Hallo!
Diesen Thread, den ich bereits an andere Stelle platziert habe, möchte ich gerne auch hier in einer leicht bearbeiteten Version zur Diskussion stellen.
LG,
Hosenrolle1
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Ich möchte in diesem Beitrag gerne speziell über das Libretto, mit dem ich teilweise Probleme habe, reden, und weniger über die Musik.
Bekannt ist, dass die Librettistin sehr viele Elemente aus dem Originalmärchen der Gebrüder Grimm geändert hat, womit ich allerdings gut leben kann.
Ich habe mir das Libretto öfter ohne Musik und Gesang durchgelesen, und dabei ist mir aufgefallen, dass der Hänsel in der Opernversion eigentlich ziemlich unsympathisch ist. Warum, das möchte ich jetzt versuchen zu erklären.
Zunächst ein paar Sätze von und über Hänsel, die etwas liebevolles, fürsorgliches, brüderliches an sich haben, aus der Grimmschen Vorlage:
- "Still, Gretel", sprach Hänsel, "gräme dich nicht, ich will uns schon helfen."
- "Sei getrost, liebes Schwesterchen, und schlaf nur ruhig ein, Gott wird uns nicht verlassen"
- "so nahm Hänsel sein Schwesterchen an der Hand und ging den Kieselsteinen nach"
- "Hänsel tröstete sein Schwesterchen
Ich finde, dass diese Beispiele deutlich machen, dass Hänsel seine Schwester wirklich lieb hat, für sie da ist, wenn sie weint oder Angst hat.
Im gesamten Libretto der Oper habe ich gerade mal EINEN EINZIGEN Satz gefunden, der freundlich ist, nämlich:
„Gretelchen, drücke dich fest an mich, ich halte dich, ich schütze dich!“
Ansonsten wird er eigentlich, für mein Empfinden, als ein protziger Lausbub porträtiert, der eine große Klappe hat, aber sonst gar keine Funktion zu haben scheint ausser sich über seine Schwester lustig zu machen oder an ihr herumzumeckern.
So verspottet er Gretel im Tanzduett:
Geh weg von mir, geh weg von mir,
ich bin der stolze Hans!
Mit kleinen Mädchen tanz' ich nicht,
das ist mir viel zu dumm!
Später, als das einzige Essen, in Form eines Milchtopfes, zu Bruch geht, und die Mutter erschüttert fragt "Was nun zum Abend kochen?", ist ihm der Ernst der Lage nicht klar, und …
Sie besieht sich ihren mit Milch begossenen Rock, Hänsel kichert verstohlen
Im Wald, als es anfängt dunkel zu werden, kommt eine Stelle, die ich bis heute nicht verstehe, offenbar möchte Hänsel seiner Schwester noch zusätzlich Angst machen und sagt folgendes:
Horch, wie es rauscht in den Bäumen!
Weisst du, was der Wald jetzt spricht?
"Kindlein, Kindlein," fragt er, "fürchtet ihr euch nicht?"
Als er Gretel sagt, dass sie sich verlaufen haben, und sie noch mehr Angst bekommt, kommt dann ein tröstendes Wort, wie im Märchen? Nimmt er sie vielleicht an die Hand? Mitnichten!
Was bist du für ein furchtsam' Wicht!
Ich bin ein Bub' und fürcht' mich nicht!
Auch danach kommen noch relativ barsche Antworten:
"Ach, Gretel, geh, sei doch gescheit!"
"Gretel, du musst beherzter sein!"
Vor dem Knusperhaus geht es weiter:
"Knusp're nur zu
und lass mich in Ruh"
Und gegen Ende, als die Kuchenhülle von den Kindern abgefallen ist, und darum bitten, berührt zu werden, damit sie vollends befreit sind vom Bann der Hexe, zeigt sich, wie „beherzt“ er ist:
"Rühr du sie doch an, ich trau' mir's nicht!"
Ich finde es schade, dass die Librettistin aus dieser Figur so etwas gemacht hat, und überhaupt von der ursprünglichen Geschwisterliebe, die sich auch in Sätzen wie
- „Als es Mittag war, teilte Gretel ihr Brot mit Hänsel, der sein Stück auf den Weg gestreut hatte.“
- "Lieber Gott, hilf uns doch", rief sie aus, "hätten uns nur die wilden
Tiere im Wald gefressen, so wären wir doch zusammen gestorben!"
zeigt, nicht mehr viel übrig geblieben ist. Gretel teilt ihr Brot - in der Oper undenkbar, da reißt man sich noch die eh schon im Überfluss vorhandenen Lebkuchen aus der Hand, wenn auch nur halb im Spiel.
Wie toll würde die Musik speziell im Abendsegen oder der Traumpantomime erst wirken, wären die Titelfiguren so wie im Märchen!
Eine andere Sache, über die ich mir oft Gedanken mache, ist die Dramaturgie des Stückes.
Ich finde den Aufbau der ersten zwei Akte wirklich toll: man sieht die Eltern, die am Ende des 1. Aktes hinauslaufen, um die Kinder zu suchen.
Statt sie aber bei der Suche zu zeigen (vielleicht in einer Art Parallelmontage zu dem, was die Kinder erleben), sieht man sie bis zum Ende der Oper nicht mehr. Der Zuschauer ist ständig bei den Titelfiguren. Diese Idee finde ich sehr gut – aber was ich am Ende des 3. Aktes sehr störend finde ist, dass die Eltern die Kinder tatsächlich
finden! Was wäre, wenn die Hexe noch leben würde und Gretel im Ofen wäre? Würde die Hexe sie auch verzaubern? Was würde passieren?
Zuerst diese ganze Dramatik, dieser wuchtige Hexenritt, der zeigt, dass dieser Wald riesig, bedrohlich, gefährlich ist … und dann finden die Eltern ihre Kinder sofort, noch dazu beim Hexenhaus? Damit wird, meiner Meinung nach, die ganze Dramatik, die sich im 1. und 2. Akt aufgebaut hat, fast schon ad absurdum geführt. So auf die Art „wäre eh nix passiert, die eltern kommen schon“.
Der Vater singt in seiner Hexenballade noch „Um Mitternacht, wenn niemand wacht, dann reitet sie aus zur Hexenjagd“. Ich finde das ziemlich grausig. Man stelle sich vor, dass man so ein Kind ist, und in der Nacht kommt dann, womöglich auch noch im Nebel, von dem die Rede ist, so eine Hexe und holt sich einen.
Aber wenn das Haus eh so leicht zu finden ist, wieso gehen die Eltern nicht einfach in den Wald und holen sie sich zurück? Auf alle Fälle fände ich es besser, wenn Hänsel und Gretel, wie auch im Märchen, völlig auf sich alleine gestellt sind, und nach dem Tod der Hexe auch alleine wieder zurückfinden, und nicht die Eltern sofort beim Knusperhaus aufkreuzen.
Eine weitere Überlegung: eventuell ist es Zufall, dass die Eltern beim Hexenhaus ankommen. Angenommen, der Vater wüsste, wo das Hexenhaus steht, er würde er wohl zielstrebig dort hin gehen. Tatsächlich aber kommt er erst am nächsten Morgen dort an, man kann also davon ausgehen, dass die Eltern die ganze Nacht und den ganzen Morgen gesucht haben. Hänsel und Gretel aber sind vergleichsweise schnell beim Hexenhaus gelandet.
Das Problem: der Vater weiß ja, dass die Hexe am Ilstenstein wohnt. Wieso braucht er dann viel länger als die Kinder dorthin?
Hier stellt sich auch die Frage, ob der Hexenritt quasi in Echtzeit abläuft, oder ob ein Zeitsprung nach vorne gemacht wird.
Eine andere Sache, die mich immer schon ein bisschen gestört hat, war die Figur der Hexe in der Oper. Sie ist mir viel zu harmlos, und auch sie hat einige unlogische Stellen. Ich würde sogar soweit gehen zu sagen, dass das Gerede ÜBER die Hexe im 1. Akt gruseliger ist, als die Hexe selber. (Wie gesagt, es geht um die Worte und die Handlungen der Hexe, nicht um die Musik, denn auch hier hat Humperdinck ein paar schöne Effekte parat).
An dieser Stelle möchte ich zwei kurze Stellen aus dem Originalmärchen zitieren (die leider aus den meisten Kinderbüchern rausgeschnitten werden):
- "Hänsel mag fett oder mager sein, morgen will ich ihn schlachten und kochen"
- Wenn eins in ihre Gewalt kam, so machte sie es tot, kochte es und aß es, und das war ihr ein Festtag. Die Hexen haben rote Augen und können nicht weit sehen, aber sie haben eine feine Witterung wie die Tiere und merken es, wenn Menschen herankommen.
Das sind schon ziemlich harte Worte, finde ich. Aber ich war immer der Auffassung, dass die Hexe wirklich böse sein muss, und gruselig, damit die Erlösung (und
die Musik, die mit ihr einhergeht), umso kraftvoller wirken kann. Die Hexe darf keine komische Figur sein, sie muss, wie im Original auch, eine gruselige, grausige alte Frau sein, die beinhart dafür sorgt, dass sie fressen kann, indem sie Hänsel grob anpackt und in den Stall sperrt, und zu Gretel Sachen sagt wie „Spar dir dein Geplärre“.
Das einzig Gemeine, was die Hexe in der Oper macht, ist, dass sie Gretel im Haus den Tisch decken lässt, für ein Mahl, in dem sie selbst verspeist werden soll. Nur wird das kaum jemand sofort mitbekommen, am allerwenigsten die jüngeren Zuschauer. Die Hexe sagt eigentlich auch nur eine Sache, die ein bisschen morbid ist,
nämlich „Na schlaf nur brav, du gutes Schaf, bald schläfst du deinen ew´gen Schlaf“. Aber von Schlachten, Kochen etc. ist keine Rede. Für mich wirkt es fast so, als ob da zwei Geschwister, a la Max und Moritz, einer alten, leicht verwirrten Hexe einen Streich spielen. Keine Spur mehr vom Überlebenskampf des Originals. Und wohlgemerkt, hier geht es NICHT um eine bestimmte Inszenierung, sondern um das Werk selbst, wie es in der Partitur steht.
Störend finde ich auch die kurze Zeit, in der Hänsel und Gretel bei der Hexe sind. Im Märchen müssen sie einen Monat lang bei ihr bleiben, in der Oper ist der Spuk relativ schnell vorüber. Deswegen kommt es mir auch sehr komisch vor, dass die Hexe Hänsel „mästen“ will, ihm aber lediglich eine oder zwei Rosinen in den Mund steckt, um dann sofort zu fühlen, ob er dicker geworden ist. Sie sagt ja selbst noch in ihrem Auftrittslied „Ich will ihn füttern und nudeln, mit allerhand vortrefflichen Sachen“. Was spricht dagegen, diese vortrefflichen Sachen aus dem Haus holen zu lassen? Wieso nur „Bring Rosinen und Mandeln her“? Diese Szenen wirken auf mich heute ein wenig
so, als ob man nur schnell ein paar Elemente aus dem Originalmärchen hat einbauen wollen, nach dem Motto "Die Hexe fühlt nach dem Finger, das nehmen wir mit rein", ohne Rücksicht darauf, dass das in der Grimmschen Fassung mehr Sinn macht.
Es ist schon klar, dass Wette sehr viele Grausamkeiten, wie z.B. die Stiefmutter, die die Kinder böswillig aussetzt, umgeändert hat, damit kann ich auch leben. Aber dass die Hexe derartig unlogisch handelt (fast so, als stünde sie unter Zeitdruck, weil die Oper bald aus ist) nimmt mir beim Tod derselben doch irgendwie das Gefühl, dass eine große Gefahr vorüber ist. Der Vater singt noch „Vom Teufel selber hat sie Gewalt“ … und dann lässt sie einfach so ihren Zauberstab herumliegen, damit Gretel Hänsel entzaubern kann.
Und wo es schon um Grausamkeiten geht: die Librettistin brachte es also nicht übers Herz, dass die Eltern, speziell die Mutter, die Kinder absichtlich zum Sterben im Wald aussetzen, und machte die Szenerie etwas "familiärer" und milderte das ab. Warum aber ändert sie dann auch, wie oben schon ausführlich beschrieben, der Verhältnis der beiden Geschwister ab, und zwar von familiär hin zu Grob- und Gemeinheiten? DIESES Element des Originalmärchens hätte sie ohne weiteres übernehmen
können. Nun stehen die Eltern gut da, aber die Kinder nicht.
Natürlich gibt es auch im Originalmärchen ein paar Logiklücken (wieso z.B. kommen die Titelfiguren auf dem Rückweg an ein großes Wasser, über das sie nicht drüber können? Auf dem Hinweg war das doch auch nicht da? Und wieso mästet die Hexe Gretel nicht, wenn sie doch vorhat, sie ebenfalls zu fressen, und gibt ihr nur Krebsschalen zu essen?). Aber das sind sicher Kleinigkeiten, die der Dramaturgie des Märchens nicht abträglich sind; schlussendlich geht es hier um zwei Geschwister, die sich liebhaben, füreinander da sind und gemeinsam mehrere schwierige Situationen meistern - Hänsel sorgt dafür, dass sie nach Hause zurückfinden, Gretel wirft die Hexe in den Ofen etc). Und das kommt mir in der Oper eindeutig zu kurz.
Als ich diese Oper kennengelernt und meine ersten Aufnahmen auf CD und Vinyl gekauft habe, fielen mir all diese Dinge natürlich nicht auf. Ich war noch völlig
begeistert über die ganze Sache. Die Begeisterung über die Musik ist immer noch da, aber ich sehe die Handlung nicht mehr so unkritisch wie früher.