Strawinsky heute - wieviel Biß hat er noch?

  • Liebe Forianer,


    daß sein "Sacre du Printemps" bei der Uraufführung einen Theaterskandal ersten Ranges verursachte, ist bekannt. Aber
    auch die späteren Werke Strawinkskys stießen nicht immer auf Gegenliebe.


    Heute ist er als Vertreter der "Klassischen Moderne" anerkannt.
    Ist das genug ? Vermag er heute noch zu polarisieren - oder zu begeistern ?


    Die Frage beantwortet sich fast von selbst, wenn man feststellt, daß dieses Forum grade mal 2 Threads zum Thema Stravinsky hervorgebracht hat, die - wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt - nicht allzu gut besucht waren - im Gegensatz etwa zu Gustav Mahler oder Schostakowitsch.


    Wieder stellt sich die Frage, was Strawinsky heute noch auszusagen hat, was das Besondere an seiner Musik ist, und welches Werk "unsterblich ist. Wie Radikal ist Strawinsky wirklich - Oder ist er gar nicht mehr radikal ? (aus heutiger Sicht gesehen)


    Ferner könnte man noch über Strawinsky als Dirigent eigener Werke diskutieren.


    Ungeachtet dieses Threads habe ich vor in nächster Zeit einige Werke dieses Komponisten zu thematisieren


    Freundliche Grüße aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Ich sehe keinen wesentlichen Unterschied, wenn man bei der Frage "Stravinsky" durch "Beethoven", "Wagner", "Debussy", "Bartok" usw. ersetzen würde. Die meisten oder doch sehr viele deren Werke gelten inzwischen als Klassiker, sind fester Bestandteil des Kanons, was ihre Ausdruckskraft jedoch nicht verschwinden lassen muß. Wieviel Biß hat die Eroica heute noch? Sie kann gar keinen mehr haben oder immer noch einen beträchtlichen, hängt von allem möglichen ab. "Noch einen Kreuzer zahlen, damit endlich Schluß ist", wird wohl kaum einer mehr anbieten, ebensowenig wie sich bei Le Sacre prügeln wollen
    Man könnte die Frage auch so stellen: Wieviel Biß hatte das Konzertpublikum damals...? :D :D :D


    Stravinsky wird in seiner Bedeutung wohl zu Recht mit Picasso verglichen; er ist eine Ikone des 20. Jhds., eine weitere Gemeinsamkeit der beiden ist die ungeheure stilistische Vielfalt des Oeuvres. Le Sacre wird wohl kaum im Wartezimmer das Zahnarztes erklingen (wo die Taube oder das Gauklerpärchen Picassos hängen könnten), aber der seinerzeitige Skandal ist selbstverständlich für uns kaum nachvollziehbar.
    Vielleicht ist Stravinsky heute weniger kontrovers als Schönberg (obwohl der natürlich viel konservativer war, er nannte Igor den "kleinen Modernsky", weil seine Musik (jedenfalls die frühe wie Le Sacre) näher an den Musikarten und Geräuschen ist, an die wir uns inzwischen gewöhnt haben: Jazz, collagenartige Klänge, Volkstümliches, rhythmisch aggressive Film- oder Tanzmusik (ich bitte die Banalität der Hypothese zu verzeihen ;))


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Hallo,


    im ersten Semester meines Studiums dreht es sich im musikwissenschaftlichen Teil vor allem um Strawinsky.
    Deshalb bin ich sehr erfreut, dass gerade jetzt ein Thread über ihn eröffnet wurde.
    Ich musste feststellen, dass Strawinsky bisher bei mir keine große Rolle gespielt hat. Da sind die Kollegen Schostakowitsch, Prokofieff oder Rachmaninoff besser dran. Bis vor kurzem hatte ich außer dem Violinkonzert auch keine Aufnahme. Mittlerweile besitze ich die Ancerl-Aufnahme des Sacre und von Petruschka.


    Strawinskys Schaffen kann man ja grob in 3 Abschnitte einteilen.
    Die Anfangsphase war noch sehr von seinen russischen Vorbildern, vor allem von seinem Lehrer Rimsky-Korssakoff, geprägt.
    Später wandte er sich dem Neoklassizismus zu und ging von der Melodik weg mehr hin zur Rhytmik.
    Und als es gar niemand mehr vermutete, sprang Strawinsky schlussendlich auch noch zur Zwölftontechnik über.


    Vielleicht ist das ein Grund, weshalb man ihn schwer einordnen kann, da er sehr vielfältig war.
    Ich weiß nicht, inwiefern heute noch seine Ballette aufgeführt werden (vom Sacre mal abgesehen), aber in dem Bereich hat er IMO den größten Erfolg gehabt.


    Ich glaube auch, dass er bei mir nicht so präsent ist, weil die gängigen Genres wie Sinfonie, Solokonzert, Streichquartett etc. bei ihm nicht so ausgeprägt waren. Wahrscheinlich lande ich deshalb öfter bei der "Konkurrenz".


    Petruschka habe ich mittlerweile ganz lieb gewonnen, mit dem Sacre kann ich noch nicht so gut.
    Ich hoffe, dass ich durch mein Seminar hier noch einiges beisteuern kann.



    Gruß, Peter.

  • Peter:


    Zitat

    Vielleicht ist das ein Grund, weshalb man ihn schwer einordnen kann, da er sehr vielfältig war.


    Genau das macht aber Strawinskis Stärken aus, dnen welcher Stilmiittel er sich auch bedient, ist in allen als er selbst erkennbar. Mich fansziniert vor allem sen Spätwerk, das wesentlich von Geistlicher Musik geprägt ist und vielleicht mal einen eigegen thread drüber

    Das geht über das Sagbare hinaus. Das läßt sich nicht deuten und bedarf keiner Deutung. Es kann nur gehört werden. Es ist Musik. (H.H.Jahnn)

  • Mit dem "sacre" und mir ist es ganz eigenartig.
    Die DECCA-Aufnahme mit Dorati/Detroit Symphony-Orchestra war vor beinahe einem Vierteljahrhundert eine meiner ersten CDs.
    Ich habe damals ab und zu mal reingehört. Aber irgendwie war nach zehn Minuten fast immer Schluss.
    Ich fand es laut und anstrengend.
    Dann stand sie für Jahrzehnte (!) im Regal.
    Vor einem halbn Jahr habe ich sie wieder hervorgeholt, in den Player gelegt - und war und bin begeistert!
    Warum?
    Habe ich mich geändert? Musste ich erst älter werden, um das Werk zu verstehen und schätzen zu lernen?
    Nein! Der Grund ist banal und für manche hier vielleicht nicht nachvollziehbar: Es ist die Tonqualität.
    Erst mit meiner heutigen Anlage höre ich, was alles auf der CD drauf ist. Erst jetzt erfahre ich die Räumlichkeit, die Dynamik und die Farbigkeit des Orchesters in aller Pracht.
    So bin ich über das Vehikel der Wiedergabequalität zum "Sacre" gekommen. Um Missverständnisse zu vermeiden: Ich ergötze mich nicht nur an den drallen Effekten! Ich meine sehr wohl das Stück. Ich meine die Musik.
    Bei mir ist es eben einfach so: Klassische Musik und hohe Wiedergabequalität sind zwei Seiten ein- und derselben Medaille!

    "Muss es sein? - Es muss sein!" Grave man non troppo tratto.

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  • Zitat

    Erst mit meiner heutigen Anlage höre ich, was alles auf der CD drauf ist. Erst jetzt erfahre ich die Räumlichkeit, die Dynamik und die Farbigkeit des Orchesters in aller Pracht.


    Hallo CRC,


    das ist ein Problem. Ich beobachte grad’ bei moderneren Werken, dass die Leute wenn sie’s live hören meistens keine Probleme haben.


    Über ihre Anlage bezeichnen sie’s als "Krach". Und immer wenn ich’s mir dort angehört habe, hatten sie recht – es war Krach.


    Bei Standard-Instrumentierungen kann ich mir das Fehlende im Kopf ersetzen, bei ungewöhnlichen Instrumentierungen nicht.


    Viele Grüsse


    Walter

  • @ walter und CRC


    Sehr gut beobachtet, Moderne Musik bedarf einer Klangfarbentreue, die selbst heutige Musikanlagen nicht zu bieten haben.


    Wäre ein eigener Thread im HIFI-Bereich


    LG
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Hallo


    Zitat

    Sehr gut beobachtet, Moderne Musik bedarf einer Klangfarbentreue, die selbst heutig Musikanlagen nicht zu bieten haben.


    Das widerspricht meiner Erfahrung. Walters Beschreibung könnte man anders formulieren: Live hört man die musikalischen Zusammenhänge, während sie bei der Konserve verlorengehen. Damit wird die Musik ihres Sinnes beraubt. Moderne Musik ist zumeist rythmisch sehr komplex und fein gesponnen und viele Musikanlagen (auch klanglich sehr gute) haben heute noch große Probleme, das überzeugend wiederzugeben. Bei bekanntem Material fällt das oft nicht weiter auf, aber bei komplexer, unbekannter Musik kann sich unser Gehör dann keinen rechten Reim darauf machen - es wird eher als Krach empfunden.


    Den Hauptanteil dieses Problems dürften die Lautsprecher darstellen. Für die Wiedergabe komplizierter Rythmen scheint als Faustregel zu gelten: je einfacher - desto besser. Es ist oft sehr überraschend, wie einfach konstruierte Ein- oder Zweiweger in dieser Disziplin höchstpreisige Drei- oder Mehrwegeriche ziemlich alt aussehen lassen können. Und das ohne ein Muster an Neutralität sein zu müssen.

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Ohne eine Hifi-Diskussion anzetteln zu wollen, mag es sein, dass das für ein paar Werke zutrifft. Indes würde mich wundern, wenn sich objektiv nachvollziehbare Unterschiede bei den Schwierigkeiten der akustischen Reproduktion zwischen Mahlers 3. Sinfonie, Strauss' Alpensinfonie und Petrouchka oder Le Sacre finden würden. Was ist mit den subtilen Klangfarben in Mozarts Gran partita oder in Musik für eine Kombination wie Cembalo/Gambe? Wie sieht es bei klein besetzten Werken wie L`histoire du Soldat oder Pierrot Lunaire aus? Sind die einfacher als Konserve zu rezipieren als großorchestrales? (Finde ich nicht, u.a. weil es zwei so ungewöhnliche, bizarre Stücke sind, unabhängig vom Klang)
    Dass live vieles besser funktioniert, besonders das Kennenlernen von Neuem und man vertraute Musik eher auf Konserve genießen kann, gilt m.E. durch die gesamte Musikgeschichte.
    Ich fürchte, über diese trivialen Dinge hinaus läßt sich kein Muster erkennen...
    Oder kann jemand konkrete Werke nenen, bei denen entweder die Klangfarben oder der Rhythmus außergewöhnliche Reproduktionsprobleme aufwerfen?


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
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    (Bob Dylan)

  • Hallo Johannes,


    ich finde, daß viele Werke der Moderne, in denen die räumliche Verteilung der Mitwirkenden bzw. die Positionierung der Klangquellen eine große Rolle spielt, bei Aufnahmen, die man auf herkömmliche Weise in Stereo wiedergibt, weniger durchhörbar werden und es dem Hörer erschweren, Aufbau und Struktur des jeweiligen Werkes zu verfolgen. Das gilt z.B. für Stockhausens "Gruppen", Nonos "Prometeo", "Poème électronique" von Varèse oder Zimmermanns "Requiem für einen jungen Dichter". Bei solchen Kompositionen wären Aufnahmen in mehrkanaligem Surround-Sound mal nicht bloße Marketing-Gags für Hifi-Extremisten...


    Grüße


    GiselherHH

    "Mache es besser! (...) soll ein bloßes Stichblatt sein, die Stöße des Kunstrichters abglitschen zu lassen."


    (Gotthold Ephraim Lessing: Der Rezensent braucht nicht besser machen zu können, was er tadelt)

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  • Um den Bogen zu finden:


    Strawinsky war der Meinung, das "Sacre müsse man "Live" erlebt haben -jede Aufnahme würde das angestrebte Ergebnis verfälschen.
    Dennoch hat ersich mit einigen Aufnahmen auseinandergesetzt und drüber auch geschrieben....


    Aber den HIFI Teil sollten wir im HIFI-Bereich abhandeln - nicht hier.


    LG


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zitat

    Original von GiselherHH
    ich finde, daß viele Werke der Moderne, in denen die räumliche Verteilung der Mitwirkenden bzw. die Positionierung der Klangquellen eine große Rolle spielt, bei Aufnahmen, die man auf herkömmliche Weise in Stereo wiedergibt, weniger durchhörbar werden und es dem Hörer erschweren, Aufbau und Struktur des jeweiligen Werkes zu verfolgen. Das gilt z.B. für Stockhausens "Gruppen", Nonos "Prometeo", "Poème électronique" von Varèse oder Zimmermanns "Requiem für einen jungen Dichter". Bei solchen Kompositionen wären Aufnahmen in mehrkanaligem Surround-Sound mal nicht bloße Marketing-Gags für Hifi-Extremisten...


    Ja klar. Das sind deutliche Beispiele (aber Le Sacre fällt zB nicht darunter). Aber auch da gibt es ja ähnliches in der Mehrchörigkeit der Renaissance und des Barock, ebenso die Fernorchester bei Mahler oder Strauss usw.
    In Konwitschnys Inszenierung des "Don Giovanni" in der Komischen Oper Berlin wurden die Tanzorchester im 1. Finale teils in Loge und Empore plaziert, was zu einer von mir nie vorher gehörten Durchhörbarkeit der gleichzeitigen Rhythmen führte. Andererseits könnte man argumentieren, dass z.B an dieser Stelle ein gewisses klanglich-rhythmisches Chaos erwünscht ist...
    "Jede Aufnahme verfälscht" ist m.E. trivial wahr und daher uninteressant :D
    Natürlich ist der "impact" eines Stückes wie Le Sacre live ganz anders, aber das gilt auch für die Missa solemnis und Bruckners 8., überhaupt für alle groß besetzten Werke. Ich sehe den relevanten Unterschied nicht.


    viele Grüße


    JR

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  • Zitat

    Live hört man die musikalischen Zusammenhänge, während sie bei der Konserve verlorengehen. Damit wird die Musik ihres Sinnes beraubt. Moderne Musik ist zumeist rythmisch sehr komplex und fein gesponnen und viele Musikanlagen (auch klanglich sehr gute) haben heute noch große Probleme, das überzeugend wiederzugeben. Bei bekanntem Material fällt das oft nicht weiter auf, aber bei komplexer, unbekannter Musik kann sich unser Gehör dann keinen rechten Reim darauf machen - es wird eher als Krach empfunden.


    Hallo Theophilus,


    genauso habe ich es gemeint. Es geht mir nicht um "Klang" sondern um musikalische Strukturen. Wenn ich in einem Jazzclub Musik höre, steht da oft ein jämmerliches Wandklavier wo schon einige Liter Bier hineingeflossen sind. Klanglich ist’s keine "Ohren"weide, aber das tut der musikalischen Gesamtstruktur überhaupt keinen Abbruch.


    Bei Anlagen habe ich schon gehört, dass die Klappengeräusche der Holzbläser als Nebengeräusche und nicht als aufeinanderfolgende Ereignisse dargestellt werden. Die Probleme liegen an einer zeitlichen Verschiebung im Ein- und Auschwingverhalten, was eine Menge Verständnisprobleme in z.B. Impulsdarstellungen verursacht, und sich durch bestimmte Instrumentenkoppelungen ergebenden Klangfarben verfälscht. Das hat nichts mit Durchhörbarkeit sondern bei zeitgenössischer Musik eher mit fehlender Erfahrung zu tun, denn es gilt für grosse und kleine Besetzungen. In der Regel kann ich bei der Konserve keinen tiefen Bratschenton von einem hohen Celloton unterscheiden.


    Aber das führt wirklich zu weit in diesem Thread.


    Viele Grüsse
    Walter

  • Zitat

    Original von Johannes Roehl
    In Konwitschnys Inszenierung des "Don Giovanni" in der Komischen Oper Berlin wurden die Tanzorchester im 1. Finale teils in Loge und Empore plaziert, was zu einer von mir nie vorher gehörten Durchhörbarkeit der gleichzeitigen Rhythmen führte.


    Ähnliches auch im schon legendären Hamburger "Klassenzimmer-Lohengrin" Konwitschnys. Zu Beginn des 3. Aktes beim Aufmarsch des Heeres waren postiert: links von der Bühne 4 Trommler, rechts von der Bühne 4 Blechbläser und in den äußersten linken und rechten Logen im 1. Rang jeweils eine Blechbläsergruppe. Ich saß idealerweise in der vorderen Mitte des Parketts und eine Amerikanerin neben mir staunte bewundernd: "Wow, genuine Stereo!" :D


    Grüße


    GiselherHH

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  • Hallo zusammen,


    Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    Stawinsky war der Meiniung, das "Sacre müsse man "Live" erlebt haben - jede Aufnahme würde das angestrebte Ergebnis verfälschen.


    Womit er recht hat - nicht nur für den Sacre, sondern so gut wie für jedes Werk. Es ist eine andere Thematik als die hier ursprünglich angeschnittene, in der ich im wesentlichen Johannes' Posting zustimmen will: Strawinksy ist durch Zeitablauf und regelmäßige Aufführung der Werke "vertrauter" geworden, weswegen uns schwerfällt, etwa den Skandal des Sacre heute noch direkt nachzuvollziehen. Wer das nachvollziehen will, muss heute wohl etwas tiefer einsteigen, herausfinden, was genau am Sacre zeitgenössischen Skandal verursacht hat. "Ungewohnt" ist der Sacre heute kaum noch - aber "ungewohnt", wie gesagt, ist auch die Eroica nicht mehr...


    Beste Grüsse,


    C.

    Die wirkliche Basis eines schöpferischen Werks ist Experimentieren - kühnes Experimentieren! (Edgar Varèse)

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  • Zitat

    Original von C.Huth


    Womit er recht hat - nicht nur für den Sacre, sondern so gut wie für jedes Werk. Es ist eine andere Thematik als die hier ursprünglich angeschnittene, in der ich im wesentlichen Johannes' Posting zustimmen will: Strawinksy ist durch Zeitablauf und regelmäßige Aufführung der Werke "vertrauter" geworden, weswegen uns schwerfällt, etwa den Skandal des Sacre heute noch direkt


    Der wesentliche Unterschied ist, dass Stravinsky einer der allerersten Komponisten gewesen sein dürfte, der sich überhaupt über die Wirkung von Musik im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit Gedanken machen mußte...


    Zurück zur Musik:
    Ich habe vorhin mal wieder Le Sacre gehört. Es ist nicht mein Lieblingswerk, obwohl es stellenweise ganz gut fetzt. Ich bin eh kein Ballettfan, von der frühen Trias Stravinskys ist mein klarer Favorit Petrouchka, mit dem Feuervogel kann ich fast gar nichts anfangen.
    Ein sehr ungewöhnliches, klanglich und überhaupt befremdliches, dabei aber mitreissendes Werk is "Les Noces" (russische Bauernhochzeit)
    Ich mag auch die neoklassizistischen, sehr klaren, stellenweise kühlen Werke sehr wie die pseudobarocken Konzerte (Dumbarton Oaks etc.) "Sinfonie in C" und besonders die "Sinfonie in drei Sätzen".
    Aufmerksam machen möchte ich auf die bei Naxos wiederveröffentlichten Aufnahmen des Stravinsky-Vertrauten Robert Craft; ein großer Erfolg für Naxos, der die Majors beschämen sollte:




    viele Grüße


    JR

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  • Ich erlaube mir, diesen Thread zu entstauben, wenngleich ich zur eingangs gestellten Frage (noch) nicht viel beitragen kann.


    Jahrelang konnte ich mit Strawinsky nicht viel anfangen, bis ich mir zufällig folgende Aufnahme zulegte



    Was ich hörte, macht eindeutig "Lust auf mehr", so daß ich um Anregungen nach Erweiterungen des Horizonts bitte.


    Johannes (übrigens, herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag ;) ) hatte einige Werke genannt, die ihm gefallen. Gibt es andere Meinungen und Empfehlungen?


    Obige Aufnahme kann ich voll und ganz empfehlen, denn für sehr wenig Geld gibt es hervorragend aufgenommene Werke. Ich denke (mangels Vergleichsmöglichkeiten), daß auch die Interpretation hohen Ansprüchen genügend dürfte.

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • Hallo Norbert,


    da Robert Craft jahrelanger Begleiter Strawinskys war und sich auch seine Lebensgeschichte anhörte und mit aufschrieb, denke ich, dass seine Lesart der frühen Ballette Strawinskys sehr nahe an der Intention des Komponisten liegt. Da mir vor allem Petruschka sehr am Herzen liegt, werde ich mir die Aufnahme mal vormerken.


    Bis dahin bin ich aber mehr als zufrieden mit meiner Aufnahme mit Karel Ancerl:



    Neben der Petruschka ist hier noch ein toller Sacre mit drauf. Unbedingt empfehlenswert IMO.



    Gruß, Peter.

  • Wie ich sehe, ist hier eigentlich hauptsächlich über Tontechnik geschrieben worden. Ich werde das jetzt ändern.


    Wie kam es überhaupt zum Titel dieses Threads ?


    Das liegt zum Teil an meiner Person. Ich mag Strawinsky nämlich im Allgemeinen. Einer der wenigen Komponisten des 20. Jahrhunderts, den ich akzeptieren kann. Un hier habe ich mir dann die Frage gestellt, warum das so ist. Hat er keine Kanten mehr - wenn ich mich schon nicht von dieser Musik abgeschreckt fühle ?


    Der Anknüpfungspunkt für mich sind die vielen Tonzitate, die Strawinsky verwendet, die Verbindung zu Tradition. Jedoch habe ich auch mit seiner Rhytmik und Kollagentechnik eigentlich keine Probleme.
    Seine Musik ist manchmal ein wenig aggressiv, aber immer effektvoll und beeindruckend, stellenweise sogar "schön"


    Ich fand die alten Boulez Aufnahmen für CBS beeindruckend, aber eigentlich gibt es etliche geglückte Aufnahmen.


    Hier zwei meiner Lieblingsaufnahmen



    Petruschke/Le sacre du Printemps


    und natürlich die Aufnahme von Petruschka unter Claudio Abbado....


    LG


    aus Wien



    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Strawinsky gehört nicht zu meinen Lieblingskomponisten. Ich glaube nicht, daß das unbedingt an mangelndem Zugang liegt, ich habe seine Ballette ja ganz gern gehört. Aber er gehört definitiv nicht zu den Komponisten, die mich begeistern oder erschüttern. Ich habe bei ihm auch nicht den Eindruck von Tiefe, sondern von genialer Oberflächlichkeit. Apollon Musagete ist allerdings schon wirklich ein sehr schönes Ballett, das liebe ich sehr, vor allem den Anfang.


    Aber vielleicht höre ich trotzdem mal wieder Strawinsky, nett zu hören ist er ja. Und wiegesagt, seine Genialität will ich ihm nicht absprechen. Nur ist das keine Genialität, die mich auf Dauer fesselt.


    Le sacre zum Beispiel schockiert mich keineswegs, im Gegenteil, ich höre es mit großem Genuß, aber vielleicht ist das gerade das Problem, daß hier eine junge Frau so höchst genußreich geopfert wird.


    Gruß Martin

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  • Zitat

    Original von Norbert
    Jahrelang konnte ich mit Strawinsky nicht viel anfangen, bis ich mir zufällig folgende Aufnahme zulegte


    Vielleicht weil Du dachtest, er sei ein Expressionist (er ist eher so etwas wie das Gegenteil ...) ;)



    Besten Dank (6 Forianer an zwei aufeinanderfolgenden Tagen Geburtstag...)
    Es kommt drauf an, was Dir sonst gefällt. Die beiden von mir weiter oben genannten CDs sind gut, allerdings habe ich die Werke auch erst mit diesen kennengelernt. Von den drei "griechischen" Balletten sind zwei sehr klangschöne, entspannte Werke, eins etwas knackiger. :D
    Ich würde auf jeden Fall mal in die drei Sinfonien ("in three movements" "in C" und die Psalmensinfonie) hereinhören; es gibt z.B. alle drei preiswert mit Tilson Thomas (Sony, diese CD habe ich, aber noch nicht gehört); ich kenne die Stücke aus anderen Aufnahmen, die aber vergriffen, historisch oder sonstwie nicht ohne Weiteres zu empfehlen sind. Die Sinfonie in C ist eine etwas ernstere (oder jedenfalls beißendere) Variante einer "Sinfonie Classique", die Sinfonie in drei Sätzen in gewissem Sinne Beethoven- oder Bruckner nah (was nicht heißen soll, dass sie so klingt)
    Ein alter Favorit von mir ist auch die "Geschichte vom Soldaten", aber man muß ein Faible für solche ungewöhnlichen, fast kleinkunstnahen Stücke haben. Empfehlungen für Le Sacre kann ja vielleicht C. Huth geben, nachdem er sich durch eine Million Einspielungen gehört hat...


    viele Grüße


    JR

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  • Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Empfehlungen für Le Sacre kann ja vielleicht C. Huth geben, nachdem er sich durch eine Million Einspielungen gehört hat...


    Ist in Arbeit, dann im entsprechenden Thread - aber wie das so geht, man hört dann doch nochmal zur Sicherheit diese und dann nochmal jene und entdeckt immer wieder andere Aspekte. Von daher kann ich bereits jetzt sagen, dass unter den zehn Sacres, die ich jetzt intensiver gehört habe, nur eine ist, die mich definitiv enttäuschte (oder besser: die mich zu lautem Lachen animierte, was nicht Sinn der Sache sein kann).



    Beste Grüsse,


    C.

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  • Johannes Roehl

    Zitat

    Vielleicht ist Stravinsky heute weniger kontrovers als Schönberg (obwohl der natürlich viel konservativer war


    Das ist die landläufige Auffassung. Pierre Boulez, wahrlich kein Anhänger der Konservativen, ist gegenteiliger Ansicht: Seiner Meinung nach ist Strawinskij moderner als Schönberg.
    Ich verkürze seine Argumentation: Alles, was Schönberg mit der Zwölftontechnik machte, ist ein Verankern der Musik im traditionellen Denken der Motivverarbeitung.
    Neu ist bei Schönberg die Atonalität und die in der expressionistischen Phase zutage tretende Auflösung der Thematik. Allerdings ist das eben nur ein Auflösungsprozess ohne Neuordnung.
    Die Neuordnung führt laut Boulez aber zurück zu den "alten Formen" und zur Zwölftontechnik - weshalb Boulez diese Periode Schönbergs konsequent als "neoklassizistische Phase" bezeichnet, weil Boulez meint, dass der Faktor der atonalen bzw. zwölftönigen Harmonik Schönbergs nicht überbewertet werden darf. Tendenziell ist Schönbergs Werk für Boulez daher konservativ.
    Der frühe Strawinskij hingegen führt nach der Meinung von Boulez Neuerungen ein, die die der Atonalität und Zwölftontechnik bei weitem übertreffen. Es sind Neuerungen im rhythmischen Bereich, vor allem in der Methode, aus einer rhythmischen Zelle einen größeren Abschnitt zu schaffen, womit der Rhythmus auch formbildende Kraft gewinnt. Der Rhythmus löst sich dabei von der Tonhöhe und wird zur rhythmischen Gestalt und damit zu einem motivisch verarbeitbaren Element der Komposition.
    Das führt konsequent weitergedacht zu Messiaens rhythmischen Modi, die ihrerseits am Beginn der seriellen Musik stehen.


    Abgesehen davon glaube ich, dass Strawinskijs Ästhetik moderner ist als die Schönbergs. Schönberg wurzelt tief in der Romantik, seine Musik ist Übersteigerung des Ausdrucks. Strawinskij hingegen kehrt sich davon ab: Seine Musik ist nicht der Ausdruck, sondern berichtet den Ausdruck. Strawinskij geht es nicht darum, den Zuhörer zu erregen, sondern dem Zuhörer mitzuteilen, wie erregt etwa Oedipus ist. Das halte ich (bei all meiner Skepsis gegenüber dem Neoklassizismus) für eine der großen Revolutionen der jüngeren Musikgeschichte.

    ...

  • Ich halte folgende Werke für "zu den Modernsten ihrer Zeit gehörig" (und auch - unabhängig davon - zu den allerbesten der Musikgeschichte überhaupt gehörig):


    Schönberg: 5 Orchesterstücke op. 16 (1909) (Atonalität, "Farbkomposition")
    Strawinsky: Le sacre du printemps (1913) (Rhythmik)
    Strawinsky: L'Histoire du soldat (1917) (Stilverfremdung)
    Schönberg: 5 Klavierstücke op. 23 (1924) (Zwölftontechnik)


    Die Frage, welcher von den beiden moderner sei, würde ich (entschieden) mit "unentschieden" beantworten. Alle in Klammer stehenden Aspekte spielen in der Musik des 20. Jh. wichtige Rollen und sind in den genannten Werken auf geniale und einflußreiche Weise (und besonders früh) zu finden.

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Johannes Roehl


    Das ist die landläufige Auffassung. Pierre Boulez, wahrlich kein Anhänger der Konservativen, ist gegenteiliger Ansicht: Seiner Meinung nach ist Strawinskij moderner als Schönberg.


    Eben genau das habe ich geschrieben, "obwohl der.." bezieht sich auf den letztgenannten, Schönberg, das mag mißverständlich sein (wobei das "obwohl" dann gar keinen Sinn ergäbne), aber ich bitte doch herzlich darum, den Kontext zu lesen:
    (ich schrieb)
    Vielleicht ist Stravinsky heute weniger kontrovers als Schönberg (obwohl der natürlich viel konservativer war, er nannte Igor den "kleinen Modernsky",


    Natürlich hast Du im Weiteren völlig recht und das viel besser und ausführlicher ausgeführt als ich es könnte. Aber ich wollte in der Tat genau dasselbe ausdrücken...
    Es gibt andererseits die Gegenposition Adornos, der Stravinsky für auf die "falsche Weise modern" hält (aber das liegt vermutlich an der unabschüttelbaren Posthegelschen (aber damit eigentlich auch Hegelschen) Weltsicht Adornos: Stravinsky ist entweder bloße Antithese zur Spätestromantik (oder atavistischer Regreß, beides ist natürlich auch viel zu simpel); Schönberg ist eine "dialektische" Antwort auf die Spätromantik, die wesentliche Elemente wie eben den Ausdruck bewahrt, während sie andere (die Tonalität) negiert.


    Zitat


    Abgesehen davon glaube ich, dass Strawinskijs Ästhetik moderner ist als die Schönbergs. Schönberg wurzelt tief in der Romantik, seine Musik ist Übersteigerung des Ausdrucks. Strawinskij hingegen kehrt sich davon ab: Seine Musik ist nicht der Ausdruck, sondern berichtet den Ausdruck. Strawinskij geht es nicht darum, den Zuhörer zu erregen, sondern dem Zuhörer mitzuteilen, wie erregt etwa Oedipus ist. Das halte ich (bei all meiner Skepsis gegenüber dem Neoklassizismus) für eine der großen Revolutionen der jüngeren Musikgeschichte.


    Das trifft allerdings auch auf ein paar andere Zeitgenosen zu. Und es ist natürlich umgekehrt vorgegeben im 18. Jhd.: Von einer rhetorischen Affektenlehre, die versucht präzise darzustellen, wie sich eine Bühnenfigur fühlt, zur Empfindsamkeit CPE Bachs, der meint, es könne nicht rühren, wer selbst nicht gerühret. Daher ja auch der häufige Bezug des "Neoklassizismus" auf barocke und vorbarocke Musik


    viele Grüße


    JR

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  • Hallo Johannes,


    danke für die "Aufklärung" ;) und die Hörtips.


    Ich werde demnächst mal auf Einkaufstour gehen und berichten...

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • hallo,
    strawinsky geht außer dem sacre (grandios :jubel: ),dem feuervogel , dem petruschka, dem sternenkönig und gewissen ausschnitten aus dem rake's progress sowie der psalmensymphonie überhaupt nicht an mich. als feind des neoklassizismus :kotz: komme ich natürlich mit vielen werken von ihm nicht zurecht.


    vieles berührt mich überhaupt nicht (das gibts bei mir fast nie), die frühen symphonien halte ich für langweilig und belanglos. aber vielleicht ändert sich das irgendwann noch ..aber ein bedürfnis habe ich bislang noch nicht, mich mit ihm weiter auseinanderzusetzen.


    ich bin mir auch nie sicher - wie bei picasso - ob stilvielfalt eher positiv oder negativ zu beurteilen ist. argumente lassen sich dafür wie dagegen finden. bei beiden schwanke ich zwischen genialischem scharlatan oder großem genie. im laufe meines lebens tendiere ich langsamst eher richtung letzterem.


    :hello:

    --- alles ein traum? ---


    klingsor

  • Das ist schade, ich finde auch das (neoklassizistische) Violinkonzert und das (zwölftönige) Requiem canticles genial. Aber selbstverständlich muß nicht jedem alles gefallen ...

  • Hallo Johannes!
    Tatsächlich - ein Lesefehler meinerseits! Peccavi... ;(


    Nun ganz subjektiv: Für mich hat Strawinskij nur eine handvoll Werke komponiert - aber vor denen verneige ich mich in größter Bewunderung. Es sind: "Sacre", "Le rossignol", "Swesdoliki" ("Sternenkönig"), "Les Noces", "Symphonies pour instruments à vent" (vorzugsweise die Erstfassung), "Histoire du soldat", "Psalmensymphonie", "Threni", "Requiem canticles".
    Wenn es um die anderen Werke geht, sind mir die der russischen Phase und die der Spätphase lieber als die neoklassizistischen.


    Überhaupt finde ich es schade, dass der späte Strawinskij so wenig ins Bewusstsein gedrungen ist. Natürlich ist das nicht mehr die farbintensive, vitale Musik der russischen Werke und es hat auch nicht den Reiz der leicht ironisierten klassischen Schönheit, die Strawinskij in der mittleren Schaffensperiode oft gelingt.
    Aber dieses Spätwerk mit seinen kargen Farben, seiner Reduktion auf das absolut Notwendige, seiner rituellen Starre ist für mich geradezu faszinierend.

    ...

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