Ein Fest für die Sinne: „Alcione“ an der Opéra comique in Paris, 04.05.2017

  • Es gibt mittelprächtige, gute und sehr gute Opernaufführungen. Und es gibt die Sternstunden, bei denen man sich wünscht, die Musik würde nie ein Ende nehmen. So erging es mir vorgestern beim Besuch von Marin Marais' wahrscheinlich seit der Entstehungszeit nicht mehr auf einer Bühne aufgeführter Oper „Alcione“. Der Stoff ist ein mythologischer, ganz typisch für die barocke Tragédie lyrique: Die Götter Pan, für Kampf und Krieg stehend, und Apollo, als Repräsentant des Friedens, tragen einen musikalischen Wettstreit aus, der vom Berggott Tmole zugunsten des Apollon entschieden wird. Zur Feier des Friedens erzählt Apollon die Geschichte des Liebespaares Alcione und Ceix, die nach ihrem tragischen Tod von Neptun wieder ins Leben zurückgerufen und als Begründer des Geschlechts der Halcyonen mit der Gabe ausgestattet wurden, das stürmische Meer zu befrieden.


    Um Barock-Opern heute auf die Bühne zu bringen, gibt es unterschiedlichste Ansätze. Das Regieteam unter Louise Moaty hat einen ganz eigenen Zugang gewählt: Auf Kulissen wurde fast völlig verzichtet, die Handlung fand auf einer überwiegend leeren Bühne inmitten der Bühnenmaschinerie statt, auf der nur einzelne Elemente wie stilisierte Torbögen den Palast während der Hochzeitsfeier oder Stoffbahnen die Segel auf dem Schiff andeuteten. Dennoch war diese Aufführung auch ein Fest für das Auge, denn die Handlung wurde von einer Gruppe von Akrobaten in einer sehr beeindruckenden Choreographie begleitet. Dabei wirkte nichts künstlich oder des bloßen Effekts willen hinzugefügt, wie ich es bei manchen Produktionen der katalanischen Gruppe La Fura dels Baus empfunden habe. Die Akrobaten waren Teil der Handlung, und auch die Solisten und der Chor waren in diese Choreographie integriert, so dass es sich als ein organisches Ganzes darstellte. Wie großartig der Effekt, wie artistisch diese akrobatischen Einlagen waren – manchmal wurde einem Angst und Bange wenn die Körper 10 Meter hoch durch die Luft flogen – , davon geben diese Trailer nur einen sehr unvollkommenen Eindruck:


    Aus den Proben: https://youtu.be/_wkaC5c-Tm0


    Aus der Aufführung: https://youtu.be/ey8GjqiXfKU


    Zur Musik von Marais kann ich nur eines sagen: sie ist ganz wunderbar. Und das gilt nicht nur für die berühmte Sturm-Szene aus diesem Stück. Wie immer, wenn ich eine französische Barock-Oper höre, frage ich mich in meiner Begeisterung: Wie kann man von dieser Musik nicht verzaubert sein? Wie kann man sie als langweilig empfinden? In diesem Falle trug sicherlich auch der Mann am Pult dazu bei, dass es ein unvergesslicher Abend wurde: Jordi Savall dirigierte sein Ensemble Le Concert des Nations. Es gibt sicherlich keinen lebenden Musiker, der mehr für die Musik Marin Marais' getan hat als Savall, sei es als Gamben-Spieler, sei es als Dirigent. Savall hat diese Oper schon für die CD eingespielt, und wie man nachlesen kann, war es ihm ein Bedürfnis, sie auch einmal auf die Bühne zu bringen. Zu sehen mit welcher Ernsthaftigkeit, aber auch Freude er dirigiert hat, war ein Erlebnis. Und auch den Musikern des Orchesters war es jederzeit anzusehen, dass sie hier keinen Dienst ableisteten, sondern die Musik wirklich liebten und die Aufführung genossen.


    Unter den Sängerinnen und Sängern ragte die „Alcione“ heraus: Lea Desandre, die ich in Carusos Thread „Neue Stimmen“ noch vorstellen werde. Nicht nur sängerisch, auch darstellerisch hat sie die erst zärtlich Liebende und dann am Tod des Geliebten verzweifelnde Tochter des Aeolus großartig verkörpert. Ihr Partner Cyril Auvity als Ceix blieb etwas hinter ihrer Leistung zurück, während das übrige Solisten-Ensemble ebenso wie der Chor wenig zu wünschen übrig ließen.


    Die Opéra comique war für diese Vorstellung ausverkauft, und der Beifallssturm nach dem Fall des Vorhangs war frenetisch. Wäre es nicht etwas weit nach Paris, ich würde mir diese Aufführung mindestens noch einmal anschauen. Zum Glück ist eine Aufzeichnung ab heute Abend auf Culturebox verfügbar. Ich hoffe sehr, dass eine Veröffentlichung auf Blu-ray folgen wird.

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.