Humperdinck: Hansel und Gretel (MET, 01.01.2008)



  • Gretel - Christine Schäfer 4
    Hansel - Alice Coote 4
    Gertrude (Mother) - Rosalind Plowright 4
    Peter (Father) - Alan Held 4
    The Sandman - Sasha Cooke 4
    The Dew Fairy - Lisette Oropesa 4
    The Witch - Philip Langridge 3-4 (könnte von ihm bösartiger angelegt werden)


    Übersetzung des Libretto ins Englische: David Pountney
    Production: Richard Jones
    Bühne und Kostüme: John Macfarlane


    Metropolitan Opera Orchestra
    Conductor: Vladimir Jurowski 5


    Ich finde, es ist an der Zeit, dass für diese viel geschmähte Inszenierung hier endlich einmal eine Lanze gebrochen wird. Durch den übermässig schlechten Ruf dieser Inszenierung neugierig geworden, habe ich mir eine Second-Hand-DVD der Produktion gegönnt - und war positiv überrascht! Ob es dem ein oder anderen Rezensenten gefällt oder nicht, aber diese englischsprachige Aufführung hat durchaus ihre Meriten. Gesungen und musiziert wird auf hohem Niveau und die Inszenierung versteht mich durchaus zu packen:


    Akt 1
    Eine karge Küche mit Spüle, Schrank, Tisch, ein paar Stühlen und Kühlschrank (leer). Nichts von romantisch verklärter Armut, sondern eine triste heutige Szenerie, in der Hänsel und Gretel sich die Zeit vertreiben. Das soziale Milieu wird durch Hänsels mitunter grobem/aggressivem Verhalten und Gretels Andeutungen von Verhaltensgestörtheit und linkischen Tanzbewegungen verstörend verstärkt.
    Als der Vater zu Essen mitbringt, macht sich die Mutter sofort begierig darüber her (die Kinder sind in diesem Moment vergessen), um sich bei der Schilderung der kinderfressenden Hexe heftig in die Spüle zu übergeben. Drastisch, aber nicht unlogisch.


    Akt 2
    Ein verfremdeter Küchenraum mit einer Spüle, mit Blattmuster versehenen Tapeten, einer langen Tafel und befrackten lebendigen Bäumen. Die Kinder essen die gesammelten Beeren auf und verschmieren sich mit den Resten die Gesichter. Das Sandmännchen ist ein hässlicher alter Mann, der in dieser unheimlichen Umgebung mit den lebendig agierenden Bäumen bestimmt keine schöne Träume bringt. Entsprechend monströs fällt der Traum nach dem Abendsegen aus: Überdimensional fette Köche decken auf der Tafel für die Kinde ein Festmahl auf, über das sie sich hermachen, während ein Fisch im Kellnerfrack das Ganze überwacht. Eine gelungene Mischung aus Alb- und Wunsch-Traum.


    Akt 3
    Gelungener Gag: Das Taumännchen tritt als Küchenhilfe auf, die das Geschirr des Traumgelages abspült. Das Äußere des Hexenhauses ist eine blutrote Wand mit einem großen gierigen Mund, auf dessen Zunge eine riesige Torte balanciert. Das Innere hingegen ist eine große "Industrieküche", auf deren Tafel reichhaltige (süße) Speisen angerichtet sind, allerdings würde man hier nicht unbedingt das Essen genießen, da die Küche selbst einen verdreckten Eindruck macht und die Hexe als fette alte Vettel mit Überbiss in schwarzem Schlabberlook in der Küche herrscht.
    Nachdem die Hexe in den Ofen (mit Glastür, durch die man sie noch lange an die Scheibe klopfen sieht) gestossen wurde und die Lebkuchenkinder erlöst wurden, wird die fertig durchgebratene Hexe auf die große Tafel gelegt. Hansel schließlich beißt zum Schlussakkord herzhaft in diesen Hexenbraten... (Bei der Verrohung, die er von seinem Elternhaus kennt, der (Alb-)Traumnacht im Wald und der Bosheit der Hexe ist dieser Schritt nicht mehr verwunderlich.)


    Die oben angeführten Schlaglichter auf die Inszenierung zeigen meiner Meinung nach, dass sich Richard Jones bei dieser Produktion durchaus seine Gedanken gemacht hat. Man kann diese Oper durchaus so inszenieren, auch wenn das - wie geschehen - nicht auf soooo große Gegenliebe stößt. Ich fand es jedenfalls gelungen, originell und kurzweilig. Den schlechten Ruf, den diese Produktion hat, hat sie wirklich nicht verdient.

  • Danke für diesen Bericht. - Man sieht, dass es nicht allzuschwer ist, den Bogen zu schlagen von Hänsel und Gretel zu zunehmender Kinderarmut, sowie physischer und psychischer Verwahrlosung von Kindern und Jugendlichen sogar in so "zivilisierten" Ländern, wie z.B. Deutschland oder den USA. Dass so eine Inszenierung nicht auf große Gegenliebe stößt, ist verständlich; möchte man doch einen schönen Opernabend in der MET erleben und nicht gerne mit den unangenehmen Wirklichkeiten konfrontiert werden. Die Behauptung allerdings, der Opernbesucher würde auch bei einer konventionellen Hänsel und Gretel-Inszenierung mit Reisigbesen und Lebkuchenhaus schon selber klug genug sein, sich der bitteren Realität bewußt zu sein, halte ich für geradezu gefährlich-naiv ...

    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.