Gibt es Kompositionen, die über jede Kritik erhaben sind?

  • Hallo!


    Ich habe in der kurzen Schilderung meines Aufenthaltes in Weimar erwähnt, dass ich beim Erleben der Bachkantate "Sie werden von Saba alle kommen", dachte: Das ist die perfekte Musik. Ich musste in dem Zusammenhang an den Besuch eines Konzertabends in der Stuttgarter Liederhalle denken. Ich war mit einem Freund dort, der nur gelegentlich klassische Musik hört. Unter anderem erlebten wir Richard Strauss´ Vier letzte Lieder (die mein Freund m. W. bislang nicht kannte) mit Krassimira Stoyanova.


    Als wir anschließend über das Konzert sprachen, erwähnte er, die Lieder hätten ihm nicht so gut gefallen.


    Nun zählen die Vier letzten Lieder für mich zu den schönsten Orchesterliedern überhaupt und ich habe mich gefragt, ob man derart perfekte (oder perfekt empfundene) Kunst noch gut oder schlecht finden kann. Gleichzeitig spürte ich allerdings auch ein Gefühl von Arroganz. Schließlich hat jeder das Recht auf seine Meinung.


    Mich würde Eure Meinung interessieren. Gibt es Kompositionen, die sozusagen sakrosankt sind?


    Sind Kompositionen wie Bachs h-moll Messe, die 9te Sinfonie von Beethoven, die Goldberg-Variationen, Mozarts Requiem oder die Große Fuge von Beethoven nicht eine Art musikalisches Weltkulturerbe, sozusagen die ultimative Kunst und damit jeder individuellen Bewertung "entrückt"?


    Gruß WoKa

    "Die Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber Schweigen unmöglich ist."


    Victor Hugo

  • Das sind zwei paar Schuhe.


    Wenn ich sage, Lieder von Richard Strauß (und Hugo Wolf) gefallen mir nicht, so belässt diese Aussage den Liedern ihren vollen Wert, den andere ihnen beispielsweise zubilligen. Das ist KEIN Werturteil, sondern lediglich ein subjektives Erlebnis.
    Wenn mir jemand (beispielseise) 1Million Euro schenken will, und ich nehme sie nicht an, weil ich sage: "Geld ist in meinen Augen nur eitler Tand. das hat keinen Werk für mich" - dann ändert das nichts am Kaufwert dieser Million.


    Sacrosankt sind immer nur Werte innerhalb einses Wertesystems. Robert Schumann - Lange bvor seine Kompositionen sich durchsetzten war er ein scharfzüngiger erbarmungsloser Kritiker hat sich 1841l über Haydn folgendermaßen geäussert: "Er ist wie ein gewohnter Hausfreund, der immer gern empfangen wird; tieferes Interesse hat er für die Jetztzeit nicht mehr."


    Soviel zum Thema : Sakrosankte Kompositionen :hahahaha:


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Mich würde Eure Meinung interessieren. Gibt es Kompositionen, die sozusagen sakrosankt sind?

    Meine Meinung: nein. Es gibt Kunst, und es gibt Leuten denen sie gefällt, anderen gefällt sie nicht. Wenn Kritik an etwas, was kultisch verehrt wird, nicht mehr erlaubt sein soll, dann sieht es düster aus. Zum Glück haben viele Komponisten ihre eigenen Werke oft nicht so ernst genommen wie ihre Fans Jahrhunderte später. :D


    Insofern bin ich bei Alfred, wenn er schreibt


    Sacrosankt sind immer nur Werte innerhalb einses Wertesystems.


    LG,
    Hosenrolle1

  • Gibt es Kompositionen, die sozusagen sakrosankt sind?


    Nein, lieber Wodka. Ich würde den Begriff nicht auf die Musik im Besonderen und die Kunst im Allgemeinen anwenden. Sonst wäre ja keine Debatte möglich. Jeder muss alles auch schrecklich oder wenigstens langweilig finden können wie Dein Freund die "Vier letzten Lieder". Wir hatten hier bei TAMINO auch schon Diskussionen in der Art. Der eigene Geschmack und die eigenes Wertvorstellungen sollten nicht vom Gegenüber erwartet werden, auch wenn das unserer Harmoniebedürfnis mitunter ganz schön fände. Interessant ist die Frage aber schon.


    Sakrosankt ist für mich Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

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  • Lieber Woka,


    den Titel Deines Threads finde ich etwas überzogen. Jede Komposition drückt die Vorstellung seines "Herstellers" aus, und ich glaube nicht, daß wir als Konsumenten eine Komposition kritisieren sollten. Der persönliche Geschmack wird immer eine entscheidende Rolle spielen.


    Ich habe keine Bindung zu Renaissance- oder Barockmusik, Zwölftonmusik, überhaupt Atonalität verursacht bei mir Krämpfe in den Ohren. Aber sie deshalb kritisieren? Das kann ich gar nicht, dazu fehlt mir das Verständnis. Und der Komponist hatte ja seine Vorstellung von dem, was da aufs Notenpapier kam. Ich hörs mir dann einfach nicht an. Übrigens halte ich auch die Kritikermeinung bis hin zu Hanslick oder den heutigen Musikpäpsten für ihr persönliches Urteil. Es wird zu wenigen Musikstücken der Fall sein, daß sich Kritiker einig sind.


    Du hast ein gutes Beispiel angeführt mit den 4 letzten Liedern. Für mich einer der letzten Höhepunkte der Musik. Nach dem Krieg, alles voller Ruinen, moralische Disharmonien, neue klangunschöne Musik, und da kommt einer und schreibt wie aus längst vergangenen Tagen. Daß Strauss damit auch seinen Abgesang in Noten gesetzt hat und nach all dem Krach und Dreck etwas Besinnung einbringen wollte, das sollte jeder verstehen. Aber wems nicht gefällt, der hats eben nicht verstanden. Und auch Deinen Freund habe ich so eingeordnet. Keine Kritik an der Musik, aber mangelndes Verständnis.


    Ganz anders verhält es sich bei der Interpretation (bis hin zur Regie in der Oper). Da kann Kritik angebracht sein. Aber das ist ein anderes Thema.


    Herzlichst La Roche

    Ich streite für die Schönheit und den edlen Anstand des Theaters. Mit dieser Parole im Herzen leb' ich mein Leben für das Theater, und ich werde weiterleben in den Annalen seiner Geschichte!

    Zitat des Theaterdirektors La Roche aus Capriccio von Richard Strauss.

  • Ich würde es so formulieren, dass man, um manche Sachen gehaltvoll zu kritisieren, SEHR früh aufstehen muss. So früh können die meisten gar nicht ins Bett gehen :D


    Andererseits sind in der illustren Liste oben gleich mehrere historisch problematische Stücke drin. Nämlich Mozarts Requiem-Fragment, von dem nur ein kleiner Teil überhaupt von Mozart stammt und die Legende alles andere zu überwuchern schein. Und die h-moll-Messe, die zwar einerseits nicht zu unrecht als opus summum gesehen wird, andererseits aber eben auch eine Kompilation ist, bei der äußerst fraglich ist, ob es sich überhaupt um ein einheitliches Werk in unserem Sinne handelt.
    Oder Beethovens op.133. Noch ein Beispiel für ein historisch problematisches Stück, da nach wie vor die Diskussion nicht abgeschlossen ist, ob man es nun separat oder bevorzugt als Finale von op.130 aufführen soll. Für beides gibt es gute Gründe und man kann diesen Hintergrund ganz schlecht ausklammern.


    In allen diesen Fällen muss man m.E. sogar die Rezeptionshaltungen kritisieren, die diese historisch-philologische Problematik völlig ausklammern. Das wäre eben die "kultische" Verehrung.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Halo Johannes,


    der Begriff der "kultischen Verehrung" trifft sehr gut das, was ich gemeint habe.


    Gruß und Danke
    WoKa

    "Die Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber Schweigen unmöglich ist."


    Victor Hugo

  • Ich würde es so formulieren, dass man, um manche Sachen gehaltvoll zu kritisieren, SEHR früh aufstehen muss. So früh können die meisten gar nicht ins Bett gehen :D

    Offtopic: :thumbsup:

    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.

  • Sind Kompositionen wie Bachs h-moll Messe, die 9te Sinfonie von Beethoven, die Goldberg-Variationen, Mozarts Requiem oder die Große Fuge von Beethoven nicht eine Art musikalisches Weltkulturerbe, sozusagen die ultimative Kunst und damit jeder individuellen Bewertung "entrückt"?

    Vielleicht sind sie das, ja. Aber vermutlich gilt dies nur für einen ausgewählten Kulturkreis. - Weiß ich, was z.B. die indische Musik "zustande" gebracht hat? Nenne mir einen indischen Komponisten, dessen Werke ebenfalls als musikalisches Weltkulturerbe einzuordnen sind.

    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.

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  • Meines Wissens haben andere Kulturkreise mit relativ elaborierter "klassischer" Musiktradition keine Komponisten in dem Sinne. Es gibt in der persischen und indischen "klassischen" Musik bestimmte Skalen oder Schemata (Kombinationen bestimmter Skalen, Rhythmen etc.), auf deren Grundlage (oft ziemlich ausgedehnte) Improvisationen stattfinden. Vermutlich gibt es auch gewisse "mündliche" Überlieferungen nach den typischen oder üblichen Ausgestaltungen dieser Improvisationen, aber es gibt keine von bestimmten Komponisten fix notierten Musikstücke. D.h. es gibt keine Partitur, die man als Kulturerbe konservieren könnte. Vergleichbar sind die Produkte dieser Traditionen eher mit Jazzplatten oder -mitschnitten, da die spontane Performance zentral ist, nicht, was sich schriftlich für "ewig" festhalten ließe.

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    (Bob Dylan)

  • Wer früh genug aufstehen kann.

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    (Bob Dylan)

  • In der Soziologie kennt man das Problem als das Problem der Operationalisierung, d.h. welche Operationen gibt es, die messen können was sie messen sollen. Beispiel im Sport: wer die 100/200/400 m als Schnellster läuft, was genau gemessen werden kann, wird der Sieger. In anderen Bereichen ist das nicht möglich, z.B. zu ermitteln, wer der beste Politiker ist.
    Man muss sich also behelfen. Dazu nimmt man das Panel der Mehrzahl, die man fragt. Oder aber: man weicht aus in das Panel-Gebiet der Fachleute aus. D.h. man fragt einschlägige Fachleute. Schon von diesem Mangel an sinnvollen Methoden muss man schließen, dass dieses Verfahren nicht funktionieren kann. Ein Beweis ist u.a. unser Tamino-Opernkanon. Er steht nun fest, aber was bedeutet er für mich? Gar nichts!!
    Beispiel: von den Janacek-Opern wurde Katja Kabanowa ausgeschlossen. Hat das irgendeinen Einfluss auf meine Liebe zu dieser Oper? Überhaupt kein bisschen!

    Schönheit lässt sich gerne lieben...

    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • Wer früh genug aufstehen kann.

    :thumbup:


    Aber selbst da ist die Frage: wieviel Fachkompetenz ist vonnöten, um das zu können? Können wir Nachgeborene das überhaupt beurteilen, egal wie viel wir darüber wissen?


    Ein Beweis ist u.a. unser Tamino-Opernkanon. Er steht nun fest, aber was bedeutet er für mich? Gar nichts!!


    100% Zustimmung von mir.




    LG,
    Hosenrolle1

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  • Zitat

    Aber selbst da ist die Frage: wieviel Fachkompetenz ist vonnöten, um das zu können? Können wir Nachgeborene das überhaupt beurteilen, egal wie viel wir darüber wissen?


    Nur ein paar kurze Anmerkungen hierzu, die natürlich die Frage nicht beantworten, abgesehen davon, daß wir - wenngleich aus nachvollziehbaren Gründen - von der eigentlichen Frage nach "sakrosankten" Kompositionen" abgekommen sind:


    Wirkliche Kunstwerke - sakrosankt oder nicht - benötigen IMO weder Erlärungen oder Deutungen sogenannter "fachkompetenter Experten", noch einen bestimmten Zeitraum. Bei der Architektut griechischer Temtel - um ein nichtmusikalisches Beispiel zu bringen, ist es für den ästhetischen Genuss völlig beanglos für welche Gottheiten sie errichtet wurden. ob hier eine besondere Symbolik auf die Sterne eine Rolle spielt oder wie alt sie sind. Sie wirken durch sich selbst. Ein gleiches kann auch für jahrhundertealte chinesische Prunkbauten gesagt werden oder für Kronen und Prunkgegenstände vergangener Jahthunderte aus Gold.


    Heute hat sich ein etwas eigenartiger Kunstbegriff eingebürgert - nein er wurde uns aufgezwungen. Jede gestörte Person mit wirren Ideen darf sich heute als Künstler bezeichnen und ihre Produkte unwidersprochen als Kunstwerke darstellen, die dann natürlich der Freiheit der Kunst unterliegen und EIGENTLICH staatlch subventioniert werden sollten, wenn schon das "gemeine Volk" die Großartigkeit nicht erkennt.,,,,


    Ich glaube nicht, daß "sakrosankte Kunstwerke" je als soche existieren werden oder nachweisbar sein werden. Ich für mein Teil sähe es schon als Fortschritt an, wenn wenigstens an Hand nachvollziebarer Kriterien einstufbar wäre, was alles NICHT unter den Begriff "Kunstwerk" fällt.


    DAS wäre immerhin möglich, aber NOCH ist die Politik zu feige dazu, zu uninteressiert und - vieleicht - zu ungebildet. (Nicht früh genug aufgestanden ?? ;) )


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Wirkliche Kunstwerke - sakrosankt oder nicht - benötigen IMO weder Erlärungen oder Deutungen sogenannter "fachkompetenter Experten"


    Da bin ich anderer Meinung; ich bin generell daran interessiert, dazu zu lernen und mehr über ein Werk, das mir gefällt, zu erfahren, musiktheoretisch, musikhistorisch, was die Instrumentierung betrifft, usw. Und da bin ich auch froh, wenn es Leute gibt, die so etwas z.B. studiert haben UND gut erklären können.





    LG,
    Hosenrolle1

  • Da bin ich auch noch mal anderer Meinung!


    Stücke, die mir gefallen, muß ich nicht analysieren. Sie gefallen mir auch ohne daß ich weiß, warum.


    Sollten Analysen dazu führen, daß ich besser weiß, warum, sind diese willkommen.


    Analysen, die zeigen, daß ich eigentlich falsch liege und das Stück überbewerte, werden erst gar nicht wahrgenommen! Es ist mir schlicht egal, was Experten, Notenleser, Sterndeuter, Kaffeesatz-Interpreten oder sonstiges Gelichter glauben, mir einreden zu wollen oder können. DIE Instanz für MICH sind meine Ohren. Eine weitere Instanz gibt es nicht.


    Leute, die das ziemlich subjektiv finden, haben recht.

  • Stücke, die mir gefallen, muß ich nicht analysieren.


    Ich habe ja nicht behauptet, dass man das muss - das kann jeder für sich selbst entscheiden, wieviel er wissen möchte über ein Werk.


    Notenleser aber als "Gelichter" zu bezeichnen und mit Sterndeutern und Kaffeesatz-Lesern zu vergleichen finde ich nicht mehr subjektiv, sondern beleidigend, weil ich das (Notenlesen) selbst mache, und um viele schöne und interessante Entdeckungen ärmer wäre, würde ich das nicht tun. Ich fände es auch schade, wenn die bislang sachlich verlaufende Diskussion hier auf so ein Niveau abrutscht.




    LG,
    Hosenrolle1

  • Zitat

    Da bin ich anderer Meinung; ich bin generell daran interessiert, dazu zu lernen und mehr über ein Werk, das mir gefällt, zu erfahren,


    Kein Widerspruch von meiner Seite. Deine Einschränkung ist mit meiner kompatibel: "ein Werk das mir GEFÄLLT"
    Ich meine, es muß mir VON SICH AUS gefallen - DANN kann man sich näher damit befassen.
    Letztlich macht das ja auch die Existenzberechtigung des Tamino Kalssikforums aus, dessen lexikalen Zweig ich sehr forciere - oft genug gegen Widerstände.
    ABER: Niemand wird miich durch Hintergrundwissen einem Werk nahebringen. das mir partout nicht gefällt.
    Soll heissen: Ich akzeptiere keine "Experten" die aus offensichtlichen Schmierereien oder Banalmotiven "Kunstwerke" konstruieren, wobei mir die Motve, weshalb dies geschieht eigentlich egal sind. Ein schwarzes Quadrat auf weissem Grund, in verschiedenen "Versionen" gemalt. das als "Kunstwerk im Museum hängt " und als Ikone der modernen Kunst bezeichnet wird ist IMO entlarvend genug.....


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



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  • ABER: Niemand wird miich durch Hintergrundwissen einem Werk nahebringen. das mir partout nicht gefällt.


    Ich weiß wie du es meinst, in gewisser Weise geht es mir auch so, allerdings mit kleinen Einschränkungen: meine jetzige Lieblingsoper "Salome" mochte ich anfangs überhaupt nicht, ich habe mich gefragt "Was soll das sein? Da wird nicht schön gesungen, die Musik ist doch auch ein Murks, wie kann man sich sowas ernsthaft anhören?". Dadurch bin ich mit anderen ins Gespräch gekommen, habe da so sachlich wie möglich (auch mit Notenbeispielen und Vergleichen mit anderen Opern etc.) meine Vorbehalte begründet, und Antworten bekommen, wie man diesen Gesang, diese Musik auch sehen kann.
    Danach fiel mir der Zugang leichter, und jetzt ist das meine absolute Lieblingsoper (und ich hoffe, die bald erscheinende kritische Ausgabe der Partitur aus der "Richard Strauss Edition" wird nicht zu teuer werden, weil auf sowas warte ich schon mehrere Jahre!).


    Aber natürlich muss die Begeisterung für etwas von einem selbst kommen - andere können, so meine ich, da nur Hilfestellungen geben. Es kann natürlich auch sein, dass die Begeisterung trotzdem nicht da ist - dann habe ich zumindest ein bisschen was drüber gelernt, und weiß, was für andere daran interessant ist. Und andere Sichtweisen zu hören ist doch immer interessant :)




    LG,
    Hosenrolle1

  • Man kann nicht sagen, dass Komponisten generell über jede qualitativ angemessene Kritik erhaben wäre ( über "Kritik" oder besser gesagt "Pöbeleien des Jahres 2017 im Facebook-Stil" wäre der Komponist immer erhaben...) , wohl aber bestimmte besonders gelungen Werke gewisser Komponisten.
    Der Komponist, der es wohl wie kaum ein anderer schaffte, tatsächlich überwiegend sein unfassbares und enormes Niveau zu halten, heißt Johann Sebastian Bach.
    Aber selbst er war auch "nur" ein Mensch, und selbst bei ihm gibt es starke und extrem starke Werke, aber vielleicht auch ganz wenige die man als "Mittel" oder "immer noch gut" bezeichnen könnte.
    Doch über jedwede Kritik erhaben sind in der Tat gewisse Werke von ihm. Hier möchte ich z.B. die Matthäus-Passion nennen. Ihre Qualität ist faktisch keine "reine Geschmackssache" und somit relativ, sondern musikanalytisch in jedem Takt nachweisbar. Eine harmonische Analyse alleine eines vierstimmigen Choralsatzes aus diesem Werk beweist eine derartige, nicht mehr zu erklärende Fülle von meisterhafter Beherrschung, Ideenreichtum, Geschmack, Textbezogenenheit und starkem Ausdruckswillen, dass man schon alleine deshalb Gänsehaut bekommen kann.
    Dann gäbe es noch die Figuren, die Tonartensymbolik, die verborgenen Zahlenspielereien mit Psalmandeutungen oder theologisch wohl überlegtes Einbauen seiner eigenen Person, dann noch die Melodik, die Rhythmik, die Instrumentation/Klanglichkeit......und noch viel viel mehr.


    Aber wie bekannt gibt es ja noch viele andere Werke dieses Meisters, bei denen ich einmal denjenigen sehen will, der sich töricht und öffentlich hinstellt und sich allen Ernstes erdreistet, etwa die "Kunst der Fuge" hinsichtlich der Fugentechnik oder anderer Aspekte schlechtzureden.
    Da muss er dann so etwas von früh aufstehen, dass er noch weit vor seiner Geburt mit dem Aufstehen beginnen müsste....


    Es gibt so etwas natürlich auch bei anderen großen Meistern. Einiges von Schütz ist z.B. unfassbar gut, wie einige Psalmen Davids, der Schwanengesang und vieles mehr.


    Wenn es um die Schönheit von Melodien geht, die er mit einfachsten Mitteln völlig unnachahmlich schreiben konnte, dann muss man immer Mozart nennen. Was will man schon gegen so manches seiner späteren Klavierkonzerte sagen?Was will man gegen die Winterreise von Schubert hervorbringen oder gegen die gewichtigen Symphonien von Brahms? Ich kann an der Siebten oder der Fünften von Beethoven überhaupt keinen fragwürdigen Ton erkennen. Es sollte genau so klingen, wie er es geschrieben hat - kein Ton mehr, keiner weniger.
    Wagner hat ja seine Orchestermusik vom Tannhäuser, vom Tristan oder vom Ring schon so komponiert, dass sie - wenn sie denn gut gespielt wird (!) - keinen Widerspruch duldet.


    Doch, ich meine schon, dass es im Kanon der klassischen Literatur durchaus extrem hochwertige und ewig gültige Werke gibt, die eben so gut sind, dass eine Kritik daran bestenfalls einen Heiterkeitserfolg zu Lasten des Kritikers auslöst.
    Man kann durchaus musiktheoretisch und praktisch analysieren, wie "der das denn gemacht hat".
    Wesentlich schwieriger bis unmöglich ist es jedoch, auf die Frage "wie konnte er bloß darauf kommen" eine schlüssige Antwort zu geben, gerade wenn man sehr tief in so ein Meisterwerk "eingestiegen" ist.


    Gruß
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • die Instrumentation/Klanglichkeit.

    Ich kann an der Siebten oder der Fünften von Beethoven überhaupt keinen fragwürdigen Ton erkennen. Es sollte genau so klingen, wie er es geschrieben hat

    Ich gebe dir da vollkommen Recht, und bin guter Hoffnung, dass du da auch die Verwendung der richtigen Instrumente mit ihren Klangfarben und Eigenschaften mit einschließt, die ja auch, wie du schon richtig schreibst, solche Dinge wie die Klanglichkeit oder auch die Tonartencharakteristik ausmachen.


    (Von Harnoncourt habe ich ein Zitat gefunden, das ich ganz interessant fand:


    Zitat

    Können Sie das am Beispiel Beethoven vielleicht ein bisschen verdeutlichen? Das ist Musik, die mit unserem Instrumentarium schon ganz gut spielbar ist, aber siehe da, auch da gibt es Bereiche, wo mit den neueren Techniken etwas geopfert wird.



    Ein konkretes Beispiel: Beethoven verwendet (außer im 4. Horn der Neunten Symphonie) Naturhörner; die kann man aber melodisch nicht in Oktaven führen, weil nur das 1. Horn eine Melodie ausführen kann. Beethoven führt aber trotzdem das 2. Horn sozusagen in Oktaven dazu und springt bei den fehlenden Tönen, die in der tieferen Lage eben nicht vorhanden sind, in die obere Lage, das heißt, es entstehen keine Oktaven, sondern abwechselnd Oktaven und Einklänge, und so hüpft das 2. Horn immer hin und her. Das ergibt für den Spieler des 2. Hornes eine eigenartige Stimmführung. In der Partitur sieht das sehr merkwürdig aus.
    In der Praxis wird das fast immer geändert, weil man ja die heutigen Ventilhörner ohne weiteres in Oktaven führen kann. Ich finde das falsch, denn die melodische Führung von zwei Naturhörnern bedingt eben diesen bunten Klang, und nur dann, wenn ich heute diesen bunten Klang schlecht finde, ihn ablehne und mittels Ventilhörnern verändere, die „fehlenden“ Töne ausfülle, kann ich die Veränderung als Verbesserung bezeichnen.


    LG,
    Hosenrolle1


  • Aber wie bekannt gibt es ja noch viele andere Werke dieses Meisters, bei denen ich einmal denjenigen sehen will, der sich töricht und öffentlich hinstellt und sich allen Ernstes erdreistet, etwa die "Kunst der Fuge" hinsichtlich der Fugentechnik oder anderer Aspekte schlechtzureden.


    Das macht wohl auch niemand. Aber natürlich kann und hat man diese Werke Bachs trotzdem kritisiert, nämlich als trockene und musikalisch unattraktive "Lehrwerke", die einen vielleicht lehren, wie man Fugen komponiert, aber nicht, wie man Musik macht. Ob das genau so jemand geschrieben hat, weiß ich nicht, aber es gibt nicht nur die Kritiker des "gelehrten Stils" Mitte des 18. Jhds., sondern auch etliche Komponisten im 19. Jhd., die für Bach vielleicht Respekt, aber wenig echtes Interesse aufbringen konnten (meines Wissens etwa Berlioz und Tschaikowskij), schlicht, weil sie völlig andere musikalische Schwerpunkte hatten als möglichst ausgefuchsten Kontrapunkt. D.h. die unbestrittenen Qualitäten kann man für weitgehend irrelevant halten.
    (Ich habe keine Ahnung, wie sich die 2000? Fugen des berühmten Kontrapunktlehrers Simon Sechter anhören; ich nehme stark an, dass sie technisch mindestens solide sind, viele davon sind sicher sehr kunstvoll, aber man hat sie anscheinend für künstlerisch wertlos befunden.)


    Andere Musiker und Komponisten sind oft zugleich die besten (weil sie typischerweise am meisten Ahnung haben) und die schlechtesten Kritiker (weil sie zu starke eigene persönliche Vorlieben und Ideen haben).
    Man nehme Brahms vs. Bruckner. Brahms können die kompositorischen und kontrapunktischen Qualitäten von Bruckners Sinfonien eigentlich nicht entgangen sein, denn er war ja ein historisch und technisch extrem beschlagener Komponist. Aber andere Aspekte des Stils haben ihn anscheinend so abgestoßen, dass er die Werke für misslungen hielt und Bruckner für eine bald vergessene Randerscheinung. Umgekehrt könnte es ähnlich gewesen sein (nur dass da nicht so viel überliefert ist, weil Bruckner insgesamt bescheidener war und Brahms seinerzeit natürlich viel angesehener und bekannter).

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
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    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)