Gleich vorneweg: es geht nicht darum, wie man sich in der Opern oder im Konzertsaal verhält, Stichwort Husten, Bonbonrascheln, etc., sondern um etwas ganz anderes.
Anstoß zu diesem Thread haben mir die Bücher „Mozarts Musiksprache – Schlüssel zu Leben und Werk“ von Gunthard Born sowie das "Handbuch der musikalischen Figurenlehre" von Dietrich Bartel gegeben.
Ich habe in der Vergangenheit schon mehrere Bücher von und über Harnoncourt gelesen, in denen er immer wieder davon sprach, dass Mozarts Musik Klangrede sei. Das hat mich interessiert, jedoch hat er in den Büchern, die ich las, nie etwas Genaueres dazu gesagt. Und so bin ich jetzt auf das erwähnte Buch gestoßen, das sich ausschließlich mit Mozarts Musik beschäftigt, oder besser gesagt, mit der „Sprache“, den sprachlichen Motiven in seiner Musik.
Der Autor zeigt hier anhand von zahlreichen Notenbeispielen und Vergleichen, dass Mozart mit vielen Motiven arbeitete, die nicht einfach nur "schön klangen", sondern eine bestimmte Bedeutung haben, und die der Komponist verwendet hat, weil er wusste, dass diese auch großteils verstanden werden. Was Mozart da komponiert hat wird von uns heute nur noch als „schöne Musik zum Abschalten" wahrgenommen (z.T. auch deshalb, weil vom Komponisten bewusst eingesetzte "hässliche" Töne durch moderne Instrumente "schön" gemacht und dadurch verfälscht werden), dabei bemerken wir natürlich nicht, dass diese Musik etwas sagt und uns fordert. Was eigentlich traurig ist, denn dann, wie Born schreibt, „redet diese Musik weiter nur mit sich selbst und wartet darauf, daß jemand wieder ihre Sprache lernt, um mitzuhören.“ Wir hören schön klingende Worte einer für uns fremden Sprache, aber wir verstehen nicht WAS gesagt wird.
Laut Harnoncourt ist die Schuld daran v.a. in der französischen Revolution zu suchen:
ZitatAlles anzeigenEs gibt in dieser Entwicklung einige interessante Bruchstellen, die das Verhältnis von Meister und Lehrling in Frage stellen und verändern. Eine dieser Bruchstellen ist die Französische Revolution. In der großen Wende, die durch sie bewirkt wurde, kann man erkennen, wie die gesamte Musikausbildung und auch das Musikleben eine grundsätzlich neue Funktion bekamen. Das Verhältnis Meister-Lehrling wurde nun durch ein System, eine Institution ersetzt: das Conservatoire.
Bei der französischen Methode, eine bis in die letzten Einzelheiten durch konstruierte Vereinheitlichung des musikalischen Stils zu erzielen, ging es darum, die Musik in das politische Gesamtkonzept zu integrieren. Das theoretische Prinzip: die Musik muss so einfach sein, dass sie von jedem verstanden werden kann (wobei das Wort „verstanden“ eigentlich nicht mehr zutrifft), sie muss jeden rühren, aufputschen, einschläfern … ob er nun gebildet ist oder nicht; sie muss eine „Sprache“ sein, die jeder versteht, ohne sie lernen zu müssen.
Diese Forderungen waren nur nötig und möglich, weil die Musik der Zeit davor sich primär an die „Gebildeten“ wendet, also an Menschen, die die musikalische
Sprache gelernt haben. Die Musikerziehung hat im Abendland von jeher zu den wesentlichen Teilen der Erziehung gehört. Wenn nun die traditionelle
Musikerziehung eingestellt wird, hört die elitäre Gemeinschaft von Musikern und gebildeten Hörern auf. Wenn jedermann angesprochen werden soll, ja der Hörer
gar nichts mehr von Musik zu verstehen braucht, muss alles Sprechende – das Verstehen erfordert – aus der Musik eliminiert werden; der Komponist muss Musik schreiben, die auf einfachste und eingängigste Weise direkt das Gefühl anspricht. (Philosophen sagen in diesem Zusammenhang: Wenn die Kunst nur noch gefällt, ist sie auch nur für Ignoranten gut.)
Harnoncourt schreibt weiter:
ZitatAlles anzeigenUnter dieser Voraussetzung also hat Cherubini das alte Meister-Lehrling Verhältnis im Conservatoire aufgehoben. Er ließ von den größten Autoritäten der Zeit Schulwerke schreiben, die das neue Ideal der Egalité (der Gleichmäßigkeit) in der Musik verwirklichen sollten. In diesem Sinne hat Baillot seine Violinschule, hat Kreutzer seine Etüden geschrieben. Die bedeutendsten Musikpädagogen Frankreichs mussten die neuen Ideen der Musik in einem festen System niederlegen. Technisch ging es darum, das Sprechende durch das Malende zu ersetzen. (…) Diese Revolution in der Musikerausbildung hat man derart radikal durchgeführt, dass innerhalb weniger Jahrzehnte überall in Europa die Musiker nach dem Conservatoire-System ausgebildet werden. Geradezu grotesk aber erscheint mir, dass dieses System heute noch die Basis unserer Musikerziehung ist! Alles, was vorher wichtig war, wurde dadurch ausgelöscht!
Ich bin der Meinung, dass diese Methode optimal ist für die Musik Wagners, aber dass sie geradezu tödlich ist für die Musik von Mozart. Genaugenommen erhält
der heutige Musiker eine Ausbildung, deren Methode sein Lehrer so wenig durchschaut wie er selbst. Er lernt die Systeme von Baillot und Kreutzer, die
für die Musiker von deren Zeitgenossen konstruiert wurden, und wendet sie auf die Musik völlig anderer Zeiten und Stile an. Offensichtlich ohne sie neu
durchzudenken, werden sämtliche theoretischen Grundlagen, die vor hundertachtzig Jahren sehr sinnvoll waren, noch immer in die heutige
Musikerausbildung übernommen, aber nicht mehr verstanden.
Ein Geiger mit der perfektesten Kreutzer/Paganini-Technik möge nicht glauben, damit das Rüstzeug für Bach oder Mozart erworben zu haben. Dafür müsste er die technischen Voraussetzungen und den Sinn der „sprechenden“ Musik des 18. Jahrhunderts wieder zu verstehen und zu erlernen trachten.
Hier geht es natürlich um die Musiker, um die Interpreten dieser Musik, aber Harnoncourt beschränkt sich nicht alleine darauf, wenn er schreibt:
ZitatEs handelt sich hier nur um die eine Seite des Problems, denn auch der Hörer müsste zu einem viel umfassenderen Verständnis herangeführt werden. Derzeit leidet er noch immer unter der Entmündigung in der Folge der Französischen Revolution, ohne es zu wissen. Schönheit und Gefühl sind bei ihm, wie bei den meisten Musikern, die einzigen Komponenten, auf die das Musikerleben und –verstehen reduziert ist. (…)
Und damit bin ich beim Hauptthema dieses Threads angelangt. Ich denke, dass auch das Publikum sich werkgerecht verhalten kann. Das Werk wurde für ein bestimmtes Publikum mit bestimmten Kenntnissen geschrieben. Wenn man diese Kenntnisse nicht hat, wird man dem Werk bzw. den Anforderungen des Werkes an das Publikum beim Hören nicht gerecht. Freilich kann das Publikum von heute nichts dafür, denn weder hat es die Musikerziehung von damals gehabt, noch hatte es wirklich die Chance, diese Werke "richtig" zu hören.
Auch Gunthard Born sucht die Schuld nicht beim Publikum, wenn er schreibt:
ZitatDies zu verfolgen [die kunstvollen Modulationen] fällt den meisten musikinteressierten Laien heute recht schwer, denn das Organ, mit dem sie Mozarts Modulationen als Ausdrucksmittel bemerken könnten, wurde ihnen durch nachfolgende Musiker betäubt, stillgelegt, verödet. Doch Mozart ging davon aus, daß Kenner auch seine Modulationen bewußt miterlebten und verstanden, sonst hätte er diesem Ausdrucksmittel in seinen Oper nicht so konkrete Aussagen anvertraut (...)
Wenn es WIRKLICH an Mozarts Musik (und nicht an den Verfälschungen der nachfolgenden Jahrhunderte) interessiert ist, kann es, so gut es geht, versuchen, diese Sprache wieder zu lernen, die Ohren zu schärfen für solche Dinge wie Tonartencharakteristiken und den Reichtum an Klangfarben, die Mozarts Werke enthalten. Das funktioniert natürlich nur bei Orchestern, die die Instrumente verwenden, für die Mozart geschrieben hat, und die sich auch informiert haben darüber, wie man diese
Musik spielt, wie man dem Werk, den Intentionen des Komponisten, näher kommt.
Das erfordert natürlich, dass man sich intensiver damit beschäftigt, dass man seine eigenen Hörgewohnheiten hinterfragt, dass man in Kauf nimmt, dass das, was man bisher für toll und richtig gehalten hat, als ungenügend und falsch zu erkennen. Dafür wird man dann aber auch belohnt mit ganz neuen Erkenntnissen und Sichtweisen auf diese Werke.
So schreibt Born auch:
ZitatDurch den modernen Orchesterklang wird der Hörer überwältigt; er lehnt sich zurück und unterwirft sich dem berauschenden Angriff der Klangmassen. Mozarts Orchester errichtete dagegen in der Regel feine Klanggebäude, denen sich der Hörer erst nähern muß: Er neigt sich vor, lauscht, versucht, in die Musik einzudringen. Das wußte der Komponist, und deshalb verteilte er risikolos wichtige Aussagen auf die einzelnen Instrumentengruppen, ließ er unterschiedliche Informationen von den verschiedenen Stimmen oft auch gleichzeitig vorbringen. Er konnte sich darauf verlassen, daß der aufmerksame Hörer sie aufspüren würde; der schlanke Klang der Instrumente machte das möglich.
Ich meine also: nicht nur das Orchester sollte werkgerecht (also mit der richtigen Ausbildung sowie den richtigen Instrumenten etc.) spielen, sondern auch das Publikum kann sich werkgerecht verhalten, WENN es an Mozarts Werk interessiert ist. Nicht um anderen zu genügen, sondern aus eigenem Interesse daran, was diese Musik einem sagen will, und welche Schönheiten darin stecken. Man kann sich ja selbst fragen: bin ich an den Aussagen der Musik, an den Intentionen und dem Klangreichtum dieser Werke interessiert, oder will ich mich nur berauschen lassen von dem, was im CD-Regal und in den Opernhäusern momentan als Mozart verkauft
wird? Möchte ich den Anforderungen eines Werkes gerecht werden oder nicht?
Das soll keineswegs eine Aufforderung sein, lediglich meine persönliche Feststellung, dass auch das Publikum, sofern es Interesse daran hat, sich werkgerecht verhalten kann. Das möchte ich gerne zur Diskussion stellen.
LG,
Hosenrolle1