Votings und Rankings in Klassikzeitschriften und Internetforen für klassische Musik

  • Votings und Rankings geniessen in diversen Medien eine gewisse Beliebtheit.


    Einerseits kann man damit so ziemlich alles bewesien was man will
    Andrerseits kann an sich über gewisse Wahrheiten einen Überblick verschaffen
    Man kann als Zeitschrift eine Leserschaft damit unterhalten, oder sie manipulieren
    Man kann als interaktives Medium (Forum, Blog) die Leserschaft zur Mitarbeit herausfordern,
    Zustimmung oder Widerspruch provozieren.
    Man kann so ziemlich jede Entwicklung am "Markt" analysieren, wenn man die richtigen Fragen stellt
    Man kann die erstmalige Erwähnung von Nachwuchsinterpreten forcieren
    oder aber Größen der Vergangenhiet wieder ins Gedächtnis rufen
    Und vor allem kann man auch (in unserem Fall) Musikfreunde mit einbinden
    denen andere Threads zu komplex erscheinen und sie sich nicht zu Wort melden.
    Bei Internetforen haben die Mitglieder zudem die Möglichkeit die Ergebniosse mitzugestalten,
    was vor allem jene freuen dürfte, welche die Rankings in Fachzeitschriften als "manipuliert"
    empfinden und sich permanent über die Ergebnise ärgern.....


    Es gibt aber auch eine Kehrseite:
    Votings nutzen sich ab, wenn man sie zu oft ins Spiel bringt.
    Und ausserdem müssen sie ausgewertet werden.
    Oft geschieht das aber nicht - und die versanden....
    Was die Lust aufs Mitmachen beim nächsten Mal stark beeinträchtigt.


    Es gibt aber eine gar nicht so kleine Gruppe von Leuten, denen Votings an sich nicht sympathisch sind, sie werden hier an "Wettbewerbe" erinnert, und die - so finden sie - haben in der klassischen Musik (und in der Kunst überhaupt) nichts zu suchen.
    Vielen aber machts einfach Spaß, die Jagd nach dem "Besten", "Beliebtesten"........


    Darüber kann man gut diskutieren......


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Ich denke, man muss im Einzelfall genauer hinsehen, welchen Anspruch ein Ranking hat und ob es diesen Anspruch methodisch einlösen kann. Aktuell habe ich sowohl mit dem Grammophone-Ranking als auch mit dem Tamino-Ranking der Top 50 Dirigenten große Probleme, weswegen ich mich an letzterem auch nicht beteiligt habe. (Grammophone immerhin macht gegenüber dem Anspruch der Titelzeile, die "50 bedeutendsten Dirigenten aller Zeiten" aufzulisten, gleich wieder einen Rückzieher, indem dann nur noch von 50 der besten Dirigenten die Rede ist.) Nach welchen Kriterien soll ich meine Auswahl treffen? Meine Lieblingsdirigenten kann ich sofort nennen, aber danach ist ja nicht gefragt. Und unter allen Dirigenten der Musikgeschichte die 50 bedeutendsten auszuwählen, das traue ich mir nun wahrlich nicht zu. Nach welchen Kriterien sollte ich das auch tun? Da haben wir zum einen die jüngeren, derzeit aktiven Dirigenten, von denen ich es aber bei aller Wertschätzung unmöglich finde, ihren Platz in der Musikgeschichte schon jetzt zu beurteilen. Deshalb fand ich es auch geradezu lächerlich, dass Dudamel auf der Grammophone-Liste auftaucht. Um beurteilen zu können, ob jemand zu den 50 wichtigsten Dirigenten aller Zeiten gehört, muss man doch mindestens auf einen größeren Teil seiner Lebensleistung zurückblicken können. Die jüngeren scheiden für mich daher von vornherein als Kandidaten aus. Dann haben wir diejenigen Dirigenten, die man zu den "großen Alten" zählt, teils leben sie noch, teils sind sie kürzlich oder schon vor längerer Zeit verstorben. Je nach eigenem Alter hat man sie noch des öfteren im Konzert erlebt, und sie sind in der Regel sehr gut auf Tonträgern dokumentiert, so dass hier das eigene Erleben eine Grundlage für die Bewertung darstellen kann. Aber auch hier gibt es große Unterschiede in der Kenntnis: Von Bernstein kenne ich fast alle Aufnahmen, von Karajan nur wenige, trotzdem kann ich doch nicht ernsthaft eine Liste erstellen, auf der Bernstein, aber nicht Karajan vorkommt. Die Bedeutung des letzteren bewerte ich aber auf einer ganz anderen Grundlage. Ebenso ein Furtwängler, vom dem ich keine einzige Aufnahme kenne, der aber natürlich trotzdem auf meine Liste kommen würde. Und schließlich haben wir historische Figuren wie Gustav Mahler, deren Bedeutung als Dirigenten man in Musikgeschichten nachlesen kann, weil entsprechende Urteile von Zeitzeugen überliefert sind. All diese ganz unterschiedlichen Fälle in einen Topf zu werfen, finde ich höchst problematisch. Was dabei herauskommt, kann nur ein schiefes Bild sein.

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • Sicher kann man mittels eines Rankings und auch anderer Methoden die tatsächliche "Bedeutung" eines Dirigenten nicht bewerten, dennoch wird es aber immer gemacht, sei es in Kritiken, Klassikzeitschriften oder Fachbücher über klassische Musik. Ich meine, es sit viel gewonnen, wenn man akzeptiert, daß jegliche Bewertung einerseits subjektiv, andrerseits eine Momentaufnahme ist, welche zudem noch von nationalen und musikästhetischen Kriterien der Zeit, bzw der Region bestimmt ist, woher sie kommt.
    Es ist - Bertaedio sagte es ganz richtig - so gut wie unmöglich Dirgenten verschiedener Zeitalter miteinander in ihrer Bedeutung zu vergleichen. Dennoch wird die Musikgeschichte das notgedrungenermaßen tun. Es wird ein "verzerrtes Bild" entstehen - aber immerhin besser als gar keines.....


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Es ist ja zu diesem Thema schon etliches von Bedeutung festgestellt worden, ich möchte aber noch erläutern, warum ich jede Form von Voting und Ranking ablehne.
    Hierzu ein Beispiel aus einem ganz anderen Bereich:


    Nehmen wir an, unter operativ tätigen Ärzten würde ein Voting veranstaltet, dergestalt, daß jeder Teilnehmer die größten Chirurgen des deutschsprachigen Raums benennen sollte.
    Es wäre dies insofern einfacher als das Tamino-Dirigentenvoting, als hier nicht Tonkonserven unterschiedlicher Qualität herangezogen werden müssen und man sich auch nicht bei den ganz Alten (Mahler, Levi etc.) auf das Hörensagen verlassen müsste, sondern auf die allgemein bekannte und auch heute noch gültige wissenschaftliche Leistung und die wissenschaftlichen Schriften und die Innovationen heranziehen könnte, die auch jedem Fachmann bekannt sind.


    Wer ist also in diesem Ranking der "größere" Chirurg:
    Theodor Billroth, der Begründer der Magenchirurgie oder Ferdinand Sauerbruch, der große Innovationen in der Thoraxchirurgie eingeführt hat?
    Wer ist größer: die Allrounder August Bier oder Johannes von Mikulicz-Radecki oder der Herztransplanteur Christian Barnard?
    In der orthopädischen und Unfallchirurgie: Lorenz Böhler oder Adolf Lorenz?


    Alle Genannten haben große wissenschaftliche Leistungen erbracht und sind unter Chirurgen ebenso bekannt wie Karajan und Co. unter Musikfreunden.


    Was könnte also solch ein Ranking leisten:


    Ich meine überhaupt nichts, außer Zeitverschwendung (Pardon für diese etwas plakative und provokante Aussage).


    Viele Grüße


    Joachim

    "Die Musik steht hinter den Noten" (Gustav Mahler)

  • Votings und Rankings haben zunächst einmal eine ganz pragmatische Bedeutung, finde ich: Berufskritiker brauchen Referenzen zum Vergleich. Und ein erfahrener Hörer hat auch seine Referenzen, auf die er sich dann verläßt und die von Fono Forum etc. deshalb entbehrlich findet. Es gibt natürlich eine Reihe von Aufnahmen, die Interpretationsgeschichte geschrieben haben und zeitlos gültig sind, es gibt prägende Musikerpersönlichkeiten, die unbestreitbar sind. Da gibt es auch einen gewissen Konsens. Wenn man dagegen versucht, jede x-beliebige Aufnahme nach einer Skala "exakt" zu beurteilen, wird es seltsam. Und nicht zu vergessen ist auch: Klassik-Magazine sind eben auch Werbung, haben ein kommerzielles Interesse. In diese Katgeorie gehört der skurrile Einfall von Fono-Forum, die Unterscheidung von "Referenzen" und "historischen Aufnahmen" zu machen. "Referenz" ist dann nur noch, was neu auf dem Markt erscheint. So haben sie dann mal den Debussy von Gieseking und Michelangeli als historische Aufnahme und nicht Referenz eingestuft. Das ist natürlich einfach nur lächerlich und die Intention durchschaubar: Kaufanreize geben und sonst nichts.


    Schöne Grüße
    Holger

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  • Sicher kann man mittels eines Rankings und auch anderer Methoden die tatsächliche "Bedeutung" eines Dirigenten nicht bewerten, dennoch wird es aber immer gemacht, sei es in Kritiken, Klassikzeitschriften oder Fachbücher über klassische Musik. Ich meine, es sit viel gewonnen, wenn man akzeptiert, daß jegliche Bewertung einerseits subjektiv, andrerseits eine Momentaufnahme ist, welche zudem noch von nationalen und musikästhetischen Kriterien der Zeit, bzw der Region bestimmt ist, woher sie kommt.


    Anders gefragt: Ist überhaupt jemandem ein Ranking bekannt, dessen Erstellung zumindest auf dem Versuch einer Objektivierung mit geeigneten Methoden beruht?


    Viele Grüße
    Frank

  • Ich glaube nicht, daß ein Ranking viel mehr als eine Auseinandersetzung mit der Materia an sich bringt.
    ABER es bringt Aufnahmen in den Focus, die man ansonsten leicht übersehen hätte. Ich finde ibei unseren Rankings immer wieder Anregungen zu Neukäufen - die dann glücklicherweise nur zu einem Viertel realisiert werden....
    Natürlich kann man Rankings auch mißbräuchlich verwenden, entweder durch die Fragestellung oder durch Manipulation (letzteres it im Forum so gut wie nicht möglich - es sei denn es handelt sich um ein "offenes" Forum ohne Anmeldepflicht - da sind Fälschungen Tür und Tor geöffnet)
    ABER: Die Idee von Fono Forum die historischen Aufnahmen von "AKTUELLEN REFERENZEN" zu unterscheiden halte ich nicht nur für praktikabel - sondern auch für NOTWENDIG. Ich selbst (und soweit ich mich erinnere, auch einige Andere) haben das im Forum praktiziert (Aufnahmen ab 2001 etc) Andernfalls würden im Bereich der Beethoven Sinfonien für die nächsten 100 Jahre stets Karajan, Böhm und Bernstein genannt, vielleicht kommen noch ein oder 2 Namen dazu. Ausser Thielemann hätte langfristig kein Dirigent von heute die Chance unter die ersten 5 zu kommen, denn da käme noch Furtwängler, Konwitschny, Szell, Rainer und Klemperer.....


    Allerdings sollte man die Rahmenbedingungen transparent machen.


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • ABER: Die Idee von Fono Forum die historischen Aufnahmen von "AKTUELLEN REFERENZEN" zu unterscheiden halte ich nicht nur für praktikabel - sondern auch für NOTWENDIG.

    Ich mache ja auch die Unterscheidung von "historischen" Aufnahmen und neueren, die ich für Vergleiche heranziehe. Dann handelt es sich aber um Aufnahmen von 1910, 1920 oder 1930, wo einfach die Aufführungspraxis so grundverschieden von der heutigen ist, dass man sie einfach nicht mit den Maßstäben von heute messen kann und umgekehrt. Wo die Maßstäbe aber dieselben sind, bleibt eine Referenz Referenz, egal wie alt sie ist. Alles andere ist für mich nicht logisch. Fono-Forum ist da einfach inkonsequent. So wird Pollinis Aufnahme der Chopin-Etüden weiterhin als Referenz eingestuft, Michelangelis legendäre Aufnahme der "Images" von Debussy, die sämtliche Schallplattenpreise der Welt bekam, aber als "historisch" eingestuft, obwohl beide Aufnahmen von Anfang der 70iger Jahre stammen. Wahr ist aber, dass keine noch so gute Aufnahme bis heute ABMs Debussy erreicht. ABM ist und bleibt nun mal die "Überreferenz", gerade auch für junge Pianisten, die ihn natürlich alle studiert haben.


    Andernfalls würden im Bereich der Beethoven Sinfonien für die nächsten 100 Jahre stets Karajan, Böhm und Bernstein genannt, vielleicht kommen noch ein oder 2 Namen dazu.

    Referenzen sind zeitlos. Wenn keine Aufnahme an die genannten herankommt, dann sollte eine der Wahrheit verpflichtete Kritik des auch sagen. Man kann ja auch die Vorzüge der neuen Aufnahmen hervorheben, ohne sie gleich an der Überreferenz zu messen. Wer kann schon gegenüber Dietrich Fischer-Dieskau absolut gemessen bestehen? Kaum jemand! Ist deshalb Fischer-Dieskaus Liedkunst also keine Referenz mehr, sondern schon historisch? (Für bestimmte Aufnahmen von Fritz Wunderlich gilt dasselbe.) :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Du hast vollkommen recht.
    Ein Forum kann zur not mit dieser Sichtweise leben und sie mit einigen Tricks umgehen - denn wir brauchen ja Themen für Diskussionen.
    Die Tonträgerindustrie - und die von deren Werbeeinschaltungen abhängige Fachpresse - ist hier schon in einer weniger komfortablen Situation: Sie müssen irgerndwie die Neuaufnahmen interessant und konkurrenzfähig darstellen. Was aber will man einem Sammler verkaufen, der schon seit 30 oder mehr Jahren alle wichtigen Aufnahmen im Schrank stehen hat ?
    Genau !! Aufnahmen die alles bisherige in den Schatten stellen: Die neuen Referenzen :hahahaha:
    Und wenn das nicht geht, dann verschweigt man die alten - oder klammert sie aus


    Beste Grüße aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !