Manche Wünsche werden schnell wahr, oder, Cosima?
"Strawinskys 'Sacre' hatte ich im Konzert schon gehört - aber nicht verstanden. Wahrscheinlich suchte ich etwas ähnliches für mich." soll Prokofiew über die Sujetwahl des geplanten Balletts "Ala und Lolli" gesagt haben: Wie sein Vorbild orientierte sich der Russe an einem wilden, urwüchsigen, archaischen Sujet, das er in dem thematisierten Sonnenkult, den man den Skythen zuschrieb, gefunden zu haben glaubte. Sergej Diaghillew wird aus einem ähnlichen Grund bei Prokofiew das Ballett bestellt haben: In dem jungen Absolventen sah er wohl das Potential, an Strawinskys Skandalstück anzuknüpfen, ja es möglicherweise noch zu überbieten.
Doch als Prokofiew Diaghilew Teile der geplanten Ballettmusik vorspielte, war der russische Ballettimpressario weder vom Sujet noch von der Musik angetan - die Pläne zu einem großangelegten Ballett zerschlugen sich. Übrig blieben nach einer Überarbeitung im Jahr 1915 vier Sätze, die sich formal am Schema der Sinfonie orientieren. Im ersten, "Die Anbetung Veles' und Alas" ist den beiden Gotteheiten des Sonnenkultes verschrieben: Das majestätisch auftrumpfende, von wilden Streicherbewegungen begleitete Motiv in den Blechbläsern gehört zu dem Gott Veles, das lyrischere, intimere Thema der zweiten Satzhälfte der Göttin Ala.
Mit einem Paukenwirbel und monoton stampfenden, aggressiven Rhythmen wird im zweiten Satz die Gegenwelt des Gottes der Finsternis und seiner Geister beschworen - insbesondere dieser Satz dürfte heute noch ausgesprochen barbarisch und gewalttätig erscheinen. Der dritte Satz, "Nacht", ist vielleicht der schönste und kompositorisch differenzierteste der ganzen Suite. Die bösen Geister wollen das Standbild Alas rauben - am Ende triumphiert der Skythenheld Lolli und rettet das Standbild. Er verliert im Zweikampf mit dem mächtigen Gegengott das Leben: Seine mythische Verklärung und Apotheose, seinen Weg zum Sonnengott Veles beschreibt der letzte Satz, der mit einem plakativ in Musik gesetzten Sonnenausgang endet.
Die Uraufführung der Suite 1915 geriet zu einem Skandal: Glasunow entsetzte sich über die Plakativität des Sonnenaufgangs und stürzte kurz vor Schluss erregt aus dem Saal, der Pauker sandte Prokofiew das bei der Aufführung durchgeschlagene Paukenfell nach und das Publikum geriet in Aufruhr. Zumindest so weit war Diaghilews Absicht aufgegangen.
Ob das Stück allerdings wirklich die Qualitäten des "Sacre" hat, wage ich am Beginn der Diskussion vorsichtig zu bezweifeln. Allenfalls im dritten Satz erreicht die Musik eine ähnliche Tiefe wie Strawinskys früheres Ballett, das insgesamt sowohl rhythmisch wie instrumentatorisch wesentlich urwüchsiger erscheint: Bei Prokofiews "Skythischer Suite" sind Rhythmik und Taktwechsel wesentlich durchschaubarer, was das Stück zweifelsohne direkter fassbar macht als den Sacre.
Der abschließende "Sonnenaufgang" ist allerdings instrumentatorisch ein bemerkenswerter Streich - er stellt Dirigent und Musiker vor schwierige Aufgaben. Eine Aufnahme dürfte als "Klassiker" gelten, was die "Skythische Suite" angeht: Jene Claudio Abbados und des Chicago Symphony Orchestra von 1978. Begegnet man ihr heute in der "Originals"-Reihe der Deutschen Grammophon wieder, bestätigt sie immer noch diesen Eindruck: Abbado schafft es, die barbarische Gewalt des Stückes mit dem energetisch aufspielenden Chicago Symphony Orchestra herüberzubringen, ohne dass die rhythmische und instrumentale Präzision im gernigsten leidet. Im Gegenteil: Präziser *und* wilder wird man das Stück kaum hören können.
Beste Grüsse,
C.