Jean Louis FLORENTZ - Der Komponist, der in Düsentriebwerken Blumen erkannte

  • Der französische Komponist Jean-Louis Florentz ist eine Entdeckung wert! Er komponierte einige der eigenartigsten und eindrucksvollsten Orgelwerke der gesamten einschlägigen Literatur, schuf einige starke Orchester- und Chorwerke und ein komplexes, unsagbar schönes Werk für Violoncello solo.


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    Die biografischen Daten sind schnell referiert: Geboren wurde Florentz am 19. Dezember 1947 in Asnières-sur-Seine. Er studierte Naturwissenschaften, Arabische Literatur und Musikethnologie. Zusätzlich belegte er zwischen 1971 und 1975 am Pariser Konservatorium Komposition bei Pierre Schaeffer, Olivier Messiaen und Antoine Duhamel. Messiaen beeinflusste ihn durch die Universalität der Musik, die in Messiaens Vorstellung nicht allein Weltsprache war, sondern auch die Brücke zwischen Mensch und Natur – wir erinnern uns, daß Messiaen nicht allein Vogelrufe verwendete, sondern auch aus dem Geräusch von Wasserfällen Akkorde destillierte. Schaeffer beeinflusste Florentz durch die Idee, daß Geräusche Musik sein können.
    Als Ethnologe unternahm Florentz ausgedehnte Expeditionsreisen auf dem afrikanischen Kontinent, die er für linguistische und ethnomusikalische Studien nützte. In zahlreichen seiner Werke hat die Musik der nordafrikanischen Völker ihre Spuren hinterlassen – seltener als direkte Melodiezitate, sondern eher (auch hier wird der Einfluß Messiaens spürbar) als eine Art der Formulierung, als Modus, als rhythmisches Muster. Die außereuropäische Musik ist kein folkloristisches Einsprengsel, vielmehr integriert Florentz ihre Strukturen in das eigene Vokabular.
    Florentz‘eine enge Freundschaft mit dem Organisten Olivier Latry führte zu mehreren großen Orgelwerken, in denen die Möglichkeiten des Instruments auf teilweise neuartige Weise genützt werden und ihm nicht nur orchestrale Klänge entlocken, sondern manchmal auch solche, die an elektronische Klangerzeuger und ihre Sphärenmusik denken lassen.
    2004 starb Jean-Louis Florentz im Alter von nur 56 Jahren in Paris an einem Krebsleiden.


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    Florentz hat Zeit Lebens sehr langsam und skrupulös komponiert. Gerade einmal 18 Werke hat er geschrieben, darunter die erwähnten drei großen Orgelwerke, einige Orchester- und Chorwerke, ganz wenig Kammermusik.
    In seiner Harmonik mischt Florentz undogmatisch Dur-Moll-Bindungen, Modalität und freie Akkordik. Die Akkordik ist dicht und farbintensiv, aber selten im herkömmlichen Sinn kontrapunktisch. Öfter dient die Akkordik dazu, eine zentrale melodische Linie zu färben – ein Verfahren, das auch Messiaen anwendet; Florentz schreibt allerdings stärker eine Schein-Kontrapunktik, löst also die Akkordik in kleine, ineinandergreifende Motive und/oder Tonrepetitionen auf. Dadurch erhält der Klang ein ganz eigentümliches irisierendes und flimmerndes Leuchten. Seine Melodiebildungen gehen von markanten zentralen Tonfolgen aus, die mit Rankenwerk und Girlanden ausgeziert werden. Stark vereinfacht gesagt, hat man oft den Eindruck einer Folge von länger ausgehaltenen Tönen, auf die schnelle, tonumspielende oder Töne aneinanderbindende Melismatik folgt. Es gibt bei Florentz allerdings auch scheinbar unbewegte Flächen, die zur Umgebung einen starken Kontrast bilden; selten sind sie rein kontemplativer, öfter, in der Funktion einer Verzögerung, spannungssteigernder Natur.
    Florentz hat keine Nebenwerke geschrieben, und aufgrund seines langsamen, detailbesessenen Arbeitens sind alle Werke von außerordentlicher Qualität. Ich will dennoch, um ein Kennenlernen anzuregen, das Augenmerk auf drei Werke lenken.


    1) Laudes für Orgel (1983-1985): Ein gewaltiger Orgelzyklus, der in seiner Gesamtheit hörenswert ist. Die Orgel erzeugt Klänge, wie man sie kaum je zuvor gehört hat. Raffinierte Registrierungen, eine Art von Orgel-Flageolett und unglaublich fein ausgehörte Farbabstufungen machen aus dem Instrument – nein, eben kein Orchester-Surrogat, sondern einen Erzeuger einer eigenen Klanglichkeit, die allerdings mit dem herkömmlichen Charakter der Orgel auch nichts zu tun hat. Natürlich ist Messiaen Pate gestanden, aber Florentz‘ Orgelwerke sind sozusagen Über-Messiaen. Bitte unbedingt anhören: „Prière pour délier les charmes“, eine fremdartige, geradezu magisch anmutende Monodie, und „Chant des fleurs“. Die Blumen dieses Stücks sind weder Rosen noch Tulpen noch Chrysanthemen, sondern die Triebwerke einer Boeing 747, deren Geräusche Florentz in den Bereich einer abermals magischen Überhöhung führt.


    2) Les jardins d’Amenta (1994-1997): Ein etwa halbstündiges Werk für großes Orchester, inspiriert durch das ägyptische Totenbuch. Abermals stößt Florentz in die Bereiche der Klangmagie vor. Man höre sich, um einen Eindruck zu gewinnen, die Stelle von 12:05 bis 16:00 (ff – es ist schwer, einen konkreten „Ausstieg anzugeben) an: Wie Florentz mit Klangfarben umgeht, aus dem Farbenspiel Motive gewinnt, diesen immer konkretere Gestalt verleiht und schließlich einen Trompeten ruf schreibt, der ganz nahe bei Ravel ist, nur, um sofort wieder in die eigene klangmagisch beschwörende Welt zurückzufinden, hat wenig Seinesgleichen.


    3) Asmarâ (1991-1992): Ein Werk für Chor a cappella, benannt nach der Hauptstadt von Eritrea. Das Werk ist ein Melt’ân: Der Fachbegriff aus der äthiopischen Liturgie bedeutet, dass ein Text mehrfach (eventuell gekürzt) gesungen wird, aber immer wieder auf die Melodie eines anderen Textes. Florentz wählt den 8. Psalm in Ge’ez, der Sprache der äthiopischen Liturgie. Das Werk fällt völlig aus Raum und Zeit: Da sind einerseits Melodik und Thematik von der ostafrikanischen Musik geprägt, andererseits ist da die raffinierte, mit allen Möglichkeiten der Neuen Musik spielende Harmonik – und beides geht eine perfekte Verbindung ein. Und in welcher Zeit befinden wir uns? – Denn diese Harmonik der Neuen Musik scheint gleichzeitig Jahrhunderte zurückzuweisen, und, obwohl es sich um die menschlichste aller möglichen Musiken handelt, nämlich um eine, die ohne Instrument nur mit der Stimme ausgeführt wird, scheint diese Musik ein gewaltiges (kann man sagen: symphonisches?) Panorama der Landschaft zu entwerfen, nicht als Beschreibung, sondern im Sinne des Goethe-Worts „Das Land mit der Seele suchen“ – bei Goethe waren es die Griechen, bei Florentz sind es die Äthiopier.


    Leider nicht auf youtube zu finden ist das Cello-solo-Werk L’Ange du Tamaris – wer die Möglichkeit hat, heranzukommen (es gibt zB eine CD-Aufnahme davon), möge die Chance ergreifen: Auch in diesem Werk kombiniert Florentz Strukturen afrikanischer Musik mit raffinierter Harmonik – und schafft das Kunststück, daß das Solo eines Melodieinstruments den Charakter einer symphonischen Studie annimmt; der Zuhörer vergißt die extreme Reduktion und bestaunt, im Gegenteil, einen überbordenden Reichtum, der auf unvergleichliche Weise suggeriert wird.
    Florentz ist ein ausgezeichnet klingender Name, vorerst aber vor allem in Kreisen französischer Organisten – es ist an der Zeit, ihn herauszuholen. Diese Musik ist packend und zugänglich und von jener eigenartigen Schönheit und Kraft, die im Gedächtnis haften bleibt.


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    Die Werke von Jean-Louis Florentz


    Orchester (mit Soloinstrument und Singstimme)
    Ti-NDE, für Alt und kleines Orchester (1975–1976)
    Ténéré-Incantation sur un verset coranique, für Orchester (1977–1978)
    Magnificat - Antiphone pour la Visitation, für Tenor, gemischten Chor und Orchester (1979–1980)
    Les Marches du Soleil, für Orchester (1981–1983)
    Asun, Conte symphonique sur l’Assomption de Marie für Sopran, Tenor, Bariton, gemischten Chor, Kinderchor und Orchester (1986–1988)
    Le Songe de Lluc Alcari, für Violoncello und Orchester (1992–1994)
    Les Jardins d’Amenta, conte symphonique für großes Orchester (1997-1998)
    L’Anneau de Salomon, danse symphonique, für großes Orchester (1998)
    L’Enfant des Iles, poème symphonique für großes Orchester (2001)
    Qsar Ghilâne, ou Le Palais des Djinns, poème symphonique für Orchester (2003)



    Orgel
    Laudes - Kidân za-nageh, 7 Stücke für Orgel (1983–1985)
    Debout sur le Soleil, chant de résurrection für Orgel (1990)
    La Croix du Sud, poème symphonique für Orgel (1999–2000)
    L’Enfant noir, conte symphonique pour Grand-Orgue en 14 tableaux, 1 tableau: Prélude (2002) (alles Vorhandene, der Zyklus blieb unvollendet)




    Kammermusik
    Chant de Nyandarua, für 4 Violoncelli (1985)
    Second Chant de Nyandarua, litanies für 12 Violoncelli
    L’Ange du Tamaris, für Violoncello solo


    Chor a cappella
    Asmarâ, pour chœur mixte à cappella (1991–1992)

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