Pianisten und Perfektion - Eine Zeiterscheinung ?

  • Angeregt zu diesem thread wurd ich durch die Bemerkung eines Mitglieds in einem anderen tread, die sinngemäß hieß, Gieseking habe bei einer bestimmten Aufnahme "geschludert, also schlampig gespielt. Wenn man darüber nachdenkt, dann könnte man zu dem Ergebnis kommen, daß Präzision von Pianinsten in der Vergangenheit nicht jenen Stellenwert besaß, wie heute. Ich erinnere mich, dass, als ich etwa 22 oder knapp drüber war, darüber geklagt wurde, daß die (damals) neue Generation von Pianisten nur darauf trainiert und ausgerichtet sei, Wettbewerbe zu gewinnen, aber ohne Gefühl und Individualität spiele. (Letzteres wird heut teilweise sogar als "Unart" gesehen. Andrerseit sollen - blickt man ins 19. Jahrhunder zurück - Liszt und einiege seiner Konkurrentsn über alle Maßen perfekt gespielt haben. Vertragen sie diese beiden Aussagen miteinander ?
    Waren die Ansprüche geringer oder auch nur mit anderen Schwerpunkten ?


    Wir können natürlich (leider) Listz nie auf Tonträger hören, Gieseking, Schnabel, Backhaus, Kempff, Cortot indes schon.
    Und natürlich noch einige Pianisten die auf Welte -Mignon (siehe Thread) verewigt sind....
    Welte Mignon - nie gehört!


    mfg aus Wien
    Alfred
    mfg

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Lieber Alfred,


    IMO spielten die Top-Pianisten der 1. Hälfte des 20. Jahrhundert auch perfekt. Sie waren wohl im Schnitt risikobereiter. Außerdem mussten damals die Aufnahmen in einem durchspielend erstellt werden. Pianisten, welche IMO technisch perfekt waren: Backhaus, Arrau, Haskil, Horowitz, Friedman, Serkin, Erdmann, Gieseking, Lipatti, Brailowsky, um nur einige zu nennen.


    LG Siamak

  • Bin bissi irritiert, dass hier keine Beiträge kommen.


    Vor kurzem spielte ein Asiate in unserer Musikhochschule ein Riesenprogramm mehrerer klassischer und romantischer Komponisten. Er bestritt dabei ca. 40 bis 50 % der Gesamtzeit des Konzerts, wobei noch drei bis vier andere Studenten Stücke darbrachten. Er hat ca. 6 bis 8 Mal hörbar falsch gespielt, davon 4-5 Mal den Faden verloren. Hat es durchgebissen, der Arme. Das habe ich in ca. 70 Konzerten dort noch nicht erlebt.


    Ich bin nicht empfindlich, wenn ich ein, zwei falsche Töne höre in einem normalen Klavierrezital. Sind`s jedoch mehr, werde ich (leider ?) schnell verstimmt, reagiere dann ungeduldig. Auf mehreren Tonträgern spielten Horowitz (RCA- Aufnahme aus spätestens Ende 60er Jahre mit Liszt, 2. Ung. Rhaps. und Funerailles), Erdmann, Gieseking, und Brailowski einige wenige falsche Töne, die anderen Scheiben habe ich nicht so konzentriert gehört, kann sie also nicht so beurteilen.
    Dagegen kann ich mich z.B. bei Gilels an keine Fehler erinnern. Auch nicht beim superperfekten Josef Hofmann.
    Bin ich nun zu empfindlich, ungnädig etc. ?


    Andererseits gibt es bei Aufnahmen auch weit vor 1980 schon hörbare Schnittstellen auf den LPs. (Ich hatte als Amateurpianist bereits 1961 mehrere Schnittstellen, musste meinen Bartok ab Takt xxx zweimal wiederholen, beim damaligen SDR
    Studio Villa Berg)


    Meine Fragen:
    ab wann soll man sagen, die Aufnahme sei nicht mehr perfekt ? Soll man einzelne wenige falsche Töne ganz weglassen aus dieser Reihe der "pianistischen Delikte" ? ?( ?( ?(
    Ich bitte auch um sehr subjektive Kommentare.

  • Mich stört das auch immer sehr. Einerseits. Denn es irritiert mich andererseits besonders dann, wenn der Vortrag des Pianisten nicht packend ist, wenn er künstlerisch nicht zu überzeugen vermag, wenn er indifferent bleibt. Dann tun Fehler weh. Bei einem starken Vortrag hingegen stört es viel weniger, das habe ich so live erlebt, aber auch auf Schallplatte. Seit einiger Zeit kann man ja bspw. nachhören, wie Horowitz in seinem Carnegie-Comeback in der Stretta am Ende des zweiten Satzes von Schumanns C-Dur Fantasie burtal danebengreift. In der ursprünglich veröffentlichten Aufnahme war das immer korrigiert worden. Ich finde nun aber die Passage mit den Fehlgriffen musikalisch viel zwingender und geradezu aufregend. Auch sonst ist das ein alles andere als perfektes Konzert, gleich zu Beginn bei Bach/Busoni greift Horowitz auch daneben. Und dennoch ist es eine seiner berühmtesten Aufnahmen überhaupt, man spürt die Nervosität, nach 12 Jahren erstmals wieder auf der Bühne zu stehen. Aber Horowitz nutzt diese Nervosität auch für sein Spiel. Das ist nur ein Beispiel, es gibt sicher auch andere. Ganz anders hingegen habe ich ein Konzert von Gavrilov in Erinnerung, als er noch bei der DG prominent unter Vertrag war. Er schien da seltsam abwesend, vielleicht hatte er einfach keinen guten Tag. Das äußerte sich aber gar nicht in Fehlern, aber sein Spiel wirkte belanglos. Und am Schluss hat er dann in einer Bach-Suite einen einzigen Fehler gemacht, und der hat wirklich sehr weh getan.


    Viele Grüße
    Christian

  • Christian B.,


    schön dass du grade die beiden nennst. Du hattest wahrscheinlich auch die Doppel- LP von Horowitz` Carnegie Hall- Konzert von 1965. Der Anfangsfehler bei Bach- Busoni ist für mich ein Live- Zeitdokument geworden, den Fehler in der Schumann- Fantasie muss ich nochmal suchen. Abgesehen von mehreren Neuauflagen der Platten (später der Platte) mit jeweils anderem Coverbild, auch bei den folgenden CDs, haben die Toningenieure an der Aufnahme mannigfaltig herumgefeilt. Soweit ich mich erinnere, war davon in der "Biografie" von Harold Schonberg die Rede.


    An Gawrilow habe ich leider keine guten Erinnerungen. Schon wie er über der Flügeltastatur sich ruckend bewegte. Ich wurde als Zuhörer selbst unruhig und nervös und verkrampft. Ich erinnere mich aber, dass er zupackend und irgendwie extrem gespielt hat. So ein Gegensatz: Radu Lupu spielt ganz ruhig, sein Oberkörper ist ruhig, sein Gesicht ruhig im Schatten der Haarmähne (ich habe ihn letztes Jahr in der Stuttgarter Liederhalle in der vierten Reihe erlebt) Und es hat sich auf meinen Zustand gleich ausgewirkt. Nur zwei, drei winzige Missgeschicke auf der Tastatur waren es bei ihm...


    LG
    D.

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  • Ich würde sagen, daß kleinere Fehler bei einem Livekonzert nicht nur zu tolerieren, sondern auch zu akzeptiern sind.
    Bei der Schallplatte (CD etc) ist das eine andere Sache, weil einem bei jedem Mal abhören der Fehler entgehenspringt
    Daher bin ich ein Verfechter von Studioaufnahmen. Es können jederzeit ganze Sätz widerholt werden, auch die Akustik ist besser unter Kontrolle.
    Der Pianist kann sich sicher sein, daß keiner seiner Fehler "für die Nachwelt" aufgezeichnet wird, und schon aus diesen weitgehend stressfreine Ansatz heraus wird er wahrscheinlich gar keine machen.
    Andrerseits werden aber auf diese Art nur selten "Sternstunden des Klavierspiels" entstehen , wobei es aber Ausnahmen gibt, beispielsweise Guldas Gesamtaufnahme der Beethoven-Klaviersonaten für AMADEO


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Hallo Damiro,


    in diesen beiden Ausgaben wurden die Fehler sowohl bei Bach/Busoni als auch bei Schumann korrigiert:



    Diese Ausgabe ist "Live and unedited":



    Viele Grüße
    Christian

  • Wenn man darüber nachdenkt, dann könnte man zu dem Ergebnis kommen, daß Präzision von Pianinsten in der Vergangenheit nicht jenen Stellenwert besaß, wie heute.


    Das gilt übrigens nicht nur für Pianisten sondern auch für große Sängerinnen und Sänger der Vergangenheit, damals wurde sehr frei mit der Intonation umgegangen, also es wurde genau so geschludert wie bei den Instrumentalisten. Heute kaum mehr möglich.
    Herzlichst
    Operus

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