(K)Ein Platz für Kitsch? – „Allerseelen“-Sentimentalität

  • Hier zunächst der Link zum Kolloquiums-Thread mit den besprochenen CDs - Mut zur Diskussion ist sehr erwünscht! :)


    Kolloquium zu meinem Kolumnen-Thread "Doctor Gradus ad Parnassum"


    I. Das Betroffenheits-Pathos


    Selten kommt es vor, dass ich eine CD nicht „durchhören“ kann. Bei Peter Anders ist dies der Fall. Auf der betreffenden Silberscheibe (Peter Anders Vol. II Lieder von Berlin Classics) findet sich ein gemischtes Programm aus Beethoven-, Schumann-, Brahms-, Wolf- und eben Strauss-Liedern, darunter „Allerseelen“. Warum nur kann ich diesen Gesang kaum ertragen? Peter Anders hat eine schöne Stimme, ohne Frage. Aber was mir das Hören so anstrengend macht, ist seine Affektiertheit, die ich als „Betroffenheits-Pathos“ beschreiben möchte. Peter Anders lässt seine Stimme in jedem Moment seufzen: „Ich bin ja so tief berührt von dem, was ich singe.“ Egal ob Beethoven, Schumann, Brahms oder Strauss: Alles wird mit dieser sentimentalen Soße gleichsam überzogen. „Allerseelen“ ist so das eigentliche Zentrum des Programms, denn das dahinschmachtende Betroffenheits-Pathos dieses sentimentalen Liebesliedes scheint auf alles Übrige gleichsam abgefärbt zu haben.


    Das nun sagt etwas aus über den Gesangsstil – und dessen Nähe zum Kitsch. Der Kitsch, er „drückt auf die Tränendrüse“ und ist damit nicht eigentlich ausdrucksvoll, sondern statt dessen rührselig und sentimental. Der Kitsch-Sänger versucht mit seiner vor Rührung bebenden oder zitternden Stimme dem Hörer Betroffenheit zu suggerieren. Das Rührend-Berührende, es liegt damit nicht im Ausdrucksgehalt dessen, was der Sänger singt, es entsteht vielmehr durch das „Wie“ des Singens, die affektierte Art seines primär auf den rührenden Effekt zielenden Vortrags. Rührender Gesang schafft auf solche Weise eine quasi intim-vertrauliche Verbindung zwischen dem Sänger und Hörer: Wer mit Rührung singt, dessen Gesang wirkt immer auch rührend bei dem, welcher ihn hörend vernimmt – mit einem Wort: Rührender Gesang ist zugleich anrührend und damit „ansprechend“. Das Verführerische solch sentimentalen Singens liegt in der Aufhebung des vermeintlich Unpersönlichen, dem Verlust von jeglicher ästhetisch-objektivierender Distanz. Sänger und Hörer kommunizieren in solchem Betroffenheits-Kitsch gleichsam „per Du“, der Kitschhörer meint, der Sänger sende ihm so etwas wie einen Liebesbrief, der an ihn ganz persönlich adressiert ist. Schmusesänger und Schlagerstars funktionalisieren das, wie leidlich bekannt, durch ihre ganz prosaisch handgreiflichen Umarmungen des Publikums. Beim Hörer des Kunstliedes erreicht dies weniger prosaisch denn poetisch hochfliegend der Stimmgestus selber, eine sich erhaben-rührend gebende, wehmütig-„leidende“ Stimme, welche sich einschmeichelnd anbiedert.


    Die Interpretationen von „Allerseelen“ geben für Sentimentalisierungen und Verkitschungen dieser Art reichliches Anschauungsmaterial. Mal schmachtet die Stimme sanft und samtig, dann wieder vibriert sie leise vor geheimnisvoller Rührung, oder „weint“ sich wohlig-vertraulich aus. Die Kitsch-Apotheose vollbringt zweifellos Lotte Lehmann mit Orchester-Unterstützung – Allerseelen wird hier zum tränenüberfluteten, unendlichen Seufzer von Todes-Gerührtheit. Wie ambivalent solche Sänger-Sentimentalität in ästhetischer Hinsicht ist, zeigt sich am Beispiel von Kathleen Ferrier. Rührung zu zeigen muss nicht in jedem Fall den Verfall in Sänger-Kitsch bedeuten. Kathleen Ferriers so charakteristisches zitterndes Trauer-Vibrato im Abschied aus dem Lied von der Erde zeigt Betroffenheit und macht betroffen, weil es im Einklang mit dem Ausdrucksgehalt des Gesungenen steht. Was wirklich tief berührend ist, kann und darf auch mit Rührung gesungen werden. Allerdings ist es dann um so mehr eine desillusionierende Erfahrung, wenn man hören muss, dass Kathleen Ferrier nicht nur tieftraurigen Mahler, sondern auch Gluck und Händel und eigentlich alles und jedes mit einem solchen Zitter-Vibrato singt. Ist also das vermeintlich Ur-Persönliche dieser Rührung so individuell und tief empfunden vielleicht doch nicht, vielmehr eine so gar nicht persönliche Attitüde, ein bloßer „Stil“, gar ein Manierismus? Im Falle von Schuberts Gretchen am Spinnrade wird die Diskrepanz von Sentimentalität und Ausdruck bei ihr deutlich: Von der quälenden Unruhe, welche der tragende Ausdrucksgehalt der Musik ist, lenkt Kathleen Ferriers auf den affektiven Moment zielendes Zitter-Vibrato nur ab, fixiert den Hörer also auf die momentane Affektiertheit der Sängerin, statt ihn in die Befindlichkeit Gretchens, ihr wirklich tief empfundenes Gefühl, welches in der durchgehenden Bewegung aufrüttelnder Beunruhigung zum Ausdruck kommt, voll und ganz eintauchen zu lassen.



    2. Allerseelen-Kitsch


    Stell auf den Tisch die duftenden Reseden,
    Die letzten roten Astern trag herbei,
    Und laß uns wieder von der Liebe reden,
    Wie einst im Mai.


    Gib mir die Hand, daß ich sie heimlich drücke
    Und wenn man's sieht, mir ist es einerlei,
    Gib mir nur einen deiner süßen Blicke,
    Wie einst im Mai.


    Es blüht und duftet heut auf jedem Grabe,
    Ein Tag im Jahr ist ja den Toten frei,
    Komm an mein Herz, daß ich dich wieder habe,
    Wie einst im Mai.


    „Allerseelen“ (Hermann von Gilm)


    Was „Allerseelen“ zum Kitschlied macht, ist der joy of grief, eine „Wonne der Wehmut“, die sich selbstverliebt in ihren Schmerz an diesem zugleich lustvoll weidet. Die Sehnsucht, den Verstorbenen an das Herz drücken zu wollen, sie führt bei Gilm/Strauss dazu, dass das lyrische Subjekt ihn auch „tatsächlich“ an sein Herz drückt, also Ferne durch imaginäre Nähe überwindet. Diese Auferstehung von den Toten verwandelt Leiden deshalb zugleich in Lust: „Wie schön ist doch der Schmerz, wenn man sich mit ihm so beseeligend trösten kann!“ Was ist also „Kitsch“ an dieser Allerseelen-Sentimentalität? In „Kitsch“ steckt die Grundbedeutung des „Gekitschten“, Zusammengeklebten. Im „joy of grief“ verbindet sich das Leid mit der Lust am Leiden: Die Tränen, sie werden in dieser „Herzergießung“ zur Wonne rührseligen Genusses.


    3. Die Entkitschung des „Allerseelen“-Kitsches

    Wie soll ein Sänger nun mit solcher Sentimentalität umgehen? Ist sie als etwas Idiomatisches zu nehmen, was zu diesem Lied einfach gehört? Oder soll der Interpret dieses Lied „veredeln“, es zum erhabenen Kunstgesang erheben, indem er die Kitsch-Idiomatik ganz bewusst verleugnet und sich um Authentizität des Gefühls bemüht? Schnulzen werden aber nun einmal geliebt von den Kitsch-Hörern, gerade weil es Schnulzen sind. Fehlt das Moment der „Rührung“, dann empfindet der Kitsch-Hörer den Vortrag als kühl oder kalt, als unpersönlich „objektiv“ – sprich: die Identifikation mit dem anrührenden Objekt bleibt aus, weil er selber nicht mehr gerührt ist. Spricht man nun den Kitsch-Charakter der Rührseligkeit an, dann reagiert dieser Kitsch-Hörer gerne beleidigt, denn durch die Rührung entsteht eine Schein-Intimität von Sänger und Hörer, eine Sphäre abgeschirmter Privatheit, die man als verletzt empfindet durch unbarmherzige ästhetische Kritik.


    Zur Ehrenrettung des Strauss-Liedes muss jedoch angemerkt werden, dass es sich als hochartifizielles Kunstlied von naiv-banalem, eindeutigem Schlager-Kitsch eben doch deutlich unterscheidet. Schlager-Kitsch ist platt und eindeutig, der Kitsch im Kunstlied dagegen ein höchst ambivalentes Phänomen, welches daher die Subjektivität des Sängers sentimentalisierend hervortreten lassen oder aber entsentimentalisierend verbergen und verdrängen kann. Besonders in der zweiten Strophe kann die Vertonung von Richard Strauss ihre Kunstsinnigkeit zeigen, wenn der Sänger nur darauf aus ist.


    Die Ambivalenz von Kitsch oder Kunst in Strauss´ Vertonung offenbart die expressive Vertonung der Worte „deiner süßen Blicke“. Sentimental mit Emphase gesungen wird daraus ein Wonnemoment leidenschaftlich gelebter Lust, wie es dem Kitsch-Klischee entspricht. Margeret Price und Jessye Norman dagegen nehmen – „textnah“ singend – die „süßen Blicke“ statt emphatisch heftig zu werden ins Betörend-Leise zurück. Genau mit dieser auch durch die Stimme übernommenen Verklärung wandelt sich der Tonfall ins Traumhafte – und Kitsch wird damit zur Kunst, das Illusionäre zu zeigen, statt es zu verbergen. Nur so bekommt schließlich auch die Eintrübung der Stimme zu den Worten „Wie einst...“ ihren Sinn: die Erinnerungs-Seligkeit wird zu einer unwirklichen, die mit der lustvollen Empfindung lediglich alteriert, statt sich mit ihr zusammenzukitschen.


    Der Kitsch-Sänger dagegen will glauben machen: Ich singe doch nur ein schlichtes Lied von ehrlicher Traurigkeit, das jeden berührt und berühren muss. Aber „schlicht“ ist diese Traurigkeit eben nicht, sondern in Wahrheit „zusammengekitscht“, welche das Bittere der Trauer mit der Süße einer Wonne der Wehmut durchsetzt, in einer Mischung und Vermischung von Lust und Leid. Gerade wenn also die Sänger-Sentimentalität eine Natürlichkeit und Schlichtheit des einfach nur Menschlichen suggerieren will, wird es unvermeidlich kitschig. Deshalb wohl flüchtet Irmgard Seefried in die kindliche Naivität, singt das Lied statt mit erotischer Reife im Ton vorpubertärer Unschuld, mit einer Knabenstimme. Der Versuch, das Sentimentale auf diese Weise unsentimentalisch in das Naive zurückzuversetzen, bedeutet, den Kitsch loszuwerden, indem man aus der vermischten Empfindung eine einfache macht. Doch passt die knabenhafte Stimme einfach nicht zu den Sehnsuchtsbildern reifer Erotik und behält somit etwas Befremdliches. Jessye Norman dagegen wählt genau den entgegengesetzten Weg, dem Lied den Kitsch auszutreiben: Kunst und Künstlichkeit lässt sie sein, was sie sind, indem sie dem Kunstlied den Schein des Naiven und Volkstümlichen vollständig nimmt. Man glaubt in ihrem hochartifiziellen Gesang mit seiner Huldigung des Künstlichen und Schmähung alles Natürlichen nicht eigentlich Hermann von Gilm, vielmehr Charles Baudelaire als Textdichter zu erkennen. Es sind die exquisiten Blumen, die Rosen und Astern, welche hier die Brücke von der Romantik zur Dekadenz spannen. Ist es nicht der Duft der Blumen als Rauschmittel, welcher die fernfliegende Sehnsucht dahin trägt, den Verstorbenen wieder auferstehen zu lassen? Die literarische Dekadenz prägt der Hass gegen alle Banalität und jegliche Gemeinplätze und Jessye Norman erbringt gleichsam den Beweis, dass man auch sentimentalisierende Spätromantik, entdeckt man nur ihre Dekadenz, entkitschend singen kann – als eine Symphonie von exotisch-reizvollen Blumen, so, als befinde man sich nicht in einem pseudo-naiven Rührstück, sondern vielmehr im Blumenparadies von Des Esseintes. Kunstsinnigkeit und -fertigkeit ist gar kein Ausdruck für den Vortrag der Jessye Norman, die jede Stimm-Nuance zu einem exquisiten sinnlich-ästhetischen Ereignis werden lässt. Bei Margeret Price dagegen vollzieht sich die Entkitschung weder durch eine Versetzung ins Naive noch die Errichtung eines artifiziellen Paradieses, vielmehr in der Reduktion des Komplex-Sentimentalen auf die Schlichtheit des Klassisch-Schönen. Die einnehmend schöne und reine Stimme, mit der die walisische Sängerin begabt ist, scheint Goethes Wort, „das Romantische nenne ich krank, das Klassische gesund“ wahrmachen zu wollen durch eine klassische Ästhetik des Liedgesangs: Das Rührende ist nicht das Schöne! Der vermischende und vermischte, romantisch-sentimentalisierende Ton, er ist bei Margeret Price dem schlicht und rein Gesungenen, glasklaren und leuchtend klassischem Gesang, gewichen. Ein solcher Liedgesang feiert das Ereignis und die Gunst einer schönen Stunde – die Poesie zeigt sich hier von einem ästhetisierenden Schlüsselerlebnis getroffen, den „süßen Blicken“ der imaginären Geliebten. Das Ideal solcher Klassizität, es wird erreicht durch den schönen Schein, welcher apollinische Distanz schafft statt affektierte Nähe sich anbiedernd zu suchen: Rührseliger Betroffenheits-Kitsch und Allerseelen-Sentimentalität, die schöne Stimme von Margeret Price hat sie vollständig ausgetrieben.