Neil Wilson - Fährtensuche

  • Kürzlich bin ich bei der Besetzungsliste von "Macbeth" bei den Salzburger Festspielen von 1985 auf den Namen Neil Wilson gestoßen. Er dürfte einmal für Veriano Luchetti eingesprungen sein.


    Ich kannte ihn nicht, fand aber einen Clip auf YouTube.


    Da staunte ich nicht schlecht. Ein Tenor mit Ausdruck und Leidenschaft und einem angenehm bronzenen Timbre. Leider ist die Aufnahmequalität nicht sehr gut.


    Tragischerweise ist der Sänger schon länger tot. Weiß jemand irgendetwas über ihn oder hat ihn sogar live erlebt?



  • Hallo Greghauser, in der digitalen Ausgabe "Großes Sängerlexikon" von Kutsch/Riemens habe ich folgenden Eintrag gefunden:


    Wilson, Neil, Tenor, * 4.6.1956 Lubbock (Texas); er entstammte einer texanischen Farmerfamilie (eigentlicher Name Neil Wilson Nease) und kam nur unter großen Schwierigkeiten zu einem Musik- und Gesangstudium an den Universitäten von Dallas und Oklahoma; dann Schüler von Thomas Lo Monaco in New York, später auch von Carolina Segrera. Er trat zuerst im Freilichttheater Wolftrap bei Washington in einer Aufführung von Verdis »Falstaff« unter S. Caldwell auf und sang dann kleine Partien an der Oper von Houston/Texas. 1984 kam er nach Deutschland und wurde an die Staatsoper von Stuttgart verpflichtet. Hier wie am Theater von Bonn sang er mit sensationellem Erfolg 1985 die Titelpartie in Massenets »Werther«. Gastspiele brachten ihm ähnliche Erfolge an den Staatsopern von München (1985), Wien (1985) und Hamburg (1985), am Teatro Comunale Bologna (1986) in Los Angeles (1986) und an weiteren deutschen Bühnen. 1987 hörte man ihn am Opernhaus von Köln als Herzog im »Rigoletto« im gleichen Jahr gastierte er in Washington (als Roméo in Gounods »Roméo et Juliette«) und New York. Dort debütierte er dann auch 1988 an der Metropolitan Oper als Macduff in Verdis »Macbeth« und sang an diesem Haus den Werther und den Rodolfo. 1989-90 in Zürich als Faust in »Mefistofele« von Boito zu Gast. Bei den Festspielen von Glyndebourne wirkte er 1986 in Monteverdis »Incoronazione di Poppea« mit. 1991 sang er an der Komischen Oper Berlin (der er durch einen Gastvertrag verbunden war) den José in »Carmen«, 1992 in Milwaukee den Rodolfo in »La Bohème«, 1992 in Toronto und an der Staatsoper Stuttgart den Werther, 1994 an der Oper von Tel Aviv den Faust von Gounod, 1995 am Theater von Basel den Florestan im »Fidelio«. Auf der Bühne sang er bevorzugt Partien wie den Herzog im »Rigoletto«, den Alfredo in »La Traviata«, den Macduff in Verdis »Macbeth«, den Giasone in »Medea« von Cherubini, den Nemorino in »Elisir d'amore«, den Rodolfo in »La Bohème«, den Pinkerton in »Madame Butterfly«, den Lenski im »Eugen Onegin«, den José in »Carmen« (Staatsoper Berlin 1993), den Hoffmann in »Hoffmanns Erzählungen« (Komische Oper Berlin 1993) und den Pelléas in Pelléas et Mélisande von Debussy. Auch im Konzertsaal brachte er es zu großen Erfolgen, so sang er 1986 in Israel das Tenorsolo im Verdi-Requiem zusammen mit der berühmten Sopranistin Montserrat Caballé. – Verheiratet mit der Mezzosopranistin Linda Munguia.


    In der siebenhändigen gedruckten Ausgabe des Lexikons von 2003, die mir ebenfalls vorliegt, wird der Tod des Sängers gemeldet. Er starb am 21. August 2000 in New York nach - wie es heißt - kurzer schwerer Krankheit. Weiter ist zu lesen, dass Wilson 1993 an der Berliner Staatsoper den José und an der Komischen Oper Berlin den Hoffman gesungen haben soll.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • den José in »Carmen« (Staatsoper Berlin 1993), den Hoffmann in »Hoffmanns Erzählungen« (Komische Oper Berlin 1993)


    Wie das bei Kutsch-Riemens leider so häufig ist, werden die Berliner Opernhäuser mal wieder fröhlich durcheinandergewürfelt. Neil Wilson war in den frühen 1990er Jahren ein Lieblingstenor von Harry Kupfer, er war 1991 seinen Premieren-Josè in "Carmen" und 1993 sein Titelheld in "Hoffmanns Erzählungen". Beide Partien sang er an der Komischen Oper Berlin bis Ende der Neunziger Jahre, in beiden Partien habe ich ihn mehrfach erlebt und mochte ihn nicht besonders. Mich störte der starke US-amerikanische Akzent am Haus, wo ja damals alles auf deutsch (und ansonsten noch größtenteils vorbildliches und verständliches Deutsch) gesungen wurde und seine Stimme gefiel mir auch nicht besonders, weil er sie sehr roh und grobschlächtig einsetzte. Material hatte er zweifellos, eine gewisse stimmliche und darstellerische Archaik sowie die Fähigkeit zum bedingungslosen totalten darstellerischen Einsatz auf der Bühne - und das muss Kupfer wohl so an ihm fasziniet haben, dass er ihn als männlichen Protagonisten zweier so wichtiger Neuinszenierungen am Haus besetzte, und das als Premierenbesetzung.
    P.S.: An der Staatsoper Berlin lief 1993 gar keine Carmen. Von Auftritten Wilsons an den beiden großen Berliner Opernhäusern ist mir nichts bekannt.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Vielen Dank, Rüdiger und Stimmenliebhaber, für die interessanten Kommentare. Das nenne ich eine gelungene Fährtensuche. Nun kann ich mir schon mehr unter Wilson vorstellen.
    Dass die Informationen bei Kutsch/Riemens nicht immer stimmen, ist ärgerlich, angesichts der Fülle an Informationen, die sie liefern aber auch irgendwie nachvollziehbar. Sie vergessen ja offensichtlich auch seinen Salzburger Festspiel-Auftritt.

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  • Hallo, Gregor!


    Das von 'Calatrava' genannte Portrait samt Interview steht in der "Orpheus"-Ausgabe vom August 1990. Neil Wilson erzählt u. a., wie sehr er nach seinem sensationellen Deutschland-Debüt als "Werther" in Stuttgart (1985) 'verheizt' wurde. Gegen Ende der 90er Jahre plante er, sein Rollenspektrum um das deutsche 'schwere' Fach zu erweitern, sang im Februar 2000 in Budapest den Siegmund und bereitete den Florestan vor. Mit 44 Jahren ist er an Nierenkrebs gestorben. Ich habe ihn leider nie gehört.


    LG


    Carlo

  • Weiß jemand irgendetwas über ihn oder hat ihn sogar live erlebt?


    Neil Wilson war in den frühen 1990er Jahren ein Lieblingstenor von Harry Kupfer, er war 1991 seinen Premieren-Josè in "Carmen" und 1993 sein Titelheld in "Hoffmanns Erzählungen". Beide Partien sang er an der Komischen Oper Berlin bis Ende der Neunziger Jahre

    Sein Hoffmann an der Komischen Oper Berlin (1993) findet sich inzwischen bei Youtube:


    Mit 44 Jahren ist er an Nierenkrebs gestorben.

    Ja, das war natürlich tragisch. Auch wenn er nicht mein Lieblingssänger war: So etwas wünscht man Niemandem!

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Ich hörte Wilson im Februar 1994 als "Traviata"-Alfredo im neuen Haus der Finnischen Nationaloper in Helsinki. In der Kritik war zu lesen, dass sein ausdrucksstarkes Spiel noch am besten war, während "die Stimme durch zu breite Führung der Mittellage und Ûberdruck ... doch merklich an Politur verloren" hat.

  • Danke für den Hinweis und link mit Hoffmanns Erzählungen.

    Langsam kann ich aber auch die vielen nicht recht positiven Ansichten über Neil Wilsons Stimme nachvollziehen.


    Die Muse ein Mann? Gibt es das öfter?

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