NAUMANN, Johann Gottlieb: LA PASSIONE DI GESÙ CRISTO

  • Johann Gottlieb Naumann (1741-1801):
    LA PASSIONE DI GESÙ CRISTO
    (Die Leidensgeschichte von Jesus Christus)
    Oratorium (azione sacra) für Soli, Chor und Orchester in zwei Teilen - Libretto von Pietro Metastasio


    Uraufführungsdatum und -ort unklar (s.u. Werkinformationen)



    DIE PERSONEN DER HANDLUNG


    Pietro / Petrus (Tenor)
    Maddalena / Maria Magdalena (Mezzosopran)
    Giovanni / Johannes (Tenor)
    Giuseppe / Joseph von Arimathia (Bass)



    INHALTSANGABE


    ERSTER TEIL


    Nach der auf das dramatische Geschehen einstimmenden Sinfonia meldet sich Simon Petrus mit einem ausgedehnten Accompagnato-Rezitativ und einer anschließenden Arie zu Wort: Der Jünger Jesu hat Gewissensbisse, weil er seinen Rabbi verraten hat:

    Eiskalt wird mir vor Angst, und ich glühe vor Scham.
    Jeder Vogel, den ich höre, klagt mich der Unbeständigkeit an.

    Er stellt sich auch die Frage, ob Jesus überhaupt noch lebt, denn die Natur zeigt ihre Anteilnahme am Geschehen mit einer beängstigenden Wucht: Die Erde zittert, die Sonne verbirgt sich und die „gefühllosen Felsen“ zerbersten - die Gesetze der Natur gelten nicht mehr.


    Petrus sieht einige traurige Leute auf sich zukommen und hofft, von ihnen nähere Einzelheiten über das bisher Geschehene, von ihm aber nicht miterlebte, zu erfahren. Er befürchtet aber auch, dass er vom Tode seines Herrn und Meisters hören wird. Tatsächlich bestätigt das die Gruppe chorisch, die jedoch zusätzlich über die „unbesonnene Menschheit“ klagt und zur Trauer aufruft.


    Aus der Gruppe lösen sich Johannes, Magdalena und Joseph von Arimathia und Magdalena gibt in einer Arie (mit einer solistisch geführten Violine) zu, die Erlebnisse noch nicht verarbeitet zu haben. Jesu Lieblingsjünger, Johannes, beneidet Petrus, dass er nicht mit ansehen musste, wie ihr Meister gegeißelt wurde, wie ihm die Gottlosen das Haupt mit einer Dornenkrone so schwer verletzten, dass das Blut über sein Gesicht ran und sie ihm sogar noch unter Spottrufen einen Purpurmantel um die Schulter legten.


    Joseph von Arimathia ergänzt diesen Bericht mit dem Hinweis, dass Jesus das Kreuz nach Golgatha selber tragen musste und dass die Kriegsknechte ihm, Joseph, nicht erlaubten, dem unter der Last des Kreuzes ächzenden Jesus zu helfen. Johannes übernimmt wieder den Erzählfaden und schildert sehr anschaulich vom Geschehen auf der „Schädelstätt“, wo Kriegsknechte Jesu die Kleider vom Leib rissen, andere ihm Nägel in die Gliedmaßen schlugen, und das Volk alles belustigt und doch auch hasserfüllt kommentierte. Seiner Mutter, so wirft nun Magdalena ein, gelang es nicht, zu ihrem Sohn vorzudringen, denn die Soldateska hielt sie in Schach. Aber als
    das ganze Gewicht seiner Glieder die durchbohrten Hände belastete, [...] lief [sie] hinzu, im Begriff, ihn zu stützen, umarmte sie den Stamm des Kreuzes, weinte, küsste ihn, und unter

    den traurigen Küssen floss zugleich vermischt das Blut des Sohnes und das Weinen der Mutter.

    Schließlich, weiß noch Joseph von Arimathia, führte Jesus seine Mutter mit seinem Lieblingsjünger Johannes zusammen: Er soll ihr Sohn, und sie seine Mutter sein. Petrus nennt Johannes in einer Arie einen glücklichen Sohn und bedauert zugleich, dass ihm wegen seines unwürdigen Vergehens diese Ehre nicht zuteil geworden ist. Johannes berichtet erschüttert, dass der Gekreuzigte Durst bekundete und ihm die Römer als letzten Trank Essig reichten; kurz darauf starb Jesus. Magdalena und Petrus machen sich im Duett Vorwürfe, weil sie ihrem Meister aus menschlicher Schwachheit heraus nicht helfen konnten. Der Chor beendet den ersten Teil und ruft die Sterblichen zur Dankbarkeit auf, denn der blutige Tod des Erlösers wäscht alle Schuld der Menschen von der Seele und bringt damit Heil den Gerechten wie es dem Sünder den Tod bringt.



    ZWEITER TEIL


    Diesem Teil geht kein instrumentales Vorspiel voraus, sondern beginnt mit einem Rezitativ, in dem Petrus sich das weitere Geschehen nach Jesu Tod erzählen lässt: Joseph hat Jesus' Leichnam in ein Grab legen lassen, das ihm schon seit längerer Zeit gehört und er ließ den Eingang auch mit einem Marmorstein verschließen. Petrus würde das Grab am liebsten sofort aufsuchen, doch Magdalena erinnert ihn an den schon beginnenden Sabbat mit dem mosaischen Gebot, sich aller Beschäftigung zu enthalten. Johannes fügt noch hinzu, dass die Obrigkeit das Grab bewachen lässt, weil man einen Diebstahl des Leichnams und die behauptete Auferstehung von den Toten verhindern will. Und der Jünger fügt hinzu, dass er von der Wiederkunft Jesu überzeugt ist. Aber er wird dann mit der Geißel und nicht mit Palmenzweigen kommen, er wird nicht willkommen sein, sondern die Zerstörung des Tempels furchtbar rächen.


    Johannes' Blick in die Zukunft nimmt Joseph von Arimathia auf, indem er an die Prophezeiung von der Zerstörung Jerusalems und des Tempels, mit der Vertreibung der Priester und der Verschleppung der israelitischen Jungfrauen erinnert. Petrus sieht das als Strafe für das Volk an, weil es Jesus nicht als Gottessohn erkannt hat und zählt dann dessen Wundertaten als Beweis für seine Göttlichkeit auf: Da ist die Erweckung des Lazarus, dann die Verwandlung von Wasser in Wein bei der Hochzeit zu Kana, nicht zu vergessen die Speisung der Fünftausend und der Gang über das Wasser des Tiberias.


    Magdalena entgegnet, Petrus bestätigend, dass an einem Tag wie heute jedes ungläubige Herz doch zum Glauben finden müsse, und Johannes ergänzt das Gesagte mit einer Beobachtung, die er beim Tod Jesu gemacht hat, die alte Weissagungen zu bestätigen scheinen: Der Vorhang im Tempel (vor dem Allerheiligsten) zerriss und der Himmel verdunkelte sich. Magdalena klagt, dass Gott nun dem menschlichen Blick entrückt sei und alle ohne Jesu Führung orientierungslos wirken:

    Für die irrenden Schritte/ist der Weg ungewiss,/keinen Glanz haben/die Sterne für uns.
    Wir sind Seefahrer/ohne Steuermann,/und wir sind Schafe/ ohne einen Hirten.

    Doch Petrus widerspricht ihr: Sie sind nicht führungslos, auch nicht alleine, denn Jesus hinterließ tausende und aber tausende Gleichnisse und Erinnerungen an sein Wirken, die fortdauern und als Leitbild allen Gläubigen dienen werden. Und er, Petrus, ist sich sicher, dass der Meister stets unter ihnen sein wird, und dass er wiederkommt, wenn er die Hoffnungen der Gläubigen wanken. Diese Auffassung können Magdalena und Johannes teilen, aus Tränen der Angst und Hoffnungslosigkeit erwachsen die Tränen der Freude und des Heils; Jesu Tod und Grab werde zum Wallfahrtsort und das Kreuz werde zum Siegeszeichen.


    Den Schlussgesang stimmt wieder der Chor an:

    Heilige Hoffnung, du bist für unsere Seelen die Dienerin der Göttlichen Gnade.
    Du entflammst die Liebe, du lässt den Glauben wachsen,
    du beseitigst jede Furcht, lässt neue Hoffnung sprießen unter unseren Tränen und lehrst uns,
    auf den ungewissen Pfaden des menschlichen Lebens der himmlischen Hilfe zu vertrauen.


    INFORMATIONEN ZUM WERK


    Der Text des hier vorgestellten Oratoriums stammt aus der Feder von Pietro Metastasio (1698-1782) und ist eines von sieben Libretti, die der Autor zwischen 1730 und 1740 für den Wiener Hof textete, wobei fünf dieser Texte ausdrücklich für den Gebrauch in der Karwoche bestimmt waren. Es wurde schnell - und das ist eine Parallele zu Metastasios Opernlibretti - als idealer Textvorwurf akzeptiert und von vielen Komponisten vertont, beispielsweise von Caldara, Jommelli, Albrechtsbeger, Salieri, Holzbauer, Mysliveček, Paisiello, Reichardt und Johann Gottlieb Graun. Metastasio stellt nicht das biblische Passionsgeschehen dar, sondern lässt die Ereignisse von drei Personen (Maria Magdalena, Jesu Lieblingsjünger Johannes und Joseph von Arimathia) einer vierten, nämlich Simon Petrus („du bist der Fels“), erzählen. Damit vermeidet er die Darstellung des Gottessohnes und folgt damit den Regeln der aristotelischen Poetik, wonach blutige Ereignisse nur als Botenbericht zu erwähnen sind.


    Simon Petrus, der seinen Herrn und Meister nach dessen Gefangennahme verleugnet und sich dann aus Scham zurückgezogen hatte, war folglich weder bei der Verhandlung vor Pontius Pilatus, noch bei der Kreuzigung auf Golgatha, der Schädelstätte, zugegen und somit ein idealer Empfänger des Erlebnisberichtes.


    Die Frage der Uraufführung dieses Oratoriums ist etwas verworren: Im Beiheft der cpo-Aufnahme, die für diese Inhaltsangabe benutzt wurde, heißt es, dass Neumann den Kompositionsauftrag als sechsundzwanzigjähriger, folglich 1767, in Padua erhielt, wo er sich zu Studienzwecken aufhielt. Auftraggeber war ein gewisser Don Giuseppe Ximenes d'Aragona (der übrigens 1771 dem damals fünfzehnjährigen Wolfgang Amadeus Mozart einen Kompositionsauftrag erteilte, der daraufhin „La Betulia liberata“ von Metastasio vertonte); nach Wikipedia war es für Palermo bestimmt und führte zur Aufnahme des Komponisten in die Bologneser „Accademia Filarmonica“. Das 1768 gedruckte Libretto für Naumanns „La Passione di Gesù Cristo“ (und damit ein sicherer Aufführungsnachweis) nennt das Herz-Jesu-Fest (das man am Freitag der dritten Woche nach Pfingsten begeht) als Tag der Uraufführung, während Naumanns Biograph August Gottlieb Meißner (1753-1807) schon den Juli 1767 („zu einem Marien-Feste, in der Jesuitenkirche“) erwähnt. Der Uraufführungsort wird an keiner Stelle erwähnt, der Booklet-Text lässt aber auf Padua schließen:
    Inzwischen war Naumann an den sächsischen Hof zurückgerufen worden,
    um „La clemenza di Tito“ als Festoper anlässlich der bevorstehenden
    Hochzeit des jungen Kurfürsten zu komponieren. Wenig später erklang
    „La passione di Gesù Cristo“ auch in Dresden, ohne dass sich aus dem
    1769 gedruckten Textbuch die genauen Umstände ermitteln lassen.

    Demnach wäre „La passione di Gesù Cristo“ erst 1769 in Dresden aufgeführt worden. Wikipedia nennt dagegen den 18. April 1767 als Tag der Uraufführung und die Hofkapelle Dresden als Ort des Ereignisses. Auch das umfangreiche Lexikon M(usik) in G(eschichte) und G(egenwart) nennt das Jahr 1767 ohne nähere Angaben. Übrigens hat Naumann auf besonderen Wunsch des Kurfürsten Metastasios Text 1787 nochmals vertont, doch wurde diese Komposition, grundverschieden von der ersten Fassung, nach der Uraufführung am Karsamstag 1787 nie wieder gespielt. Prof. Silke Leopold nennt in ihrem Oratorienführer die Zweitfassung für die musikalisch reichhaltigere.


    Die Musik Naumanns orientiert sich an dem damals in Italien üblichen Oratorienstil (der in Mozarts „La Betulia liberata“ auch drei Jahre später noch aufgegriffen wird). Für die Gesangsstimmen sah Naumann zunächst ein Solisten-Quartett vor, darunter ein Soprankastrat für die Partie des Johannes, die er aber schon für die Uraufführung einem zweiten Tenor zuwies. Das Oratorium wird von einer einsätzigen Sinfonia in einem mäßigen Tempo eingeleitet, die an der Stelle eines langsamen Satzes lediglich ein von Violinen und Viola konstant piano gespielten Abschnitt aufweist und danach den Anfangsteil wiederholt. Die Arien sind so gestaltet, dass nach dem „Da capo“ lediglich die zweite Hälfte des ersten Teils zu wiederholen ist. Zwei dieser Solo-Stücke sind besonders auffällig vertont (und sind damit auch ein Beweis, dass sich intellektueller Gehalt und instrumentale Virtuosität nicht unbedingt ausschließen müssen): In Magdalenas Arie „Vorrei dirti il mio dolore“ (Ich möchte gerne meinen Schmerz schildern) wird äußerst effektiv eine Solo-Violine eingesetzt, während Petrus' „Se a librarsi in mezzo all'onde“ (Wenn ein kleiner Junge beginnt) das Fagott eine herausragende Partie zu gestalten hat und mit dem Sänger wetteifert.



    © Manfred Rückert für Tamino-Oratorienführer 2017
    unter Hinzuziehung dieser cpo-Aufnahme:

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    MUSIKWANDERER