Die "geistige Durchdringung"


  • ...Scholl war nie einer meiner bevorzugten Counter, obwohl sehr oft gehört in Kloster Eberbach mit Sakraler Musik, erstens ist mir bei dieser Aufnahme das Orchester zu sehr im Vordergrund und zweitens ist mir Scholls Stimme zu hart und somit fehlt mir bei seiner Interpretation der innere Kern der Aussage des Textes.



    Die geistige Durchdringung bezog sich im Vorigen vornehmlich auf die Dirigenten als musikalische Leiter. Wer das "Jauchzet, frohlocket" in sechseinhalb Minuten herunterhetzt, hat die m. E. eben nicht. Aber wie ich ebenfalls schon schrieb, gibt es auch einige (meist ältere) HIP-Aufnahmen, die tempomäßig viel eher meinem Ideal entsprechen. Die erste Einspielung von Harnoncourt (1973) überzeugt mich da am meisten.


    Jede Meinung ist subjektiv und jeder darf eine haben, ich will also an den vorstehenden Meinungen gar nichts bemäkeln. Zufällig war jetzt zwei mal in kurzer Folge von "Durchdringung" eines figuralen Musikstücks die Rede bzw. davon, dass der Kern der Musik nicht recht erfasst oder dargestellt worden sei.


    Wie erfasst ihr denn, dass die Musik geistig durchdrungen wurde oder aber auch nicht? "Jauchzet frohlocket, auf preiset die Tage" gehört nun nicht gerade zum "Großen Einmaleins" der Theologie, man wird einem Herrn Fasolis also nicht bescheinigen können, er habe die Botschaft nicht verstanden, weil er zu sehr rasen würde. Oder geziemt es sich unbedingt, im Angesicht des neugeborenen Heilands langsamer zu jauchzen? Muss ein Sänger eine Bachkantate so singen, wie ein Stummfilmschauspieler seine Rolle interpretiert, muss er die Affekte des Librettos unbedingt und immer voll und ganz ausschöpfen und händeringend und augenkullernd umsetzen, um zu beweisen, dass er die innewohnende Botschaft verstanden hat?


    Ich höre selbst oft und gerne "veraltete" Interpretationen großer geistlicher Werke, mag sein, dass ich manchmal von einer Mengelberg-Matthäuspassion tatsächlich mehr ergriffen bin als von einer Suzuki- oder Koopman-Matthäuspassion. Aber wie ließe sich sagen, wer die Intention der Werke, ihren Inhalt besser durchdrungen hätte? Wirft ein Kurt Thomas oder Helmuth Rilling oder Karl Richter als "Erzkantor" mehr Gewicht in die Wagschale als ein kirchenferner Chorleiter? Nicht grundsätzlich und unbedingt.


    Können wir hier vielleicht sogar tatsächlich Beispiele von (theologisch-musikalischen) Fehlinterpretationen sammeln und belegen?
    Unterschiedliche Interpretationen benennen, die zugleich auch eine identifizierbare unterschiedliche Semantik der Werke an den Tag legen?


    Ich glaube kaum, dass: "langsamer -> weihevoller -> besser erfasst" eine ausreichende Erklärung ist.

    Er hat Jehova gesagt!

  • Interessant, daß auf ein derart interssantes Thema (noch ?9 keine Antwort bekommen hat.
    "Durchdringung eines Werkes"
    Irgendwie empfinde ich das als Manerismen des späten 19, und ganzen 20, Jahrhunderts. Es wird hier oft ein "tieferer Sinn" konstruiert , wo (meist) keiner vorhanden ist. Für Bach waren die Kantaten ehr "Brotarbeit", eine Arbeit, zu der er vertraglich verpflichtet war.
    Er sah sich selbst nicht als "geniale" Figur, die Zeitgenossen übrigens erst gegen Endes seines Lebens, Als Bach Händel einst bei der Durchreise Händel besuchen wollte, da hatte dieser "keine Zeit"
    Bach über seine Sebsteinschätung:


    „Ich habe fleißig seyn müssen;
    wer eben so fleißig ist,
    der wird es eben so weit bringen können.“


    Fleiß ist allerdings eine andere Kategorie als "naturgegebene Genialität" oder das Schaffen von Werken mit "Geistiger Durchdringung"


    Eine kurze persönliche Bemerkung zu "Jauchzet, Frohlocket"


    Selbstverständlich jauchzt und frohlockt (auch wenn beide Wörter heute ungebäuchlich sind)man relativ unkontrolliert und daher schnell.
    Somit wäre ein schelles Tempo durchaus korrekt:
    ABER: Einerseits war Bachs Zeit weniger schnelllebig als unsere, Was damals als schnell emfunden wurde, ist heute kaum mehr auffällig, Dager gibt es jetzt neue Bezeichnungenm wie "rasant", ein Begriff, den man früher nicht kannte.
    AUSSERDEM sah man ja einst üblicherweise in der KUNST eine Überhöhung der Realität, nicht deren getreue Nachbildung.
    Die altherbebrachte Interpretation des Weinachtsoratoriums war eher festlich, erhaben, prunkvoll als jauchzend, wobei letzteres natürlich unterschwellig vorhandsen sein sollte.


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Einerseits war Bachs Zeit weniger schnelllebig als unsere, Was damals als schnell emfunden wurde, ist heute kaum mehr auffällig

    würde ich nicht unbedingt sagen.


    Erstens das "Leben als solches" verlief oft schneller (Berufstätigkeit, Heirat, Kinder, Tod - als ging schneller).


    Dann wird das Gefühl für Geschwindigkeit um so geringer, je schneller es pysikalisch geht
    (vgl. holprige Postkutsche gegen Autobahn oder ICE).

  • Ja, bezüglich der Geschwindigkeitsempfindung wäre ich auch vorsichtig. Auf einem Pferd zu reiten erzeugt wohl ein größeres Geschwindigkeitsgefühl als auf der Autobahn dahinzurasen.

  • Ja, bezüglich der Geschwindigkeitsempfindung wäre ich auch vorsichtig. Auf einem Pferd zu reiten erzeugt wohl ein größeres Geschwindigkeitsgefühl als auf der Autobahn dahinzurasen.


    Ich bin mir da nicht so sicher. vielleicht ist es wie Autofahren, am Anfang kommt einem 30 KmH auch wahnsinnig schnell vor, wenn man jeden Tag fährt irgendwann nicht mehr. Und grundsätzlich würde ich vermuten beim reiten funtioniert das genauso, oder?

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  • Also mir kam 30km/h im Auto nie schnell vor. Ich habe keine Erfahrung mit Reiten oder Kutschfahrten. Aber m.E. ist ein wesentlicher Punkt, den jeder vom Rad- und Autofahren kennt, die Beschaffenheit des Untergrundes. Auf unebenem Untergrund erscheint alles viel schneller und vor der Verbreitung von Autos waren fast alle Untergründe verglichen mit Asphalt sehr uneben.


    Ich fand das Argument mit der angeblichen Beschleunigung des Lebens noch nie überzeugend. Fahrt mal in der Kutsche übers Kopfsteinpflaster oder lest euch einen typischen Tagesablauf Mozarts durch. Die Leute konnten nicht durch die Welt jetten (eine Fortbewegung, bei der man keine Geschwindigkeit spürt) und bei einfachen Leuten auf dem Lande verlief das Leben oft eintönig und ohne viel Veränderungen. Aber das galt nicht in den Städten. Dort herrschte Lärm und Hektik, dazu Dreck und soziale Verhältnisse, wie wir sie heute eher aus Entwicklungs- oder Schwellenländern kennen.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Tempo ist ja eher ein marginales Problem der Interpretation.


    Dann haben wir das Problem: es gibt einige hochintelligente Musiker wie Giuseppe Sinopoli. Als analytischer Musiker und Komponist hat der die Partitur des Strauss-Zarathustras tausendmal besser erfasst als andere sorglose Naturburschen-Spontandiagnostiker-Dirigenten und vor allem auch den zugrundeliegenden Nietzsche-Zarathustra kannte und erfasste Sinopoli in seiner Eigenschaft als studierter Philosoph sicherlich voll und ganz und ein guter Dirigent war Sinopoli ja eigentlich auch. Aber warum ist seine Aufnahme des Zarathustra (DG-NY) so scheiße geworden? Liegt doch nicht an mangelhafter Werkdurchdringung? (Habe das jetzt etwas provokativ stellvertretend hingeschrieben, habe den Sinopoli-Zarathustra seit Jahren nicht gehört und kann jetzt gar nicht konkret im Detail belegen, was mir daran nicht gefallen hat. Vielleicht habe ich ja Sinopolis Interpretation geistig nicht durchdrungen!)

    Er hat Jehova gesagt!

  • Diese sog. " Symphonischen Dichtungen" finde ich auch problematisch, anders ausgedrückt oft langweilig bis nichtssagend.
    Als negatives Beispiel dafür möchte ich Berlioz " Harald in Italien". Dafür möchte ich keine Zeit zur "geistigen Durchdringung" verschwenden.
    Positive sehe ich dagegen Dukas "Zauberlehrling" : eine einfache Handlung, die durch die Musik verständlich ausgedrückt wird.


    VG

    Ich verliere nie! Entweder ich gewinne oder ich lerne. (Unbekannt)

  • Ich muss gestehen, daß ich mir recht schwer tue mit dem Begriff der "geistigen Durchdringung" eines Werkes.


    Aus Einfällen, Ideen und Fragmenten entstehen Musikstücke, nicht selten mehrfach umgeschrieben und gelegentlich jahrelang auf Halte gelegt, bis es wieder weiterging.


    Ob der Komponist am Ende selbst noch immer weiß, was ihm da anfangs vorschwebte?


    Und dann durchdringt ein Anderer Jahrzehnte und Jahrhunderte später solch ein Werk geistig?


    Vielleicht interpretiere ich den Begriff auch falsch, aber für mich wäre es mehr ein Zueigenmachen, ein Aufgehen in dem Werk.

  • Naja, ich denke, ein Dirigent kann ja Werke bzw. Partituren theoretisch geistig durchdringen und durchdenken bis zum geht nicht mehr, aber wenn er es dann nicht schafft, diese geistige Durchdringung auch hörbar zu machen, hat er versagt.


    Mehr fällt mir dazu eigentlich nicht ein.

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  • Naja, ich denke, ein Dirigent kann ja Werke bzw. Partituren theoretisch geistig durchdringen und durchdenken bis zum geht nicht mehr, aber wenn er es dann nicht schafft, diese geistige Durchdringung auch hörbar zu machen, hat er versagt.


    Und wenn er es hörbar macht, der Zuhörer es aber nicht merkt - wer hat dann versagt?




    LG,
    Hosenrolle1

  • Der Grundgedanke hinter meiner Frage war eigentlich ein anderer: wer bestimmt, ob es in einem Werk tatsächlich Tiefgründiges gibt, und wer kann sagen, dass der Dirigent das nicht hörbar gemacht hat?


    Das Motto "Ich höre nichts tiefgründiges, also gibt es da nichts tiefgründiges" sowie "Ich höre in dieser Interpretation nichts tiefgründiges, also hat der Dirigent nicht tiefgründig dirigiert" wäre schon sehr eigenartig, weil es die eigene Meinung verabsolutiert.


    Oder um es mit den Worten der EAV in dem Song "Nie wieder Kunst" zu sagen: "Alles was ich nicht versteh´ das ist keine Kunst und für´s WC".
    Aber das tust du ja nicht, wenn ich dich richtig verstanden habe.




    LG,
    Hosenrolle1

  • Weißt Du, solange man das nur theoretisch und abstrakt abhandelt, kommt man da auf keinen grünen Zweig.


    Um was geht es Dir konkret?

  • Um mal konkret zu werden, weil ich es mich aktuell beschäftigt:


    Wenn ich die vierte Sinfonie von Schumann, dirigiert von Wilhelm Furtwängler, höre, dann habe ich vollkommen das Gefühl, daß der Dirigent das Werk "geistig durchdrungen" hat, d.h. er hat es verinnerlicht, dem Orchester nach seinem Verständnis nahegebracht und es dazu gebracht, mitreißend, tiefgründig, klangintensiv, individuell und einprägsam, zu spielen. Nicht ohne Grund ist diese Aufnahme von 1953 nach wie vor "Referenz" und nicht veraltet.


    Höre ich dasselbe Werk dann von Paavo Järvi und der Dt. Kammerphilh. Bremen, dann habe ich das Gefühl von absoluter Oberflächlichkeit, Beliebigkeit und Austauschbarkeit. Das höre ich einmal und vergesse es gleich wieder. Da ist nichts, was meinen Geist ansprechen würde, was mich länger beschäftigen würde, was mir in Erinnerung bliebe.


    Vielleicht kannst Du mit meinen Äußerungen ja was anfangen. Wenn nicht, dann eben nicht.

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  • Wenn ich die vierte Sinfonie von Schumann, dirigiert von Wilhelm Furtwängler, höre, dann habe ich vollkommen das Gefühl, daß der Dirigent das Werk "geistig durchdrungen" hat, d.h. er hat es verinnerlicht, dem Orchester nach seinem Verständnis nahegebracht und es dazu gebracht, mitreißend, tiefgründig, klangintensiv, individuell und einprägsam, zu spielen. Nicht ohne Grund ist diese Aufnahme von 1953 nach wie vor "Referenz" und nicht veraltet.


    Höre ich dasselbe Werk dann von Paavo Järvi und der Dt. Kammerphilh. Bremen, dann habe ich das Gefühl von absoluter Oberflächlichkeit, Beliebigkeit und Austauschbarkeit. Das höre ich einmal und vergesse es gleich wieder. Da ist nichts, was meinen Geist ansprechen würde, was mich länger beschäftigen würde, was mir in Erinnerung bliebe.


    Das sind subjektive Höreindrücke, die natürlich für dich ihre Richtigkeit haben, aber auch nicht weiter begründet sind - das ist für mich viel abstrakter als meine konkrete Frage:


    wer bestimmt, ob es in einem Werk tatsächlich Tiefgründiges gibt, und wer kann sagen, dass der Dirigent das nicht hörbar gemacht hat?


    Fachzeitschriften? Jeder Hörer? Jeder, der die Partitur studiert hat? Musikstudenten? Wer?




    LG,
    Hosenrolle1

  • Weißt Du, stell Dir die Frage doch einfach selber und beschäftige Dich damit - denn ich werde es nicht für Dich tun.


    Und stell Dir vor allem einmal die Frage, was DU ganz persönlich unter "geistiger Durchdringung" verstehst - denn nur das ist im Endeffekt für DICH relevant.


    Denn selbst der Threadersteller scheint ja nicht wirklich zu wissen, um was es Ihm hier eigentlich geht.

  • Im Übrigen sind meine "subjektiven Höreindrücke" überhaupt nicht abstrakt. Für Dich aber, denn Du kennst die Aufnahmen nicht, auf die ich mich beziehe. Und das ist das Problem dieser Diskussion - sie findet im luftleeren Raum statt. Und Deine allgemein formulierten Fragen sind einfach irgendwie irrelevant und belanglos.

  • Ja, schon klar, der Threadersteller weiß nicht was er will, meine Fragen, denen du systematisch ausweichst, sind auch alle ganz eigenartig :D


    Ich hätte schon nach dem

    Mehr fällt mir dazu eigentlich nicht ein.


    nicht weiter nachfragen sollen ... kommt nicht wieder vor, versprochen.




    LG,
    Hosenrolle1

  • Mein Fehler war, daß ich mich überhaupt auf eine Diskussion mit Dir eingelassen habe. Kommt auch nicht wieder vor, versprochen!


    Bleib bei Deinen Hosenrollen und Arien. Danke.

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  • oh, ich bin untröstlich, ich dachte, dass wenigstens Du meine dialektische Absicht verstehst.


    Der Satz war ja ironisch gemeint :)
    Ich habe überhaupt nichts gegen dein Thema, und habe mich selbst auch schon gefragt, was diese Phrase genau bedeuten soll.



    LG,
    Hosenrolle1

  • Um mal konkret zu werden, weil ich es mich aktuell beschäftigt:


    Wenn ich die vierte Sinfonie von Schumann, dirigiert von Wilhelm Furtwängler, höre, dann habe ich vollkommen das Gefühl, daß der Dirigent das Werk "geistig durchdrungen" hat, d.h. er hat es verinnerlicht, dem Orchester nach seinem Verständnis nahegebracht und es dazu gebracht, mitreißend, tiefgründig, klangintensiv, individuell und einprägsam, zu spielen. Nicht ohne Grund ist diese Aufnahme von 1953 nach wie vor "Referenz" und nicht veraltet.


    Recht hast Du. Besser könnte ich es kaum in Worte fassen. Genauso geht es mir mit den Aufnahmen von Knappertsbusch (Wiener Philharmoniker, 1962) und (schon in Stereo) Asahina (Osaka Philharmonic Orchestra, 1975). Schon damalige Kritiken meinten, es erinnere an einen wiederauferstandenen Furtwängler. Es passt einfach vom ersten bis zum letzten Takt. Mehr muss man nicht mehr sagen.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões