Verdirbt "Vergleichendes Hören" den "Spaß an der Freud" ?

  • Um es gleich vorwegzunehmen: Ohne "Vergleichendes Hören" wird man als "Rezensent" eines Klassikforums, aber auch einer Klassikzeitschrift kaum Berichte schreiben können - sie sind für uns also in vielen Fällen unentbehrlich - ein nowendiges Übel, ein Mittel zum Zweck. Allerdings habe ich die Beobachtung gemacht, dass vergleichendes Hören oft zur Folge hat, dass einem in letzter Konsequenz gar keine der verglichenen Aufnahmen gefällt. Die Idee zu diesem Thread kam mir soeben, als ich mir im Rahmen der Katalogisierung der neu zugekauften Aufnahmen einige Streichquartette mit dem Kodaly Quartett auflegte. "Eigentlich wunderschön" - so dachte ich - Aber hatte ich nicht vor einigen Wochen ein ganz anderes Urteil von mir in Erinnerung ? Genau !! - aber damals hörte ich das Werk, es handelt sich konkret um Haydns Streichquartett op. 64 Nr. 4 im Vergleich mit diversen anderen Formationen und jeweils unterschiedlicher Tontechnik. Mal dunkler, mal heller, mal silbrig-durchsichtig, mal kompakter, trockener oder halliger etc. etc.
    Jedesmal bedeutet das ein Umgewöhnen des Gehirns und nach einger Zeit hat man so etwas ähnliches wie einen "verdorbenen Magen" - wenn man die Speisenfolge eines Menüs nicht sorgfältig aufeinander abgestimmt hat.
    Daher bin ich dazu übergegangen in vielen Fällen (immer gehts nicht) mich der jeweiligen Aufnahme (Interpretation) hinzugeben , bzw "auszuliefern" Man kann auch Urteile abgeben ohne Vergleiche zu ziehen - UND man kann auch Musik hören ohne zu urteilen - fast wie in "guten alten Zeiten"
    Hat jemand ähnlicher Erfahrungen oder könnt ihr das überhaupt nicht bestätigen ?


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Hallo Alfred,


    wir können und werden die Zeit nicht zurückdrehen, die Tonaufzeichnung schafft eine neue Ausgangsbasis für den Hörer.


    Was früher unwiederbringlich vorbei war, ist nun konserviert.


    Was hätten wir für Schätze an Musik, wenn die Technik schon vor 200 Jahren entwickelt worden wäre?


    Und wir würden vergleichen und bewerten was das Zeug hält, oder?


    Leider stimmt es aber auch, unsere Achtung und der Respekt gegenüber dem Musizierenden kann darunter leiden.


    Nur das Beste zählt noch.


    Das ist wie bei der Olympiade, nur die ersten Drei haben eine bleibende Anerkennung.


    Ja, ich stimme zu, wer sich als kulturell gebildeter Mensch sieht, sollte vom Leistungsgedanken in der Musik etwas wegkommen.


    Damit verdirbt er sich dann auch nicht den Spaß an der Freud.



    Einen guten Start in die neue Woche wünscht



    Karl

  • Hallo Alfred,

    Hat jemand ähnlicher Erfahrungen oder könnt ihr das überhaupt nicht bestätigen ?


    interessantes Thema. Für mich kann ich ein solches Erleben eher nicht bestätigen. Vielleicht bin ich bei der Bewertung von Musik bzw. deren Deutungen zu kritiklos, aber beim vergleichen fokussiere ich mich zumeist auf die Dinge, die mir bei einer Aufnahme gefallen, höre also das Positive. Es gibt auch nur sehr wenig Musik, bei der es für mich eine "one and only"-Interpretation gibt, neben der ich nichts gelten lasse(n kann). Das mir - sagen wir mal - bei zwei Aufnahmen eines Werkes jeweils Teilaspekte gefallen, andere Dinge weniger, und das die weniger gefallenden Dinge dann dazu führen, dass mir keine der beiden Einspielungen nach dem Vergleich noch so recht zusagt, kommt bei mir eigentlich nicht vor.
    Der "Spaß an der Freude" leidet bei mir vielmehr durch Ermüdung, also wenn ich ein und dasselbe Werk zu häufig hintereinander höre. Gerade bei mir wichtiger Musik versuche ich das zu vermeiden, um sie mir nicht für einen längeren Zeitraum zu verleiden.


    Viele Grüße
    Frank

  • Es gibt hier offenbar eine ganze Reihe von Schwierigkeiten:
    - Ermüdungserscheinungen, wenn man ein Stück zu oft (gleich hintereinander oder innerhalb weniger Tage häufig) hört
    - Andererseits muss man normalerweise aufgrund meist nicht sehr zuverlässigen Gedächtnisses zum Vergleichen Stücke möglichst kurz nacheinander hören
    - Manche Stücke begeistern in nahezu jeder Interpretation so, dass man die für Details und Vergleiche notwendige Distanz nur schwer aufbaut.
    - Einerseits klingt aufgrund von Ermüdungserscheinungen irgendwann "alles gleich"
    - Andererseits kann man durch bewusst "analytisches" Hören vielleicht unbewusst sekundäre Details aufbauschen, um überhaupt Unterschiede wahrzunehmen.


    Ich habe in einem englischsprachigen Forum mehrmals ein Blindvergleichshören mitgemacht. Das einzige Stück, bei dem ich mehrere Runden durchgehalten habe (sonst hatte ich aufgrund der o.g. Faktoren meistens sehr schnell keine Lust mehr) war Schuberts Streichquintett. Und auch da war mein Fazit, dass die Unterschiede meistens relativ zweitrangig für die Freude an dem Stück sind. Konsequenterweise müsste ich radikal im Regal ausmisten, allerdings habe ich mir nach diesem Vergleich sogar noch zwei weitere (zu dem guten Dutzend schon vorhandener) Aufnahmen des Quintetts gekauft. ;)

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Bei mir ist das Gegenteil der Fall. Wenn ich mich in ein Stück oder eine Gesangsnummer "verbissen" habe, versuche ich immer neue Interpretationen zu finden, bis irgendwann die Quelle versiegt.
    Zwangsläufig kommen mir da auch Amateur-Aufnahmen unter, bei denen ich mich oft frage, unter welchen Zwängen die Veröffentlicher wohl leiden mögen. Die professionellen Aufnahmen jedoch bieten einen solchen Reichtum an musikalischen Feinheiten und Erkenntnissen, dass ich sie nicht missen möchte.


    Und die hier im Forum wiederbelebten Arienvergleiche sind Zeitvertreib auf höchstem Niveau. :jubel:

    Freundliche Grüße Siegfried

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  • Zitat

    habe ich mir nach diesem Vergleich sogar noch zwei weitere (zu dem guten Dutzend schon vorhandener) Aufnahmen des Quintetts gekauft.


    :hail: Sehr schön! Das nenne ich mal konsequent. :D

  • Wenn man sich in das Abenteuer "Vergleichendes Hören" stürzt, wie ich es vor nunmehr gut drieieinhalb Jahren getan habe, und wenn man darüber hinaus das Gehörte auch rezensieren soll, sind verschiedene Dinge, jedenfalls für mich, unerlässlich, zunächst eine Partitur, mit der das Hören m. E. großen Spaß macht, wenn die Partituren so reichhaltig mit musiikalischen Bezeichnungen und Anweisungen aller Art versehen sind, wie Beethoven dies in seinen Sonaten gemacht hat. Nicht umsonst hat Alfred Brendel Beethvoen mit einem Architekten verglichen. Ein Architekt kann auch nur dann ein Gebäude nach allen Regeln der Baukunst errichten lassen, wenn er eine akribische Zeichnung angefertigt hat.
    Ich habe erst durch die Arbeit mit den Sonaten erfahren, welche frappierenden mathematischen Raster in ihnen verborgen liegen.
    Der zweiten Punkt, das Schreiben, kann nur dann gelingen, wenn man das Stück in vernünftige, nicht zu lange Hörabschnitte einteilt, z. B. in der Exposition in Hauptsatz, Seitensatz und Überleitung oder in noch kleinere Abschnitte, und dann nach dem Gehörten erst schreibt. Dann hört man auch Unterschiede, vor allem in den drei Grundpfeilern, Tempo, Dynamik und Rhythmus, aber auch im Ausdruck. Für Letzteres sollte man auch sein Gefühl befragen.
    Wenn man sich ein gutes Konzept zurecht gelegt hat, dann macht das Ganze nicht nur Spaß, sondern ist auch noch spannend. Ich ertappe mich manchmal dabei, dass ich mit dem jeweilgen Pianisten spreche. Nur antwortet er leider nicht.
    Wenn ich meine jetzigen gesunndheitlichen Störungen überwunden habe und weiter hören und schreiben kann, dann habe ich noch etwa 4 Jahre des vergleichenden Hörens vor mir. Es wäre schön, wenn ich die Reise durch Beethovens Sonatenkosmos dann zu meinem 75. Geburtstag abschließen könnte.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Vergleichendes Hören bringt mich zuallererst einmal dazu, bewusster zuzuhören. Das ist schon mal gut.
    Dann aber stellt sich mir die Frage, wonach ich beim Vergleichen suche? Nach objektiven Merkmalen? Nach meiner emotionalen Reaktion? Nach Fehlern?


    Ich scheitere eigentlich fast immer beim Versuch. Irgendwann verliere ich mich emotional im Stück und werde, nicht unaufmerksam, nein hingerissen. Da ist es mit dem kühlen Vergleichen direkt Sense. Oder ich fange an, mich zu langweilen und mich nebenher mit anderem zu befassen .


    Was bleibt ist laienhaft: Es gibt Aufnahmen, bei denen ich erste Reaktion zeige, das ist dann gut und welche, wo es die zweite ist, dann ist das eher schlecht.


    Der Austausch aber bringt mich dazu, auf bestimmte Dinge zu achten und das kann mir dann so manches Werk näherbringen.

    ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.

  • Hochinteressantes Thema !


    Mir hat Vergleichshören durchaus schon Freude bereitet - aber es geht mir ähnlich wie Johannes, dass ich oft denke ich hätte zuviel gehört und gar nicht weiß wozu ich noch andere Aufnahmen wirklich brauche. Und da mir mir der analytische Musikverstand doch eher fehlt bin ich oft verunsichert......So habe ich in den letzten Wochen Szell für mich entdeckt ( und einiges erworben ) - und da ich so Gefallen an ihm gefunden habe bin ich schon am überlegen was ich ausmisten ( böser Ausdruck für verdienstvolle Aufnahmen ) sollte. Und die Übermüdungserscheinungen liegen ja an den technischen Möglichkeiten heute - zu Zeiten Bachs oder Beethovens konnte das nicht geschehen - die immerwährende Dauerverfügbarkeit von Musik gab es ja nicht. Aber wir leben im Heute - ich versuche es mit Selbstbeschränkung.


    Kalli

  • Ich kann nicht Interpretationen beliebiger Stücke miteinander vergleichen, ich könnte kein Musikkritiker sein. Beim Vergleich der Interpretationen von Stücken, die mir erstmal nichts sagen, bin ich schnell gelangweilt oder sogar genervt. Ich muß ein Stück mögen, um mehrere Versionen davon hören zu können. Bei Stücken, die ich sehr mag, kann ich mir dann aber auch 10 Versionen und mehr antun, unmittelbar hintereinander.


    Und dann ist vergleichendes Hören auch fruchtbar. Über die großen, offensichtlichen Unterschiede hinaus wie etwa stark unterschiedliche Tempi oder Rhythmen kann man dann auch recht subtile Dinge hören wie Betonungen und Klangfarben. Dann macht Vergleichen richtig Spaß.

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  • Mir kann vergleichendes Hören gar nicht den "Spaß an der Freud" verderben, weil ich es nie mache :untertauch: . Ich habe einfach keine Lust dazu, ein Stück mehrere Male hintereinander zu hören, und schon gar nicht Auszüge davon. Und da Musikhören bei mir durch den Genuss und die Freude daran motiviert ist und nicht durch eine analytische Herangehensweise, sehe ich auch keinen Grund, das zu ändern.


    Wenn ich überhaupt in kürzeren Abständen ein gleiches Musikstück mehrmals höre, dann sind es Opern auf DVD/Bluray. Da interessieren mich aber primär die unterschiedlichen szenischen Umsetzungen.

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.


  • :hail: Sehr schön! Das nenne ich mal konsequent. :D


    Es ist nicht so, dass ich keine Begründung dafür hätte, allerdings hängt die nicht an besagtem Vergleichshören. Die Aufnahmen, die ich (preiswert) gekauft habe, sind ein "Klassiker", an den ich eher nicht so positive Erinnerung, als ich sie vor Jahren bei einem Freund gehört habe, hatte, nämlich Melos Q./Rostropowitsch (und ich bin nach wie vor nicht so sicher, was ich von dieser ungewöhnlich massiven, nahezu "orchestralen" Einspielung halten soll) und eine HIP-Aufnahme (Archibudelli), in dieser Art hatte ich nämlich noch gar keine. Eine der interessanteste Aufnahmen im Blindhören, eine historische russische mit dem Taneyev-Q. und Rostropowitsch ist leider nie (international) auf CD erschienen, die konnte ich nicht kaufen.
    Und ich habe damals eine Aufnahme (Naxos) auch aussortiert, weil mir die zu blass schien, als dass ich sie als 13. oder so noch benötigen würde.
    Wie ich in einem anderen Thread schon mal schrieb, war ich 10 oder mehr Jahre lang mit drei Aufnahmen des Quintetts eigentlich zufrieden, bis dann 2011 herum eine Forendiskussion (wieder woanders) einen kleinen Kaufrausch auslöste und zwei oder drei Aufnahmen habe ich auch als "Beifang" in Sammelboxen erhalten.

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  • Wir hören sehr unterschiedlich: Häufig läuft bei uns klassische Musik ganz nebenbei als reine Unterhaltungsmusik. Da kann es sogar vorkommen, dass meine Frau oder ich fragen: "Was hast Du da gerade aufgelegt?" Erst danach schauen wir welches Orchester, welcher Interpret ist da am Werke. Musik hören also allein als Hörerlebnis, als emotionaler Genuss. Muss ich eine Aussage zu einem Stück treffen oder gar eine Rezension schreiben, ist selbstverständlich analytisches, vergleichendes Hören gefragt. Bei der Vorbereitung auf einen Konzertabend höre ich mir mit Abstand zum Live-Erlebnis ein bis zwei Aufnahmen an, von denen ich annehme oder weiß, dass Sie maßstabsetzend sind. Diese allerdings mit Auszug oder Partitur, in der ich Einzeichnungen mache.(Wenn es nicht gerade Wagners Ring ist, wo ich von dem neu erschienenen Bayreuther-Kempe-Ring 1961, den ich vor nicht allzu langer Zeit für den Neuen Merker Wien besprochen habe und auch hier im Forum unter "Der Ring der nie gelungen ist" eine Besprechung eingestellt habe.) Hier werden nur Schlüsselszenen zum Vergleich herangezogen. Wenn es irgendwie machbar ist besuche ich eine Probe des Orchesters. Geht bei mir gut, wenn ich über ein örtliches Musikereignis schreibe. Übrigens nie über das Heilbronner Sinfonie Orchester oder das Württembergische Kammerorchester. Wie empfinden uns durch zu enge Verbindungen bei diesen beiden Klangkörpern nicht als neutral. Bereits auf dem Heimweg wenn nicht schon in der Konzertpause wird über das Gehörte diskutiert. Oft werden es lange Nächte nach einem Konzert. Dann werden die Einzeichnungen aus der Vorbereitungsphase angeschaut und geprüft. Was ist gelungen, was nicht? Am nächsten Morgen noch einmal kurz Revue des Gesamteindrucks und dann muss mit gewissem Zeitdruck geschrieben werden, wohl wissend, dass noch mehr Vergleiche gut gewesen wären. Dass Kernrepertoire hat man durch häufiges Erleben meist gut im Griff. Dann wird der Entwurf der Kritik meiner Lieben vorgelegt. Einmal für Korrekturen und zum Vergleich des Gesamteindrucks. Dann ab in die Redaktion. Nach der Veröffentlichung ist es das schönste Erlebnis, wenn Anrufe oder gar Leserbriefe kommen. "War der Kritiker im gleichen Konzert?". Kommt bei mir heute selten vor, weil meine Grundeinstellung gegenüber Ausführenden positiv ist und ich auch die Milde des Alters walten lasse. Also es kommt auch hier auf die Zielsetzung an, wieviel vergleichendes Hören ist notwendig und sinnvoll um zu einem halbwegs ausgewogenen Urteil zu kommen.


    Herzlichst
    Operus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

  • Ich wüsste nicht, wann ich zuletzt einmal ein und dieselbe Musik mit verschiedenen Interpreten am Lautsprecher verglichen habe. Mir scheint, dass macht man in der Jungend so. Oder ist das nur meine Erfahrung gewesen? Der Vergleich bzw. Abgleich findet bei mir inzwischen meistens aus dem Gedächtnis statt. Es sei denn, ich komme auf ein mir völlig unbekanntes Werk, von dem ich den Eindruck habe, es könnte mir noch mehr zusagen, wenn es denn anders dargeboten würde. Dann höre ich schon mal direkt vergleichend.


    Obwohl niemand von Vergleichen loskommen dürfte, versuche ich mich immer offen zu halten für neue musikalische Erlebnisse. Also nicht gleich an Fischer-Dieskau denken, wenn ich Benjamin Appl höre. Was nützte es mir, vergliche ich Liedersänger, die noch aktiv sind oder am Anfang ihrer Laufbahn stehen, mit Dieskau, Patzak, Goerne, Gerhaher, der Ludwig oder der Schwarzkopf? Nichts! Ich täte ihnen unrecht. Insofern könnte einem vergleichendes Hören schon den "Spaß an der Freud" verderben, wie es Alfred eingangs formulierte.


    Gruß Rheingold

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • So sehe ich das auch lieber Rheingold. Bei Opernaufführungen hab ich das früher gemacht und war dann immer enttäuscht, wenn der Tenor nicht wie Pavarotti oder Domingo gesunge hat. Jetzt mache ich das vergleichende höhren und sehen nach der Auführung und nicht mehr vorher.

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  • Zit. Rheingold1876: "Was nützte es mir, vergliche ich Liedersänger, die noch aktiv sind oder am Anfang ihrer Laufbahn stehen, mit Dieskau, Patzak, Goerne, Gerhaher, der Ludwig oder der Schwarzkopf? "


    Kann man einem solchen Vergleich wirklich aus dem Wege gehen, wenn man ein Lied in der Interpretation durch einen der hier Genannten wirklich kennt und gleichsam im Ohr hat? Das würde ich - nach meinen Erfahrungen - bezweifeln. Ich erinnere mich , dass ich mir schon einmal bei einem Liederabend das Missfallen eines Nachbarn dadurch zugezogen habe, dass ich mir mein Urteil über die gesanglich-interpretatorischen Leistungen eines Sängers (der Name tut hier nichts zur Sache) wohl allzu auffällig habe anmerken lassen. Ich hatte das Lied in der Interpretation durch Fischer-Dieskau im Ohr, ohne dass ich das gewollt hätte. Ich konnte gar nichts machen dagegen! (Mein Verhalten war natürlich ungehörig, und ich habe mich später auch entschuldigt!)

    Ich denke, dass das ganz allgemein für die Rezeption klassischer Musik gilt, so sie denn - und diese Einschränkung ist in diesem Zusammenhang wichtig - intensiv betrieben wird. Es soll mir mal einer erklären, dass er, wenn er zum Beispiel - auch das ist eigene Erfahrung - die Interpretation der Symphonie Fantastique durch Leonard Bernstein erlebt hat, bei der nächsten Aufführung dieses Werks durch einen anderen Dirigenten nicht automatisch, ganz und gar unwillentlich Vergleiche anstellt.
    Ich mache diese Erfahrung fast täglich, - dann nämlich, wenn ich bei meinen Liedbetrachtungen zu der Aufnahme mit einem Sänger oder einer Sängerin greifen muss, in der das Lied in der Originaltonart zu hören ist. Automatisch stellt sich dabei die Interpretation ein, die ich - von diesem oder jenem anderen Interpreten - bislang für die der Liedmusik am meisten gerecht werdende gehalten habe.


    Im übrigen: Wieso soll denn eigentlich vergleichendes Hören den "Spaß an der Freud´" vertreiben können? Diese These verstehe ich als ein Verdikt gegen bewusstes Hören. Der Vergleich kann natürlich dazu führen, dass man keine Freude am Hören einer bislang nicht gekannten Aufnahme oder Interpretation von einem musikalischen Werk hat. Aber das kann ja auch umgekehrt ausgehen, und man ist entzückt von dem, was man da hört.

  • Verdirbt "Vergleichendes Hören" den "Spaß an der Freud" ?


    8o Ganz im Gegenteil !!!
    Sehr oft werde ich durch den Kauf einer neuen Vergleichsaufnahme, von Werken die ich schon besitze, dazu angeregt diese überhaupt wieder einmal zu hören. Bei Bedarf und Interesse höre ich dann meine Favoriten zum Vergleich. Auch gerne als Grundlage für neue Tamino-Beiträge.
    Ich finde das Vergleichshören unwarscheinlich spannend und anregend, was man da alles neu entdeckt !
    ;) Das führt auch schonmal dazu, dass man so einige CD´s wieder absetzen kann, die einfach die favorisierten Aufnahmen nicht errerichen ... weg mit dem toten Kapital !



    Letztens erst dieser Neuzugang:
    Die Berlioz-Symphonie Fantastique habe ich bestimmt "gefühlt" 10Jahre nicht mehr gehört. Auf Josefs Begeisterung hin habe ich mir die Markewitsch-CD (DG) bestellt und mit grosser Freude diese fabelhafte Int (die ich als meine Erstaufnahme noch auf DG-LP habe) gehört. Dabei auch festgestellt, dass Bernstein (SONY) zwar mehr Effekte betont und nicht minder begeisterungswürdig rüber kommt, aber die tiefer empfundenen Eigenschaften des Werkes tatsächlich bei Markewitsch deutlicher zu finden sind ... hätte ich vorher nicht gedacht ...

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Hallo,


    vergleichendes Hören in unmittelbarer Abfolge: Da kommt es auf die Zeitdauer der gleichbleibenden Aufnahme- und Konzentrationsfähigkeit an.



    Vergleichendes Hören in zeitlichem Abstand: Wer kann von sich behaupten, dass er nach zeitlichem Abstand in der gleichen körperlichen, geistigen, emotionalen Verfassung ist, wie er vor dem zeitlichen Abstand war? Ich kenne das von mir: Wirkt ein Musikstück gut auf mich, muss dies nach zeitlichem Abstand zwingend keinen Bestand haben. Zeitlich bedingte Schwankungen in den Interpretationen gibt es nicht nur bei jedem Ausführenden, sondern auch bei den Aufnahmefähigkeiten jedes Hörenden.


    Nichts ist individueller als die Wirkung eines Musikstückes auf die (den) Hörende(n) zu unterschiedlichen Zeiten.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Ich selbst bin an und für sich ein großer Anhänger des vergleichenden Hörens, darin teleton gleich. Diese Hörvergleiche sind heutzutage so einfach wie nie zuvor, da man via YouTube, Spotify, iTunes, Amazon usw. mittlerweile in viele Aufnahmen komplett hineinhören kann (die kurzen Hörschnipsel bei jpc sind für mich nahezu unbrauchbar). Will ich die "beste" Aufnahme eines Werkes finden, bin ich entweder auf Rezensionen, also Höreindrücke anderer, oder eben auf eigenes Vergleichshören angewiesen. Natürlich höre ich mir lange Werke, besonders große Symphonien und Opern, nicht hintereinander in verschiedenen Aufnahmen komplett an. Dies wäre kaum machbar. Aber ausschnittsweise mache ich das sehr wohl. Dabei kommen dann eben besonders Stellen zum Vergleich, die mir persönlich wichtig sind. Das hat schon so manche Kaufentscheidung erleichtert und mich vor Aufnahmen bewahrt, die mich letzten Endes kaum überzeugt hätten. Das vergleichende Hören offenbart eben auch die Schwächen von Aufnahmen. Man wird anspruchsvoller, wenn man viele Aufnahmen eines Werkes gehört hat. Wie sollte man die Güte eines Werkes und einer Aufnahme wirklich beurteilen können, wenn man nur eine einzige kennt? Wenn man Pech hat, greift man beim ersten Hörkontakt zur "falschen" Aufnahme und meidet das Werk anschließend sogar.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Mit Verlaub, - die Einwände von zweiterbass betreffend, ...


    Ob - zum Beispiel - ein Liedinterpret eine wichtige melodische Figur gesanglich nicht hinreichend herausarbeitet, ein Pianist bei einer Interpretation einer Chopin-Mazurka die Mittelstimmen vernachlässigt oder den ganz spezifischen, nämlich wesenhaft flüchtigen Rhythmus nicht trifft, oder die Cello-Stimme bei Schuberts Streichquintett zu blass bleibt, ...
    ... wieso sollen derartige Feststellungen, wie sie bei einem vergleichen Hören von entsprechenden Aufnahmen der jeweiligen musikalischen Werke getroffen werden, von den naturgemäß situativ wechselnden und schwankenden psychischen und kognitiven Fähigkeiten der Rezeption von Musik in wirklich relevanter, weil den Kern des Sachverhalt betreffender Weise beeinflusst sein?
    Dass ein Streicher-Ensemble ein Schubert-Quartett zu schnell spielt und die Einzelstimmen nicht hinreichend zur Geltung kommen lässt, das vermag man doch wohl ganz unabhängig vom jeweiligen Grad an Aufnahme-Fähigkeit von Musik festzustellen, - so dieser sich im Bereich normaler Schwankungen bewegt und keine Benebelung durch etwa eine Flasche Lafitte Rothschild erfahren hat (was im übrigen auch gar nicht so übel wäre).

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  • Tolle Analyse, der ich vollumfänglich zustimme. Vor allem führt das Vergleichshören dazu, dass man sich auf irgendwelche irrelevanten Aspekte konzentriert - irrelevant für den Musikhörer, nicht für den Tonmeister. Da ich mich nicht zum Tonmeister ausbilde, kann ich auf diese Marotte verzichten.

  • Auch das kann ich bestätigen. Es kann sogar sein, dass eine Arie, die mich berührt, bei sofortiger Wiederholung Langweile auslöst. Letztlich ist sie ja auch gar nicht konzipiert, als ganzes 2x gegeben zu werden.

  • Mit Verlaub, - die Einwände von zweiterbass betreffend, ...


    Ob - zum Beispiel - ein Liedinterpret eine wichtige melodische Figur gesanglich nicht hinreichend herausarbeitet, ein Pianist bei einer Interpretation einer Chopin-Mazurka die Mittelstimmen vernachlässigt oder den ganz spezifischen, nämlich wesenhaft flüchtigen Rhythmus nicht trifft, oder die Cello-Stimme bei Schuberts Streichquintett zu blass bleibt, ...
    ... wieso sollen derartige Feststellungen, wie sie bei einem vergleichen Hören von entsprechenden Aufnahmen der jeweiligen musikalischen Werke getroffen werden, von den naturgemäß situativ wechselnden und schwankenden psychischen und kognitiven Fähigkeiten der Rezeption von Musik in wirklich relevanter, weil den Kern des Sachverhalt betreffender Weise beeinflusst sein?
    Dass ein Streicher-Ensemble ein Schubert-Quartett zu schnell spielt und die Einzelstimmen nicht hinreichend zur Geltung kommen lässt, das vermag man doch wohl ganz unabhängig vom jeweiligen Grad an Aufnahme-Fähigkeit von Musik festzustellen,


    Naja. Alles, was Du erwähnst, setzt einen hohen Grad an Aufnahme- und Konzentrationsfähigkeit und eine recht hohe Vertrautheit mit dem Stück bzw. eine recht genaue Vorstellung davon, wie es "gehen soll", voraus.
    Woher sollte man sonst wissen, was "zu schnell" ist? (Gerade hier habe ich die Erfahrung gemacht, dass mir ein- und dieselbe Einspielung je nach Tagesform und Tageszeit (abends, müde) zu schnell oder zu langsam vorkam). Bekanntlich geriet Chopin mit einem anderen Komponisten über die richtige rhythmische Spielweise einer Mazurka in Streit (meiner Erinnerung zählte am Ende jemand laut mit, um zu demonstrieren, dass der 3/4-Takt in Chopins Spiel zu einem 4/4 verschoben würde, aber der Disput blieb ungelöst, da Chopin anscheinend ein bestimmte Art des Rubato so natürlich empfand, dass es für ihn dennoch ein 3/4 blieb, aber ich weiß die Details nicht mehr).
    Viele von diesen Dingen sind Ermessenssache, etwa wie deutlich eine Nebenstimme herauskommen sollte usw. Und deren Wahrnehmung scheint mir durchaus davon abhängig, ob man sich noch gut konzentrieren kann oder nicht. Oder eben auch, ob man vielleicht durch eine bestimmte Interpretation überhaupt erst auf dieses Detail gebracht wird, sofern man nicht ausführlich die Noten studiert hat. (Ein Laie wird auch in den Noten vieles übersehen, wenn ihn nicht eine Interpretation darauf stößt.)
    Und schließlich sind es auch genau solche Dinge, die man mitunter nur im "Tonmeistermodus" richtig wahrnimmt und dann evtl. überbewertet.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Es gibt ja zwei Arten des vergleichenden Hörens:


    1. das unwillkürliche. Wenn man verschiedene Interpretationen eines Musikstücks hört (auch vom selben Interpreten, die können ja auch aufregend unterschiedlich sein!), dann vergleicht man, indem man das, was an der betreffenden Aufnahme anders, besonders ist, feststellt, was ja nur im Vergleich mit anderen möglich ist. Wobei ich bei einer wirklich in sich stimmigen Interpretation nicht ständig denke: Was macht der und der da anders oder besser? Da überlasse ich mich dann dieser Interpretation. Anders bei den weniger gelungenen, da denkt man dann: So geht es nicht, sondern nur so wie bei...


    2. der systematische Interpretationsvergleich. Hier nähert sich die Situation der des Interpreten an, der sich ein Stück "erarbeitet", wozu eben gehört, bestimmte Lösungen für ein Problem zu finden. Hier geht man in die Tiefe und beschäftigt sich mit dem Werk: Ist bei der "Pathetique" das Finale ein reines Kehraus-Finale oder mehr? So etwas macht man nur mit Stücken, mit denen man sich sehr intensiv auseinandersetzt.


    Generell: Ohne Interpretationsvergleiche kommt man letztlich zu keinem vertieften Verständnis von einem Werk und bekommt auch keinen wirklichen Begriff, was die Qualität einer Interpretation ausmacht. Und es macht Spaß: Man entdeckt so immer wieder neue und andere Seiten der Musik.


    Schöne Grüße
    Holger