David Matthews - britischer Symphoniker des 20. und 21. Jahrhunderts

  • David Matthews (Jahrgang 1943) ist ein englischer Komponist, der von sich selbst sagt, er sei besessen davon, Symphonien und Streichquartette zu schreiben. Laut Auskunft seiner website ist er inzwischen bei den Nr. 9 (Symphonie) und Nr. 14 (Streichquartett) angelangt, womit er dem output von Robert Simpson nahekommt. Allerdings schreibt Matthews darüber hinaus für viele andere Genres ist dementsprechend ungefähr bei Opus-Nummer 150 angelangt.
    Matthews stammt aus einer Mittelklasse-Familie, die aber großen Wert auf eine gute Ausbildung legte. So erlernte er auch das Klavierspiel und zeigte einiges Talent. Die Pubertät über interessierte ihn aber eher der Rock’n Roll. Mit sechszehn entdeckte er die Klassik für sich wieder und entschied relativ schnell, dass er Komponist werden müsse. 1959 kaufte er sich eine Aufnahme von Beethovens 9ter und begann unmittelbar darauf eine erste Symphonie zu schreiben. Seinen jüngeren Bruder Colin Matthews trieb Ähnliches um, und so haben wir hier die in der Neuzeit sicher selten vorkommende Konstellation, dass zwei Brüder als Komponisten beide erfolgreich sind.
    Ohne formales Musikstudium rutschte Matthews irgendwie in die Musikwelt hinein. Er und sein Bruder unterstützen Deryck Cooke bei der Komplettierung von Mahlers Zehnter und David wurde für drei Jahre Assistent von Benjamin Britten. Dort erlebte er hautnah, wie ein Komponist arbeitet. Er traute sich aber nicht, Britten etwas von seiner eigenen Musik zu zeigen und um Rat zu bitten. Matthews bewunderte auch Michael Tippett, aber auch der unterrichtete nicht. Über beide Komponisten schrieb Matthews übrigens Biographien. Schließlich nahm David Privatunterricht bei Anthony Milner und Nicholas Maw. Von vorneherein war ihm klar, dass er nicht dem musikalischen Trend der Gegenwart – sprich der seriellen oder aleatorischen Komponierweise entsprechend – komponieren wollte, sondern in der tonalen symphonischen Tradition. Als Einflüsse nennt er Beethoven, Mahler, Sibelius, den frühen Schönberg, Stravinsky, Bartok sowie Britten und Tippett. Die Musik von Matthews ist keineswegs leicht zugänglich, sie ist komplex und weist z.T. erhebliche Dissonanzen auf, ist aber immer tonal zentriert. Damit ist der bis heute sehr aktive Komponist das britische Gegenstück zu Finnlands Kalevi Aho, Dänemarks Per Norgard oder zum US-Amerikaner Christopher Rouse. Wie diese trägt er die symphonische Tradition mit interessanten Gattungsbeiträgen hinüber in 21. Jahrhundert. Die Symphonien 1-7 und die Streichquartette 1-11 liegen in exzellenten Einspielungen vor. Ich werde in den kommenden Monaten einiges davon vorstellen.


  • Die erste Symphonie von David Matthews entstand 1975 und wurde 1978 noch einmal überarbeitet. Frühere Versuch liess der Komponist nicht gelten. Matthews schreibt zu seiner ersten Symphonie: Zu der Zeit wo ich meine erste Symphonie schrieb, war ich an einsätzigen Lösungen des symphonischen Problems interessiert, wie in Schönbergs 1. Kammersymphonie oder der siebten von Sibelius. Demnach besteht das Werk nur aus einem mit "Freely" bezeichneten Satz, der knapp 20 Minuten dauert. Von den weiter oben genannten Einflüssen sind hier IMO vor allem Stravinsky (Petrushka) und Bartok (Musik für SSC, Blaubart's Burg) zu nennen, die mit einigen Fastzitaten eingearbeitet sind. Diese werden aber geschickt in einen symphonischen Fluss integriert, so dass sie wie ferne Reminiszenzen wirken. Das einsätzige Werk kann schon mit einigen originellen Ideen aufwarten, so beginnt es z.B. mit einem Harfensolo, dem ein Kanon für 4 Celli folgt, der auch das Hauptmotiv der Symphonie enthält, das später noch im Scherzo und Finale wieder auftaucht. Das Stück muss man mehrmals hören, um alle Details mitzubekommen, aber ich finde, es lohnt sich.
    Die Erstversion wurde durch Norman del Mar beim Stroud Festival 1975 aus der Taufe gehoben, das Werk hiess zu dieser Zeit noch Sinfonia. Der Komponist war aber mit dem Ergebnis noch nicht zufrieden und überarbeitete die Partitur 1978. Inzwischen war auch die 2. Symphonie komponiert, so dass aus der Sinfonia die erste wurde.

    Die vorliegende Einspielung entstand im Oktober 2008 für Michael Duttons Hauslabel, das BBC NO of Wales wird von Martyn Brabbins geleitet. Da diese CD auch die Symphonien 3 und 5 enthält, die jeweils ein Jahrzehnt später entstanden, stellt sie einen guten Einstieg in den Klangkosmos von David Matthews dar.

  • David Matthews zweite Symphonie entstand in den Jahren 1976-1979. Der Komponist schreibt: Ich hatte zwei formale Ideen. Die erste war, dass Anfang und Ende musikalisch gleich sein sollten und dazwischen würde es eine gradweise Beschleunigung von sehr langsam zu so schnell wie möglich geben. Die zweite Idee war, das Orchester in seine unterschiedlichen Gruppen einzuteilen und jede eine Sektion dominieren zu lassen nach folgendem Schema:


    Introduction - tutti
    ungestimmte Perkussion
    Adagio - Streicher
    Sonata allegro Blechbläser
    gestimmte Perkussion
    Scherzo - Holzbläser
    Epilogue tutti


    Das Stück ist 35 min lang und wird ohne Unterbrechung gespielt. In der Popmusik und im Jazz ist in den 60er und 70er Jahren ja viel mit Drogen experimentiert worden. Was uns David Matthews hier anbietet, klingt als wenn es ebenfalls teilweise unter bewusstseinserweiternden Drogen komponiert wurde. Ein veritabler Soundtrip ist das, der in dieser Form mit nichts vergleichbar ist, was ich kenne. Er beginnt mit einem Fagottsolo, das dem von Le Sacre nicht unähnlich ist. Nach dem Einstieg des Orchesters kommt schon bald eine erste Perkussionsorgie und so weiter ... kann man eigentlich nicht gut beschreiben, muss man hören. Die letzten 5 min (Epilogue) sind einfach nur grandios, mit das Beste, was in den letzten 50 Jahren komponiert wurde
    Die zweite Symphonie ist Nicholas Maw gewidmet und wurde 1982 vom Philharmonia Orchestra unter Simon Rattle uraufgeführt. Schade, dass er das nicht eingespielt hat. Allerdings ist auch die vorliegende Aufnahme fabelhaft.

  • Die fünfte Symphonie von David Matthews entstand Ende des letzten Jahrhunderts und wurde 1999 bei den Proms uraufgeführt. Das ca 22-minütige Werk ist klassisch viersätzig und für ein Schubert-Orchester plus einen Perkussionisten gesetzt. Das Werk ist von den bisher gehörten sicher das hörerfreundlichste und eingängigste, der schwungvoll eröffnende Kopfsatz erinnert in seiner übersprudelnden Art an Symphonien von Martinu oder Roussel. Auch Nielsen ist an einigen Stellen nicht weit. Des Kopfsatzthema bleibt ziemlich schnell im Ohr hängen. Sicher das ideale Werk um den Komponisten kennenzulernen.

  • David Matthews hat neben seinen 9 Symphonien auch mehrere symphonische Dichtungen komponiert, darunter die 27-minütige The Music of Dawn. Inspiriert wurde das Stück von dem Bild gleichen Namens, das das Cover der CD ziert. Das Bild stammt von Cecil Collins (1908-1989), einem Maler, den Matthews kennengelernt hat und für einen bedeutenden Maler des 20. Jahrhunderts hält. Nun darüber kann man vermutlich streiten.
    Das Stück lässt relativ hemmungslos den Impressionismus wiederaufleben, mit Klängen die von Delius über Debussy und Ravel bis Respighi reichen und insofern wenig Hörprobleme bereiten, wenn man diese Komponisten mag. Das großbesetzte Orchester unter Rumon Gamba mit umfangreichem Schlagwerk wird der Naturschilderung eines Sonnenauf- und untergangs voll gerecht und wer an dieser Art von Musik Freude hat (wie ich) braucht nicht lange zu zögern. Leider nur noch auf dem Second Hand Markt erhältlich.

  • Anfang des neuen Milleniums schrieb David Matthews für den britischen Cellisten Steven Isserlis sein Cellokonzert "In Azzurro", der es dann auch uraufführte. Davon gibt es eine Aufnahme auf youtube.. Auch dieses einsätzige Werk macht ausgesprochen Freude zu hören. Auch hier kehrt er zu einer Tonsprache zurück, die am Anfang des letzten Jahrhunderts entwickelt wurde, eine überreiche spätromantische Musiksprache a la Korngold und Schreker. Hier einfühlsam gespielt von Guy Johnston.

  • Cantiga ist eine dramatische Szene für Sopran und Orchester, die David Matthews auf Anregung der trinidadisch-britischen Sopranistin Jill Gomez schrieb. Die Szene erzählt in den lyrischen Texten von Matthews' damaliger Lebenpartnerin Maggie Hemingway (keine Verwandtschaft mit Ernest) die Geschichte von Ines de Castro, die im spanischen und portugiesischen Kulturraum mythischen Charakter besitzt: Sie kommt um 1340 als Hofdame an den spanischen Hof und der Infant, Dom Pedro, verliebt sich ihn sie. Sie werden heimlich ein Paar, obwohl der regierende König andere Pläne hat. Nach dem Tod der ersten Gattin von Dom Pedro heiratet dieser heimlich Ines. Als der König dahinter kommt, lässt er Ines ermorden. Nach dem Tod seines Vaters wird Pedro I neuer König und zieht alle Mittäter zur Verantwortung und schneidet ihnen eigenhändig das Herz aus dem Leib. Die tote Geliebte wird exhumiert und als Skelett auf den Thron gesetzt. Alle müssen ihr die verweste Hand küssen. Pedro I baut ein riesige Grab, indem er und Ines Fuss and Fuss beerdigt liegen um am Tag der Auferstehung sich ins Gesicht zu sehen.
    Die Geschichte wird aus Sicht der Ines erzählt auch über ihren Tod hinaus. Die Musik des 25-minütigen Werkes würde ich irgendwo zwischen Mahlers und Zemlinskys Liedsymphonien und Schönbergs Erwartung einordnen. Für die drastischeren Szenen wird die Musik dementsprechend ziemlich expressionistisch. Ein interessantes und hörenswertes Werk, dass von der Auftragsgeberin hier referenzmäßig umgesetzt wird.
    Die Aufnahme stammt von 1991.


    Jill Gomez

  • Schön, dass wieder ein zeitgenössischer Komponist hier Einzug erhält. Ich habe soeben die bereits vorgestellte 5. Sinfonie kennengelernt, und zwar, wie ich vermute, in der ursprünglichen Besetzung als op. 78 (also ohne den Zusatz "a", mit doppelten Bläsern; besteht die nachträgliche Orchestererweiterung auch aus Bläsererweiterung?). Lutgra hat bereits angedeutet, dass das Stück eher gemäßigt klingt. Ich denke ebenfalls, dass sich auch neutonphobische Hörer von diesem Orchesterstück nicht erschrecken lassen, sondern möglicherweise Gefallen finden könnten. Durch die behutsame Orchestrierung, wobei auch der Schlagzeuger fast ausschließlich Töne und nicht Geräusche spielt, wirkt der orchesterklang eher sanft.


    Ich bin mal gespannt auf weitere Stücke von Matthews, werde mir deshalb die erste Folge der Streichquartette bestellen.


    Uwe

    Ich bin ein Konservativer, ich erhalte den Fortschritt. (Arnold Schönberg)

  • Na toll, jetzt "muss" ich schon wieder irgendwas auf meine Wunschliste schieben...


    Hallo Frank,
    man kann sich aber auch getrost sinnvollerweise seinen eigenen CD´s zuwenden und davon ausgehen, dass das doch nicht so dolle sein wird:

    Zitat

    Lutgra hat bereits angedeutet, dass das Stück eher gemäßigt klingt.


    Bei der Auswahl an Musik muss man langsam sondieren !!!
    ;) Oder mal Schubert - Sinfonien hören .... ( :D sorry - den letzten Satz versteht jetzt nur Frank als "Wink mit dem Zaunpfahl" ;) !)

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

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  • man kann sich aber auch getrost sinnvollerweise seinen eigenen CD´s zuwenden und davon ausgehen, dass das doch nicht so dolle sein wird:


    Wat de Buur nich kennt, dat frett he nich!


  • Wat de Buur nich kennt, dat frett he nich!


    Das ist völlig richtig, so wird man kaum darum heraumkommen, sich mit Mathews zu beschäftigen und zumindest mal rein zu hören. YT gibt die Gelegenheit dazu.
    ;) Aber wenn Du im Vorfeld schon schreibst, dass das Stück eher gemäßigt klingt ... dann ist gerade bei Dir, der Vielem noch etwas abgewinnen kann, eher Zurückhaltung angesagt.
    :!: Für solche Ansagen bin ich zudem immer dankbar, damit man weiss ob es sich wirklich lohnt.



    Es gibt ja kaum einen Tamino, der so viele NoName-Komponisten vorstellt und damit bekannt macht, wie Du, lieber Lutgra.
    :hello: Dafür sei Dir an dieser Stelle ausser der Reihe erst einmal ein Dank ausgesprochen !


    Aber wenn man so viel Neue unbekannte Komponisten vorstellt, ist neben absolut spannendem Repertoire auch oftmals auch ein Langweiler dabei.
    Es stehen so manche CD´s von NoName-Komponisten in meinem Regal, die von Dir hoch beworben wurden und dann doch nicht den erwarteten Erfolg brachten. Bei EBAY braucht man mache NoNamer erst gar nicht einzustellen, weil die ohnehin Keiner kauft und sich auch sonst Keiner dafür interessiert ...
    Bei Dir ist die Grenze, was noch als Interessant empfunden wird einfach niedriger als bei mir, denn Du kannst so manchem ja noch etwas abgewinnen, was ich bereits als lasch empfinde.

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Es gibt ja kaum einen Tamino, der so viele NoName-Komponisten vorstellt und damit bekannt macht, wie Du, lieber Lutgra.
    Dafür sei Dir an dieser Stelle ausser der Reihe erst einmal ein Dank ausgesprochen !


    Lieber Wolfgang
    danke für die Lorbeeren. Ich hoffe, der Stapel an durch mich veranlasste "Fehlkäufe" ist nicht so hoch, dass Du jetzt gar nicht mehr auf meine Empfehlungen hörst.


    David Matthews ist in Deutschland sicher kaum bekannt, in GB aber eine fixe Grösse, also sicher kein NoName. Tatsächlich haben sich schon deutlich mehr Dirigenten für sein Werk stark gemacht als z.B. für das von Robert Simpson, dessen Diskographie ja fast eine Ein-Mann-Veranstaltung darstellt (Vernon Handley mit etwas Unterstützung von Matthew Taylor). Kürzlich erschien ein hochinteressantes Buch zum 70. von Matthews, das zumindest ich mit Gewinn gelesen habe. Seine Musik wird dort von zahlreichen Kollegen (einschließlich Paul McCartney, dem Matthew bei einigen seiner Projekte zur Seite stand) gewürdigt und es finden sich auch Artikel von Matthews selbst über seine Mitarbeit an Mahler 10 und seine Zeit bei Britten. Ich bin noch nicht in der Lage, über die Musik von Matthews abschliessend zu urteilen. Sie ist auf der einen Seite eher konservativ, vor allem beeinflusst von den Klassikern des 20. Jahrhunderts und der englischen symphonischen Tradition. Sie ist aber auch so komplex, das einmaliges Hören nicht ausreicht um die Klangstrukturen zu erfassen. Ich fand Mahler 9 oder Sibelius 6 und 7 auch beim ersten Hören nicht gleich großartig, sondern erst die Beschäftigung über einen längeren Zeitraum mit diesen Werken, hat mir ihre Genialität zeigen können. Ich vermute, dass es mit Matthews ähnlich sein könnte. Für Matthews ist übrigens Sibelius 7 eines der allergrössten Werke und das dort erstmals prominent erarbeitete Konzept einer einsätzigen Symphonie bestimmt auch mehrere seiner Werke.

  • Die achte Symphonie von David Matthews liegt zwar noch nicht auf CD vor, wird/ist aber wie auch die neunte eingespielt und dürfte mittels Jahresfrist erscheinen. Auf youtube kann man sie aber schon hören, soweit ich verstehe ist es die UA mit der BBC Philharmonic unter Leitung des österreichischen Kompoisten und Dirigenten HK Gruber. Wie diese Connection zustande kam, weiss ich leider nicht. Auch nicht, ob sie in dieser Einspielung auch auf CD erscheinen wird.


    Die achte von Matthews ist knapp eine halbe Stunde lang und relativ unproblematisch. Dürfte niemandem verschrecken, der eine gewisse Affinität zur britischen Symphonik hat, ist ein eher lyrisch geprägtes Alterswerk.


  • Inzwischen hat David Matthews die 10. Sinfonie mit Verspätung (wg. Covid) öffentlich aufgeführt. Alle im Überblick:


    Op.9 Symphony No.1 1975-1978, revidiert 2007

    Op.17 Symphony No.2 1976-1979

    Op.37 Symphony No.3 1983-1985

    Op.51 Symphony No.4 1989-1990

    Op.78 Symphony No.5 1998-1999

    Op.100 Symphony No.6 2003-2007

    Op.109 Symphony No.7 2008-2009

    Op.131 Symphony No.8 2014

    Op.140 Symphony No.9 2016

    Op.157 Symphony No.10: Regeneration 2020-2021 ( Uraufführung erst am 20. Mai 2022 mit dem BBC Philharmonic Orchestra unter Jac van Steen, Übertragung im Radio durch BBC3)


    alle Sinfonien erschienen bei Faber Music

    Alles Gute und einen Gruß von Orfeo