Radu Marian ist einer der wenigen Sänger unserer Zeit, der über eine natürliche Sopranstimme verfügt. Seine Tessitura reicht vom eingestrichenen bis dreigestrichenen C, wobei er nicht im Falsett singt wie Countertenöre. Da diese Begabung Folge einer endokrinen Funktionsstörung ist, wird er in einigen Quellen auch als „endokrinologischer Kastrat“ bezeichnet, was ich allerdings für unglücklich halte. Es mag aber als Erinnerung daran dienen, dass Marian seine einzigartige Stimme wahrscheinlich mit einer erheblichen Beeinträchtigung seiner Lebensqualität zu bezahlen hatte.
Radu Marian wurde 1977 in Moldawien als Sohn einer Künstlerfamilie geboren. Schon mit 4 Jahren erkannte man sein außergewöhnliches musikalisches Talent. Der Knabe absolvierte eine Gesangs- und Klavierausbildung in Chisinau, Moskau und Bukarest, die er mit Konzertexamen abschloss. Er debütierte auf dem Internationalen Festival der Kreativität in Moskau im Jahr 1989. Im Jahr 1990 gewann Radu Marian den ersten Preis auf dem Internationalen Talentfestival in Chisinau. Es folgten eine Reihe von renommierten Auszeichnungen und erfolgreichen Auftritten. Mit 22 setzte Radu Marian seine Ausbildung in Italien bei Flavio Colusso fort. 2000 nahm er seine erste CD «Alia Vox» auf und wirkte an der Uraufführung der Oper «Il Gioco dei Mostri» von Lucio Gregoretti und Nicola Sani mit. Der Sopranist war häufiger Gast bei vielen renommierten europäischen Musikfestivals u.a. in Spoleto, Viterbo und Vilnus und trat in vielen europäischen Musikmetropolen auf. Sein Repertoire umfasst Musik aus dem frühen 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Namhafte zeitgenössische Komponisten schrieben Kompositionen speziell für seine Stimme, darunter Flavio Colusso, Sergio Rendine, Carlo Crivelli und René Clemencic.
Als ich zum ersten Mal eine Aufnahme von ihm hörte, traute ich meinen Ohren nicht: Kann ein Mann so singen? Ja, Radu Marian kann es und erweckt die verloren gegangene Welt der Kastraten wieder zum Leben. Wenn man ihn hört, erkennt man erst, welche Kompromisse man heute bei der Aufführung von Barock-Opern eingehen muss.
Leider habe ich keine Informationen über seinen weiteren Weg in den letzten Jahren gefunden. Es gab keine Schallplattenaufnahmen mehr, und ich fand auch keine Hinweise auf eine noch andauernde Konzerttätigkeit. Weiß jemand, was aus ihm geworden ist?
Marians Diskographie ist recht beschränkt. Sein Debüt-Album „Alia Vox“ ist leider vergriffen. Wenn jemand eine Bezugsquelle kennen sollte, wäre ich für einen Hinweis sehr dankbar:
Sehr empfehlen kann ich diese CD:
Mit Gunar Letzbor hat Marian öfter zusammengearbeitet (auch hier leider einiges vergriffen):
Schließlich wirkte er bei dieser wunderschönen Aufnahme von Albinonis Serenata „Il Nascimento dell'Aurora“ mit, er singt die passende Rolle des Zephyr:
Auf Youtube gibt es zum Glück eine große Zahl von Klangdokumenten, die einen Eindruck von seiner Stimme geben. Hier nur eine kleine Auswahl, weitere findet man leicht: