich konnte vor Schreck nicht antworten. Vor Ihren Lippen bewegte die Diedonné warnend ihren Zeigefinger. Schließlich wagte ich doch ein Wort: "Lenny, Leonard..." Stille. Hörte sie? Wusste sie? "Cher Lenny..." Sie wusste, es war ein Wunder. Ermutigende Zeichen von der Dieudonné. Ich drängte weiter: "Chère amie, wie fühlen Sie sich?" Pause. Dann wieder dieser tiefe Baß (und abermals durch bewegungslose Lippen): "...so stark." Ich holte tief Atem. "Sie meinen - innerlich?"


    "...ja, aber der Körper..." - "Ich verstehe", sagte ich schnell, um ihre Anstrengung zu verkürzen, "ich gehe jetzt. Sie müssen sehr müde sein." - "Nicht müde, gar nicht..." Eine längere Pause, ich begriff, dass sie wieder in Shclaf gefallen war.


    Die erstaunten anwesenden Damen gaben mir Zeichen zum Aufbruch, aber etwas hielt mich fest; ich war unfähig, mich von den Knien zu erheben. Ich wusste, etwas musste noch kommen, und nach einigen Minuten kam es auch: "Nicht weggehen." Keine Bitte, ein Befehl. Ich suchte verzweifelt nach Worten und wusste, ich würde nie die richtigen finden. Dann hörte ich mich fragen: "Hören Sie Musik in Ihrem Kopf?" - "Die ganze Zeit. Die ganze Zeit." Das machte mir Mut. Ich fuhr fort, als wären wir in einer alltäglichen Konversation: "Und was hören Sie im Augenblick?" Ich dachte an ihre Lieblingskomponisten: "Mozart? Monteverdi? Bach? Strawinsky? Ravel?..." Lange Pause. "Eine Musik..." (sehr lange Pause) "...ohne Anfang, ohne Ende..."


    Sie war schon drüben. Auf der anderen Seite.


    (zitiert aus: Leonard Bernstein - Erkenntnisse, Goldmann-TB, S.253 ff)

    Die wirkliche Basis eines schöpferischen Werks ist Experimentieren - kühnes Experimentieren! (Edgar Varèse)

  • Wilhelm Furtwängler:


    Als sie merkten, dass alle ihre Gefühle verlogen waren und wurden,
    begannen sie mit der Forderung, die Kunst müsse ohne Gefühl sein.


    * * *


    Mir liegt nichts daran, ob etwas neu erscheint, sondern ob es „ans Herz greift“!
    Vom Herzen, d.h. vom ganzen Menschen glaube ich etwas zu verstehen!




    Paukenschläge


    von Werner Thärichen


    [Eigenes Vorwort: Werner Thärichen war viele Jahre lang Erster Solopauker bei den Berliner Philharmonikern. Im Zentrum seines Buches stehen die künstlerischen Erlebnisse mit den beiden Chefs Furtwängler und Karajan.]


    Furtwängler wird wegen seines starken gefühlsmäßigen Engagements gern als Romantiker eingestuft. Ob das nun zutrifft oder nicht, für mich war es seine rückhaltlose Hingabe an das Werk, die dazu führte, dass es bei der Interpretation jeder Komposition ums Ganze ging. […]


    Ein Pauker hat manchmal sehr viel, öfter aber wenig zu tun. Er kann Dirigenten und Solisten und nicht zuletzt auch die Komponisten, die manchmal auch dirigieren, ausgiebig studieren. Ich legte die zu probende Partitur auf eine weniger benötigte Pauke, um sie vollständig verfolgen zu können. Auf dem herrlichen Platz, etwas über dem Orchester, dem Dirigenten gegenüber, ist mir kaum etwas von dem entgangen, was sich in der Orchesterpraxis abspielte.


    Eines Tages saß ich an meinen Pauken, verfolgte während der Probe eines Gastdirigenten die vor mir liegende Orchesterpartitur und war in Einzelheiten der Instrumentierung vertieft. Normalerweise dienen Proben dazu, sich über alles das, was für die Aufführung notwendig ist, zu verständigen. Das Zusammenspiel wird geprobt, Tempo und Lautstärke werden festgelegt, manchmal wird die Stimmung korrigiert oder der Dirigent legt die Absicht des Komponisten aus, die diesem Stück zugrunde liegen könnte. Das endgültige, klangliche und gestalterische Engagement ist der Aufführung vorbehalten. Ich konnte mich in aller Ruhe in die Partitur versenken und das Gespielte verfolgen.


    Plötzlich änderte sich die Klangfarbe. Eine Wärme und Intensität kam auf, als ginge es bereits jetzt um alles. Verwundert schaute ich von meiner Partitur auf, um zu sehen, ob eine neue Taktstockakrobatik dieses Wunder vollbracht hatte. Doch beim Dirigenten hatte sich nichts verändert. Ich schaute zu den Kollegen hinüber. Sie alle blickten zur Tür am Ende des Saales. Dort stand Furtwängler.
    Seine pure Anwesenheit genügte, um dem Orchester solche Klänge zu entlocken.


    Partiturbeherrschung und Schlagtechnik sind die Grundlagen des Dirigentenhandwerks. Aber sie allein tun’s nicht. Man kann ein Orchester auch nicht zwingen, sein Innerstes herzugeben. Mit Kompetenz lässt sich ein sehr gutes Ergebnis erreichen, aber Furtwänglerklänge waren mehr: ganz aus der Person geschöpft, vermittelten sie das eigene Angerührtsein. Natürlich ist man dabei mit seinem ganzen Fühlen allen Anwesenden preisgegeben. Wer ist schon bereit, sich in dieser Weise zu öffnen, und wer hat dann so viel zu geben, wie Furtwängler es vermochte, bei dem jenes Angerührtsein stets von neuem zu spüren war?


    (aus: W. Thärichen, Paukenschläge, M&T Verlag, S. 23 f.; Zitate aus: W. Furtwängler, Aufzeichnungen 1924-1954, F.A. Brockhaus)

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  • Mendelssohn und Goethe


    Herbst 1821. Felix Mendelssohn ist mittlerweile 12 ½ Jahre alt und bereits ein meisterlicher Pianist. Zudem spielt er beachtlich Geige und Bratsche. Auch vom Orgelspiel ist er begeistert.
    Mit den wesentlichen Werken alter und moderner Meister ist er bestens vertraut. Und komponieren tut er am laufenden Band. Zeichen seiner musikalischen Frühreife, die ihn als musikalisches Wunderkind kennzeichnen. Sein strenger Lehrer Zelter war verständlicherweise sehr stolz auf seinen Musterschüler.
    Zelter hatte das Bedürfnis, zu seinem Freund nach Weimar zu reisen. Am 26. Oktober schreibt er Goethe:


    “Mich dürstet es nach Deiner Nähe“


    Er kündigt ihm “einen 12jährigen munteren Knaben, meinem Schüler, dem Sohn von Herrn Mendelssohn“ an.
    Am 3. November erreichen die Reisenden Weimar und logierten im „Elefanten“.
    Goethe befand sich zu jener Zeit jedoch in Jena. Als er aber von der Ankunft erfuhr, machte er sich sofort auf den Weg zurück, um seine Gäste zu begrüßen. Felix war erstmals ohne seine Familie auf Reisen und wurde dementsprechend mit guten Ratschlägen, Mahnungen und Wünschen begleitet.
    Vater Abraham: “Öffne Deine Sinne…beobachte Dich selbst streng,…sprich deutlich und angemessen…“
    Mutter Lea: “Ein Mäuschen möchte ich sein, um meinen lieben Felix in der Fremde zu sehen und sein Benehmen als selbständiger Jüngling zu belauschen…“
    Schwester Fanny: “…Sperre Augen und Ohren auf, ich rate es Dir! Und kannst Du bei deiner Rückkehr nicht jedes Wort aus seinem (Goethes) Mund erzählen, so sind wir Freunde gewesen!“


    Als Goethe ankommt, holt Zelter eilends seinen Schüler, der sich derweil mit Zeichnen die Zeit vertreibt. Nach Begrüßung, Mittagessen und Spaziergang spielt Felix dem Dichter Bachfugen vor. Felix wird bestaunt und in der Gegend „herumgereicht“. So spielt er auch beim Erbgroßherzog und anderen Fürstlichkeiten. Hauptsächlich verweilt er aber bei Goethe, der ihn gar nicht mehr gehen lassen möchte. Er zeigt ihm seine Sammlungen, lauscht andächtig seinem Klavierspiel und „befiehlt“ ihm, seinen Aufenthalt in Weimar zu verlängern. Trotz eines Altersunterschiedes von 6 Jahrzehnten verhilft die Musik zu einer ungewöhnlichen Freundschaft.


    Es gab ein großes Hauskonzert mit Gästen. Felix fantasiert über ein Thema, das von Zelter vorgegeben wurde. Aus Ludwig Rellstabs Reisebericht entnehmen wir: Aus der sanften Melodie wurde alsbald ein feurig aufbrausendes Allegro, das Hauptthema erschien bald im Bass, bald in der Oberstimme, kontrapunktische Entwicklungen wurden von Felix eingeflochten, der klug nach nicht allzu langer Zeit mit einem energisch aufschwellenden Schlussakkord endete.
    Alle waren höchst erstaunt. Goethe erbittet nun eine Bachfuge, dann ein Menuett. Felix spielt ihm eines und zwar das „Schönste“, nämlich das aus Don Giovanni.
    Nun will Goethe auch die Ouvertüre hören, doch Felix lehnt ab. Diese lasse sich nicht so spielen, wie geschrieben stehe und bietet im Gegensatz dazu die Fidelio-Ouvertüre an. Er trägt sie perfekt und unter geschickter Betonung orchestraler Effekte vor.
    Goethe prüft nun sein Prima-Vista-Spiel und legt ihm ein kaum leserliches Manuskript auf das Klavier. Felix errötet und fragt, wie man das lesen soll. Aber dann erkennt er aus den Noten Beethovens Handschrift. Es handelte sich hierbei um die Goethe-Vertonung „Wonne der Weisheit“. Wer Beethovens Handschrift kennt, weiß, dass es einige unleserlicher, ausgestrichener und verwischter Noten gibt. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass Felix auch zuerst einige falsche Noten spielt. Er weist aber sofort auf die Fehler in der Partitur hin und spielt das Lied kurze Zeit später perfekt vor.


    Dann sollte er sich als Komponist zeigen und sein Opus 1, das Klavierquartett, vorstellen. Es standen drei ausgezeichnete Streicher bereit und der Komponist saß am Klavier.
    Am Ende sprang der kleine Felix erregt auf und fragte den großen Meister Goethe, wie es ihm gefallen hatte. Dieser erwiderte nur:


    “Recht brav, mein Sohn, Dein Produkt hat uns gut gefallen, nun kühle Dich im Garten ein wenig ab, Du brennst ja lichterloh.“


    Bald ging es zurück nach Berlin. Felix erhielt als einzige „Belohnung“ ein von Adele Schopenhauer auf Rosenpapier geschnittenes Steckenpferd, das von einem bekränzten kleinen Genius geritten wird. Darunter standen die Verse:


    Wenn über die ernste Partitur
    Quer Steckenpferde reiten,
    Nur zu! Auf weiter Töne Flur,
    Wirst manchem Lust bereiten,
    Wie du’s getan mit Lieb’ und Glück
    Wir wünschen Dich allesamt zurück.


    Weimar, den 20. Januar 1822 - Goethe

  • Liebe Taminos,


    heute ist der 21. Dezember, noch drei Tage bis Weihnachten und so langsam kommt auch bei mir Weihnachtsstimmung auf. Als heute während der Weihnachtsfeier unseres Kollegiums "Oh come all ye faithfull" gesungen wurde dachte ich mir: Ja jetzt ist Weihnachten, auch wenn ich natürlich noch nicht alle Geschenke beieinander habe- wie eigentlich jedes Jahr.


    Nun mein Kalendereintrag:


    Einer meiner Lieblingsautoren ist Adalbert Stifter. In seiner Novellensammlung "Bunte Steine" gibt es mit "Bergkristall" eine Weihnachtserzählung, vielleicht kennt sie ja der eine oder andere von Euch. In der Vorrede zu diesen Erzählungen bringt Adalbert Stifter einige Gedanken zum Ausdruck, die eigentlich zeitlos sind, aber besonders gut in die vorweihnachtliche Zeit passen, lasst Euch von der Länge des Textes nicht abschrecken und nehmt Euch die Zeit


    Herzliche Grüße,:hello:


    Christian



    "Es ist einmal gegen mich bemerkt worden, daß ich nur das Kleine bilde, und daß meine Menschen stets gewöhnliche Menschen seien. Wenn das wahr ist, bin ich heute in der Lage, den Lesern ein noch Kleineres und Unbedeutenderes anzubieten, nämlich allerlei Spielereien für junge Herzen. Es soll sogar in denselben nicht einmal Tugend und Sitte gepredigt werden, wie es gebräuchlich ist, sondern sie sollen nur durch das wirken, was sie sind. Wenn etwas Edles und Gutes in mir ist, so wird es von selber in meinen Schriften liegen, wenn aber dasselbe nicht in meinem Gemüte ist, so werde ich mich vergeblich bemühen, Hohes und Schönes darzustellen, es wird doch immer das Niedrige und Unedle durchscheinen. Großes oder Kleines zu bilden, hatte ich bei meinen Schriften überhaupt nie im Sinne, ich wurde von ganz anderen Gesetzen geleitet.


    Die Kunst ist mir ein so Hohes und Erhabenes, sie ist mir, wie ich schon einmal an einem anderen Orte gesagt habe, nach der Religion das Höchste auf Erden, so daß ich meine Schriften nie für Dichtungen gehalten habe, noch mich je vermessen werde, sie für Dichtungen zu halten. Dichter gibt es sehr wenige auf der Welt, sie sind die hohen Priester, sie sind die Wohltäter des menschlichen Geschlechtes; falsche Propheten aber gibt es sehr viele. Allein wenn auch nicht jede gesprochenen Worte Dichtung sein können, so könnten sie doch etwas anderes sein, dem nicht alle Berechtigung des Daseins abgeht. Gleichgestimmten Freunden eine vergnügte Stunde zu machen, ihnen allen bekannten wie unbekannten einen Gruß zu schicken, und ein Körnlein Gutes zu dem Baue des Ewigen beizutragen, das war die Absicht bei meinen Schriften und wird auch die Absicht bleiben. Ich wäre sehr glücklich, wenn ich mit Gewißheit wüßte, daß ich nur diese Absicht erreicht hätte. Weil wir aber schon einmal von dem Großen und Kleinen reden, so will ich meine Ansichten darlegen, die wahrscheinlich von denen vieler anderer Menschen abweichen. Das Wehen der Luft, das Rieseln des Wassers, das Wachsen der Getreide, das Wogen des Meeres, das Grünen der Erde, das Glänzen des Himmels, das Schimmern der Gestirne halte ich für groß: das prächtig einherziehende Gewitter, den Blitz, welcher Häuser spaltet, den Sturm, der die Brandung treibt, den feuerspeienden Berg, das Erdbeben, welches Länder verschüttet, halte ich nicht für größer als obige Erscheinungen, ja ich halte sie für kleiner, weil sie nur Wirkungen viel höherer Gesetze sind. Sie kommen auf einzelnen Stellen vor und sind die Ergebnisse einseitiger Ursachen. Die Kraft, welche die Milch im Töpfchen der armen Frau emporschwellen und übergehen macht, ist es auch, die die Lava in dem feuerspeienden Berge emportreibt und auf den Flächen der Berge hinabgleiten läßt.


    Nur augenfälliger sind diese Erscheinungen und reißen den Blick des Unkundigen und Unaufmerksamen mehr an sich, während der Geisteszug des Forschers vorzüglich auf das Ganze und Allgemeine geht und nur in ihm allein Großartigkeit zu erkennen vermag, weil es allein das Welterhaltende ist. Die Einzelheiten gehen vorüber, und ihre Wirkungen sind nach kurzem kaum noch erkennbar. Wir wollen das Gesagte durch ein Beispiel erläutern. Wenn ein Mann durch Jahre hindurch die Magnetnadel, deren eine Spitze immer nach Norden weist, tagtäglich zu festgesetzten Stunden beobachtete und sich die Veränderungen, wie die Nadel bald mehr bald weniger klar nach Norden zeigt, in einem Buche aufschriebe, so würde gewiß ein Unkundiger dieses Beginnen für ein kleines und für Spielerei ansehen: aber wie ehrfurchterregend wird dieses Kleine und wie begeisterungerweckend diese Spielerei, wenn wir nun erfahren, daß diese Beobachtungen wirklich auf dem ganzen Erdboden angestellt werden, und daß aus den daraus zusammengestellten Tafeln ersichtlich wird, daß manche kleine Veränderungen an der Magnetnadel oft auf allen Punkten der Erde gleichzeitig und in gleichem Maße vor sich gehen, daß also ein magnetisches Gewitter über die ganze Erde geht, daß die ganze Erdoberfläche gleichzeitig gleichsam ein magnetisches Schauern empfindet. Wenn wir, so wie wir für das Licht die Augen haben, auch für die Elektrizität und den aus ihr kommenden Magnetismus ein Sinneswerkzeug hätten, welche große Welt, welche Fülle von unermeßlichen Erscheinungen würde uns da aufgetan sein. Wenn wir aber auch dieses leibliche Auge nicht haben, so haben wir dafür das geistige der Wissenschaft, und diese lehrt uns, daß die elektrische und magnetische Kraft auf einem ungeheuren Schauplatze wirke, daß sie auf der ganzen Erde und durch den ganzen Himmel verbreitet sei, daß sie alles umfließe und sanft und unablässig verändernd, bildend und lebenerzeugend sich darstelle. Der Blitz ist nur ein ganz kleines Merkmal dieser Kraft, sie selber aber ist ein Großes in der Natur. Weil aber die Wissenschaft nur Körnchen erringt, nur Beobachtung nach Beobachtung macht, nur aus Einzelnem das Allgemeine zusammenträgt, und weil endlich die Menge der Erscheinungen und das Feld des Gegebenen unendlich groß ist, Gott also die Freude und die Glückseligkeit des Forschens unversieglich gemacht hat, wir auch in unseren Werkstätten immer nur das Einzelne darstellen können, nie das Allgemeine, denn dies wäre die Schöpfung: so ist auch die Geschichte des in der Natur Großen in einer immerwährenden Umwandlung der Ansichten über dieses Große bestanden. Da die Menschen in der Kindheit waren, ihr geistiges Auge von der Wissenschaft noch nicht berührt war, wurden sie von dem Nahestehenden und Auffälligen ergriffen und zu Furcht und Bewunderung hingerissen: aber als ihr Sinn geöffnet wurde, da der Blick sich auf den Zusammenhang zu richten begann, so sanken die einzelnen Erscheinungen immer tiefer, und es erhob sich das Gesetz immer höher, die Wunderbarkeiten hörten auf, das Wunder nahm zu.


    So wie es in der äußeren Natur ist, so ist es auch in der inneren, in der des menschlichen Geschlechtes. Ein ganzes Leben voll Gerechtigkeit, Einfachheit, Bezwingung seiner selbst, Verstandesmäßigkeit, Wirksamkeit in seinem Kreis, Bewunderung des Schönen, verbunden mit einem heiteren gelassenen Sterben, halte ich für groß: mächtige Bewegungen des Gemütes, furchtbar einherrollenden Zorn, die Begier nach Rache, den entzündeten Geist, der nach Tätigkeit strebt, umreißt, ändert, zerstört und in der Erregung oft das eigene Leben hinwirft, halte ich nicht für größer, sondern für kleiner, da diese Dinge so gut nur Hervorbringungen einzelner und einseitiger Kräfte sind, wie Stürme, feuerspeiende Berge, Erdbeben. Wir wollen das sanfte Gesetz zu erblicken suchen, wodurch das menschliche Geschlecht geleitet wird. Es gibt Kräfte, die nach dem Bestehen des Einzelnen zielen. Sie nehmen alles und verwenden es, was zum Bestehen und zum Entwickeln desselben notwendig ist. Sie sichern den Bestand des Einen und dadurch den aller. Wenn aber jemand jedes Ding unbedingt an sich reißt, was sein Wesen braucht, wenn er die Bedingungen des Daseins eines anderen zerstört, so ergrimmt etwas Höheres in uns, wir helfen dem Schwachen und Unterdrückten, wir stellen den Stand wieder her, daß er ein Mensch neben dem andern bestehe und seine menschliche Bahn gehen könne, und wenn wir das getan haben, so fühlen wir uns befriedigt, wir fühlen uns noch viel höher und inniger, als wir uns als Einzelne fühlen, wir fühlen uns als ganze Menschheit. Es gibt daher Kräfte, die nach dem Bestehen der gesamten Menschheit hinwirken, die durch die Einzelkräfte nicht beschränkt werden dürfen, ja im Gegenteile beschränkend auf sie selber einwirken. Es ist das Gesetz dieser Kräfte, das Gesetz der Gerechtigkeit, das Gesetz der Sitte, das Gesetz, das will, daß jeder geachtet, geehrt, ungefährdet neben dem anderen bestehe, daß er seine höhere menschliche Laufbahn gehen könne, sich Liebe und Bewunderung seiner Mitmenschen erwerbe, daß er als Kleinod gehütet werde, wie jeder Mensch ein Kleinod für alle andern Menschen ist. Dieses Gesetz liegt überall, wo Menschen neben Menschen wohnen, und es zeigt sich, wenn Menschen gegen Menschen wirken. Es liegt in der Liebe der Ehegatten zu einander, in der Liebe der Eltern zu den Kindern, der Kinder zu den Eltern, in der Liebe der Geschwister, der Freunde zueinander, in der süßen Neigung beider Geschlechter, in der Arbeitsamkeit, wodurch wir erhalten werden, in der Tätigkeit, wodurch man für seinen Kreis, für die Ferne, für die Menschheit wirkt, und endlich in der Ordnung und Gestalt, womit ganze Gesellschaften und Staaten ihr Dasein umgeben und zum Abschlusse bringen. Darum haben alte und neue Dichter vielfach diese Gegenstände benützt, um ihre Dichtungen dem Mitgefühle naher und ferner Geschlechter anheim zu geben. Darum sieht der Menschenforscher, wohin er seinen Fuß setzt, überall nur dieses Gesetz allein, weil es das einzige Allgemeine, das einzige Erhaltende und nie Endende ist. Er sieht es eben so gut in der niedersten Hütte wie in dem höchsten Palaste, er sieht es in der Hingabe eines armen Weibes und in der ruhigen Todesverachtung des Helden für das Vaterland und die Menschheit. Es hat Bewegungen in dem menschlichen Geschlechte gegeben, wodurch den Gemütern eine Richtung nach einem Ziele hin eingeprägt worden ist, wodurch ganze Zeiträume auf die Dauer eine andere Gestalt gewonnen haben. Wenn in diesen Bewegungen das Gesetz der Gerechtigkeit und Sitte erkennbar ist, wenn sie von demselben eingeleitet und fortgeführt worden sind, so fühlen wir uns in der ganzen Menschheit erhoben, wir fühlen uns menschlich verallgemeinert, wir empfinden das Erhabene, wie es sich überall in die Seelen senkt, wo durch unmeßbar große Kräfte in der Zeit oder im Raume auf ein gestaltvolles vernunftgemäßes Ganzes zusammen gewirkt wird. Wenn aber in diesen Bewegungen das Gesetz des Rechtes und der Sitte nicht ersichtlich ist, wenn sie nach einseitigen und selbstsüchtigen Zwecken ringen, dann wendet sich der Menschenforscher, wie gewaltig und furchtbar sie auch sein mögen, mit Ekel von ihnen ab und betrachtet sie als ein Kleines, als ein des Menschen Unwürdiges. So groß ist die Gestalt dieses Rechts- und Sittengesetzes, daß es überall, wo es immer bekämpft worden ist, doch endlich allezeit siegreich und herrlich aus dem Kampfe hervorgegangen ist. Ja wenn sogar der einzelne oder ganze Geschlechter für Recht und Sitte untergegangen sind, so fühlen wir sie nicht als besiegt, wir fühlen sie als triumphierend, in unser Mitleid mischt sich ein Jauchzen und Entzücken, weil das Ganze höher steht als der Teil, weil das Gute größer ist als der Tod, wir sagen da, wir empfinden das Tragische und werden mit Schauern in den reineren Äther des Sittengesetzes emporgehoben. Wenn wir die Menschheit in der Geschichte wie einen ruhigen Silberstrom einem großen ewigen Ziele entgegen gehen sehen, so empfinden wir das Erhabene, das vorzugsweise Epische. Aber wie gewaltig und in großen Zügen auch das Tragische und Epische wirken, wie ausgezeichnete Hebel sie auch in der Kunst sind, so sind es hauptsächlich doch immer die gewöhnlichen, alltäglichen, in Unzahl wiederkehrenden Handlungen der Menschen, in denen dieses Gesetz am sichersten als Schwerpunkt liegt, weil diese Handlungen die dauernden, die gründenden sind, gleichsam die Millionen Wurzelfasern des Baumes des Lebens. So wie in der Natur die allgemeinen Gesetze still und unaufhörlich wirken, und das Auffällige nur eine einzelne Äußerung dieser Gesetze ist, so wirkt das Sittengesetz still und seelenbelebend durch den unendlichen Verkehr der Menschen, und die Wunder des Augenblickes bei vorgefallenen Taten sind nur kleine Merkmale dieser allgemeinen Kraft. So ist dieses Gesetz, so wie das der Natur das welterhaltende ist, das menschenerhaltende.


    Wie in der Geschichte der Natur die Ansichten über das Große sich stets geändert haben, so ist es auch in der sittlichen Geschichte der Menschen gewesen. Anfangs wurden sie von dem Nächstliegenden berührt, körperliche Stärke und ihre Siege im Ringkampfe wurden gepriesen, dann kamen Tapferkeit und Kriegesmut, dahin zielend, heftige Empfindungen und Leidenschaften gegen feindselige Haufen und Verbindungen auszudrücken und auszuführen, dann wurde Stammeshoheit und Familienherrschaft besungen, inzwischen auch Schönheit und Liebe so wie Freundschaft und Aufopferung gefeiert, dann aber erschien ein Überblick über ein Größeres: ganze menschliche Abteilungen und Verhältnisse wurden geordnet, das Recht des Ganzen vereint mit dem des Teiles, und Großmut gegen den Feind und Unterdrückung seiner Empfindungen und Leidenschaften zum Besten der Gerechtigkeit hoch und herrlich gehalten, wie ja Mäßigung schon den Alten als die erste männliche Tugend galt, und endlich wurde ein völkerumschlingendes Band als ein Wünschenswertes gedacht, ein Band, das alle Gaben des einen Volkes mit denen des andern vertauscht, die Wissenschaft fördert, ihre Schätze für alle Menschen darlegt und in der Kunst und Religion zu dem einfach Hohen und Himmlischen leitet.


    Wie es mit dem Aufwärtssteigen des menschlichen Geschlechtes ist, so ist es auch mit seinem Abwärtssteigen. Untergehenden Völkern verschwindet zuerst das Maß. Sie gehen nach Einzelnem aus, sie werfen sich mit kurzem Blick auf das Beschränkte und Unbedeutende, sie setzen das Bedingte über das Allgemeine; dann suchen sie den Genuß und das Sinnliche, sie suchen Befriedigung ihres Hasses und Neides gegen den Nachbar, in ihrer Kunst wird das Einseitige geschildert, das nur von einem Standpunkte Gültige, dann das Zerfahrene, Umstimmende, Abenteuerliche, endlich das Sinnenreizende, und zuletzt die Unsitte und das Laster, in der Religion sinkt das Innere zur bloßen Gestalt oder zur üppigen Schwärmerei herab, der Unterschied zwischen Gut und Böse verliert sich, der einzelne verachtet das Ganze und geht seiner Lust und seinem Verderben nach, und so wird das Volk eine Beute seiner inneren Zerwirrung oder die eines äußeren, wilderen, aber kräftigeren Feindes.


    Da ich in dieser Vorrede in meinen Ansichten über Großes und Kleines so weit gegangen bin, so sei es mir auch erlaubt zu sagen, daß ich in der Geschichte des menschlichen Geschlechtes manche Erfahrungen zu sammeln bemüht gewesen bin, und daß ich einzelnes aus diesen Erfahrungen zu dichtenden Versuchen zusammengestellt habe; aber meine eben entwickelten Ansichten und die Erlebnisse der letztvergangenen Jahre lehrten mich, meiner Kraft zu mißtrauen, daher jene Versuche liegen bleiben mögen, bis sie besser ausgearbeitet oder als unerheblich vernichtet werden.


    Diejenigen aber, die mir durch diese keineswegs für junge Zuhörer passende Vorrede gefolgt sind, mögen es auch nicht verschmähen, die Hervorbringungen bescheidenerer Kräfte zu genießen, und mit mir zu den harmlosen folgenden Dingen übergehen.


    Im Herbste 1852 Adalbert Stifter

    Beherrsche die Sache, die Worte werden folgen! (Cato der Ältere)

  • Was geschah wirklich…



    …mit den Hirten von dem Felde, nachdem sie vom Engel die frohe Botschaft der Geburt Christi erfahren hatten und sich auf den Weg zur Krippe nach Bethlehem machten?


    Vorweg: Es ist kein musikalischer Beitrag. Ich wollte etwas über Dvorák in Amerika schreiben, aber Christian brachte mich auf die Idee etwas zu schreiben, was mit Weihnachten zu tun hat.
    Ich hoffe es stört nicht allzu sehr und bereitet auch etwas Freude.


    Wir alle kennen sicherlich die Weihnachtsgeschichte: Es begab sich aber zu der Zeit…
    Nein, ich werde jetzt nicht einfach aus der Bibel zitieren, dass könnt ihr gerne im Lukas 2 nachlesen (findet sich im Neuen Testament – das ist der hintere Teil der Bibel :stumm: :D)
    Nun, wie kamen die drei Weisen aus dem Morgenland nach Bethlehem? Etwas das in der Bibel nicht beschrieben steht.
    Trotz all ihren Schwierigkeiten haben sie es noch rechtzeitig geschafft…wie ihr lesen werdet.



    Die fetten Kamele jaulten gequält auf, und der Galoppometer zitterte bedenklich um die 60-Meilen-Marke. Quietschend gingen die hellbraunen Trampeltiere in die Steilkurve der Wüstenpiste.
    „Balthasar“, mahnte Kaspar, der auf dem zweiten Kamel saß, zum x-ten Mal den Vorreiter, „gib mehr Stoff. Wir schaffen’s sonst nie! Das wird ein Riesenreinfall!“
    Balthasar grinste müde und presste den Treibschenkel fester in die Weichen seines Reittieres. „Hast wohl Schiss, Alter, was?“
    „Mann“, erwiderte Kaspar, „das hat doch nix mit Schiss zu tun. Ist nur ´ne Überlebensfrage. Ich möchte gern in die biblische Weihnachtsgeschichte eingehen. Er ist jetzt ganz dicht vor uns. Siehst du ihn?“
    Er deutete auf den blendend blauen zuckenden Stern, der groß jenseits des Grenzübergangs zu sehen war.
    „Seh’ ich doch locker ohne Pupille“, erklärte Balthasar und gab seinem Kamel so heftig die Peitsche, dass dieses mitten im Galopp einen Ungetümen Satz macht, der Balthasar fast aus den Höckern gehauen hätte.
    Melchior, der Schlussmann der kleinen Karawane, sagte gar nichts, obwohl er genauso wie Kaspar dachte, sonder keuchte nur schwer. Der lange Ritt nahm ihn körperlich mit.
    Nur wenige Stadien vor ihnen und etwa 120 Klafter tiefer leuchteten zahlreiche Lichter in der Dunkelheit. Vor einer knappen halben Stunde bereits hatten sie die beiden Schilder mit den Hinweisen „Noch 15 Meilen bis Bethlehem“ und „Zum Toten Meer recht einordnen“ passiert.
    Unumstößliche Tatsache war, dass die Zeit drängte. Den Vorhersagen und ihren eigenen, gemeinhin recht zuverlässigen Berechnungen nach, musste es jeden Augenblick passieren. Ein Indiz dafür war, dass der blendend blaue Stern intensiver zuckte und pulste, gerade so, als litte er unter himmlischen Wehen und sei kurz vorm Kreißen.


    Unvermittelt sahen sich die drei Weisen, die interessanterweise auch noch drei Waisen waren – was sinnigerweise nicht überliefert wurde -, nach dem Überreiten einer Wanderdüne mit einem Meer lodernder Fackeln konfrontiert, die drei gewaltigen, gesenkten Schlagbäume, eine ebensolche Anzahl von Wachhäusern sowie eine daneben befindliche Wachstation erleuchteten.
    „Willkommen in der Zählstadt Bethlehem, Kreis Judäa!“ stand da in lateinischen und hebräischen Buchstaben auf einem Schild. Und auf einem anderen: „Achtung! Noch zwei Stadien bis zur Grenze! Ausweispapyri bereithalten!“
    Der Andrang der Menschenmassen an Schlagbäumen und Wachstationen war unglaublich. Ein akustisches Gewölk von Geschrei, Gewieher, Gejaule, Gesumm und Gebrumm empfing die drei herangaloppierenden Weisen.
    Ohne Vorankündigung zügelte Balthasar sein Kamel. In letzter Sekunde nur konnten Kaspar und Melchior ein Aufreiten verhindern, indem sie seitlich auswichen.
    Die beiden fluchten unschön und schauten ihren Vorreiter vorwurfsvoll fragend an.
    „Da kommen wir doch nie durch! Machen wir lieber kehrt!“ meinte Balthasar resignierend, was überhaupt zu seiner Art passte.
    „Wieso?“ wollte Melchior wissen.
    „Na, sieh dir doch mal die Warteschlange an!“ Balthasar deutete auf den rechten Schlagbaum, neben dem das Schild „Morgenländer hier einreiten!“ stand, und die davor befindliche Schlange. „Bis wir abgefertigt sind ist alles vorbei!“
    „Oh, ja“, meinte Melchior betrübt und senkte zerknirscht sein turbangekröntes Haupt. „Das hätten wir natürlich vorhersehen müssen.“
    „Ich habs vorhergesehen“, erklärte Kaspar beschwichtigend, „und deshalb Vorsorge getroffen. Lasst mich nur machen.“
    Er griff in eine seiner Satteltaschen und entnahm ihr drei große Umhängeschilder, auf denen in Hebräisch und Lateinisch „VIP“ geschrieben stand. Zwei davon reichte er seinen Begleitern. “Hängt sie euch um.“
    Balthasar und Melchior wechselten einen erstaunten Blick, befolgten aber Kaspars Anweisungen, der sich nunmehr an die Spitze der kleinen Karawane setzte und auf besagten Schlagbaum zutrabte.


    Im Vorbeireiten sahen die drei, dass die Warteschlange an dem mit „Römer hier eintreten“ beschilderten Durchlass am kürzesten, die an dem mit „Judäa hier eintreten“ markiertem am längsten war.
    Die Massen wichen zunächst mürrisch und erbost, dann aber ehrfurchtsvoll beiseite, als sie erkannten was auf den Schildern der drei Weisen stand, die an ihnen vorbeidrängten.
    „Heil, Augustus! Halt!“ brüllte der römische Legionär neben dem Schlangenbaum und hob drohend seinen Speer. „Vordrängeln gibt’s nicht! Stellt Euch an wie alle anderen auch!“
    Kaspar deutete mit gewichtiger Miene auf sein „VIP“ Schild. “Heil, Augustus! Könnt Ihr das nicht lesen, guter Mann?“ fragte er.
    „Natürlich“, erwiderte der Angesprochene gekränkt, doch zugleich sichtlich beeindruckt. „Das muss ich wohl übersehen haben. Verzeiht.“
    „Schon gut, schon gut.“ Kaspar winkte ab. „Dürfen wir passieren?“
    „Die Formalitäten müsst Ihr schon über Euch ergehen lassen, edle VIP-Herren“, erwiderte der Legionär nunmehr freundlicher Miene. „Habt Ihr die Papyri zur Hand? Welches ist der Zweck Eures Besuches? Seid Ihr beruflich oder als Tourist hier? Habt Ihr anmeldepflichtige Waren bei Euch?“ Er schaute die drei Weisen fragend an.
    Die reichten ihm zunächst ihre Ausweispapyri.
    „ah“, meinte der Legionär, nachdem er einen kurzen Blick darauf geworfen hatte, „interessant. Bei Euch allen ist die Berufsbezeichnung ‚Weiser aus dem Morgenlande’ eingetragen“. Er musterte die drei plötzlich unterwürfig. „Seid ihr etwa diese berühmten Wahrsager…?“ Er beendete den Satz nicht, sondern geriet ins Sinnen.
    „Aber gewiss doch, guter Mann“, sagte Balthasar ungeduldig. “Es steht ja da. Nun lasst uns endlich passieren. Wir sind in Eile!“
    Der Legionär reichte ihnen langsam die Papyri zurück und stützte sich auf seinen Speer. „Ihr wisst gewiss, edle Herren“, meinte er dann, „dass –VIP hin, VIP her – hier Rom das Sagen hat. Ich muss also auf die Einhaltung der Einreiseformalitäten bestehen.“
    „Na schön“, erklärte Kaspar. „Zweck unseres Besuches ist die Anbetung eines Kindes mit gleichzeitiger Übergabe von Geschenken. Woraus sich wohl von selbst ergibt, dass wir aus beruflichen Gründen hier sind. Und anmeldepflichtige Waren haben wir nicht. Genügt das als Auskunft?“
    „Geschenke?“ Der Legionär runzelte die Stirn. „Und doch keine anmeldepflichtigen Waren? Hmm!“ Er lehnte seinen Speer ans Wachhäuschen, nahm den Helm ab und kratzte sich ebenso verunsichert wie verlegen den Schädel.
    „Wenn Ihr’s genau wissen wollt“, meldete sich ungehalten Balthasar, der wieder ganz der alte war, zu Wort, „wir führen nur die üblichen zollfreien Mengen von Weihrauch, Myrrhe und Gold mit. Überzeugt Euch doch selbst, wenn Ihr uns nicht glaubt! Macht schon, denn sonst werden wir bei Eurem Vorgesetzten eine Beschwerde einreichen, die Euch ein halbes Jahr Galeere einbringen kann, wie Ihr Euch wohl denken könnt“.
    Der Legionär verneigte sich und griff zur Kurbel des Schlagbaums um diesen hochzudrehen. „Verzeiht, verzeiht, edle Herren“ Natürlich dürft Ihr passieren!“ rief er. „Ich dachte nur, dass Ihr, da Ihr so weise seid, einem bescheiden besoldeten Legionär einen heißen Tipp geben könntet“; fügte er hinzu und sah die drei Weisen fast flehentlich bittend an, die ihre Kamele zu treiben begannen.
    „Was für ein Tipp?“ fragte Melchior, der sich wieder ans Ende der kleinen Karawane gesetzt hatte, in einem aufwallenden Gefühl von Mitleid für den römischen Besatzer.
    „Ich wüsste gern die Lottozahlen der Weihnachtsausspielung“, sagte der Legionär. „Wenn ich sechs Richtige hätte, könnte ich endlich in Pension gehen. Am Tag vor Heiligabend ist Annahmeschluss“.
    Melchior hielt sein Kamel an. „Wenn’s weiter nichts ist.“ Er schaute zu dem blendend blauen zuckenden Stern hinüber, der jetzt über einem abbruchreifen Stall verweilte, und schloss kurz die Augen. „Die sechs Gewinnzahlen für Euch zum Mitschreiben“, meinte Melchior dann gönnerhaft und fuhr fort: „Sieben, acht, neun, zehn, zwölf, vierundzwanzig. Und die Zusatzzahl ist Null.“
    „Ich danke Euch, edler Herr“, jauchzte der Legionär, der die Zahlen eifrig notiert hatte, überschwänglich, dieweil Melchior seinem Kamel die Sporen gab. „Das werde ich Euch nie vergessen!“


    „Melchior!!!“ brüllten Kaspar und Balthasar, die schon weiter geritten waren, unisono, „Nun komm endlich!“.
    „Ich komme ja schon“, rief Melchior ihnen zu. Und an den Legionär gewandt sagte der im Angalopp: „Dankt mir lieber nicht, guter Mann. Annahmeschluss war nämlich gestern. Heute ist Heiligabend!“



    [Eine Quelle ist mir nicht bekannt - ich habe es von meinem Bruder, der es aber nicht selbst geschrieben hat.]

    Wie ein Rubin auf einem Goldring leuchtet, so ziert die Musik das Festmahl.


    Sirach 32, 7

  • Liebe Taminos,


    heute etwas von Hermann Hesse:


    Etwa von meinem sechsten oder siebten Jahr an begriff ich, daß von allen unsichtbaren Mächten die Musik mich am stärksten zu fassen und zu regieren bestimmt ist. Von da an hatte ich meine eigene Welt, meine Zuflucht und meinen Himmel, den mir niemand nehmen oder schmälern konnte und den ich mit niemand zu teilen begehrte. Ich war Musiker, obwohl ich vor meinem zwölften Jahre kein Instrument spielen lernte und nicht daran dachte, später mein Brot mit Musikmachen verdienen zu wollen.
    Dabei ist es seither geblieben, ohne dass etwas Wesentliches sich geändert hat, und darum erscheint mir beim Rückblick mein Leben nicht bunt und vielgestaltig, sondern von Anfang an auf einen Grundton gestimmt und auf einen einzigen Stern gestellt. Mochte es sonst wohl oder übel gehen, mein innerstes Leben blieb unverändert.

    Ich mochte lange Zeiten auf fremden Wassern treiben, kein Notenheft und kein Instrument anrühren, eine Melodie lag mir jedoch zu jeder Stunde im Blut und auf den Lippen, ein Takt und Rhythmus im Atemholen und Leben. So begierig ich auf manchen anderen Wegen nach Erlösung, nach Vergessen und Befreiung suchte, so sehr ich nach Gott, nach Erkenntnis und Frieden dürstete, gefunden habe ich das alles immer nur in der Musik. Es brauchte nicht Beethoven oder Bach zu sein: -daß überhaupt Musik in der Welt ist, dass ein Mensch zuzeiten bis ins Herz von Takten bewegt und von Harmonien durchblutet werden kann, das hat für mich immer wieder einen tiefen Trost und eine Rechtfertigung alles Lebens bedeutet. O Musik! Eine Melodie fällt dir ein, du singst sie ohne Stimme, nur innerlich, durchtränkst dein Wesen mit ihr, sie nimmt von allen deinen Kräften und Bewegung Besitz – und für die Augenblicke, die sie in dir lebt, löscht sie alles Zufällige, Böse, Rohe, Traurige in dir aus, lässt die Welt mitklingen, macht das Schwere leicht und das Starre beflügelt! Das alles kann die Melodie eines Volksliedes tun! Und erst die Harmonie! Schon jeder wohlmeinende Zusammenklang rein gestimmter Töne, etwa in einem Geläut, sättigt das Gemüt mit Anmut und Genuß, und steigert sich mit jedem hinzuklingenden Ton, und kann zuweilen das Herz entzünden und vor Wonne zittern machen, wie keine andere Wollust es vermag.


    Von allen Vorstellungen reiner Seligkeit, die sich Völker und Dichter erträumt haben, schien mir immer die höchste und innigste jene vom Erlauschen der Sphärenharmonie. Daran haben meine tiefsten und goldensten Träume gestreift – einen Herzschlag lang den Bau des Weltalls und die Gesamtheit alles Lebens in ihrer geheimen, eingeborenen Harmonie tönen zu hören. Ach, und wie kann denn das Leben so wirr und verstimmt und verlogen sein, wie kann nur Lüge und Bosheit, Neid und Haß unter Menschen sein, da doch jedes kleinste Lied und jede bescheidenste Musik so deutlich predigt, dass Reinheit, Harmonie und brüderliches Spiel klargestimmter Töne den Himmel öffnet!


    Aus dem Musikroman „Gertrud“ (1909) in: Hermann Hesse: Musik. Suhrkamp. (S.140f.)

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  • Beeindruckt über die Reichhaltigkeit der Beiträge
    und mit Dank für Eure große Mühe wünsche ich allen TAMINII



    FROHE
    WEIHNACHTEN


    :hello:


    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Nachdem nun aller Weihnachts- und Neujahrsstress abgeklungen und der Alltag wieder eingekehrt ist, möchte ich noch einmal an die Abstimmung erinnern. Ganz kurz zur Erinnerung die Spielregeln:


    Einfach entscheiden, welcher Beitrag einem persönlich am Besten gefallen hat. Ullis Beiträge sind jedoch von der Wertung ausgeschlossen. Dann einfach eine kurze PN an Ulli, Begründung der Nominierung ist nicht notwendig.
    Zu gewinnen ist ein Essen für 2 Personen bei den Moziwis in Langwaid. Ab- und Anreise exklusive
    Es sind bis jetzt nur 5 Stimmen eingegangen, den Kalender haben aber sicher noch mehr gelesen. Also ran an die Tasten und abgestimmt!



    Liebe Grüße, Peter.

  • Salut,


    hier der aktuelle Zwischenstand Eurer Votings, es gab bisher neun Stimmen [ich dachte, es hätten mehr gelesen...]


    Kandidat 1: 5 Stimmen
    Kandidat 2: 2 Stimmen
    Kandidat 3: 1 Stimme
    Kandidat 4: 1 Stimme


    Es ist ja schon eine deutliche Tendenz da, aber sind 9 Stimmen aussagekräftig?


    :hello:


    Cordialement
    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Salut,


    hier der aktuelle Zwischenstand Eurer Votings, es gab bisher elf Stimmen:


    Kandidat 1: 5 Stimmen
    Kandidat 2: 2 Stimmen
    Kandidat 3: 1 Stimme
    Kandidat 4: 1 Stimme
    Kandidat 5: 1 Stimme
    Kandidat 6: 1 Stimme


    Sollen wir es dabei belassen oder möchte noch jemand das Ergebnis beeinflussen oder bekräftigen?


    Nichtmal Alfred hat eine Stimme abgegeben...



    [es wird nicht veröffentlicht, wer für wen gestimmt hat...]


    Hoffnungsvolle Grüße
    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

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