Beethoven, Klaviersonate Nr. 29 B-dur op. 106 "Hammerklavier-Sonate", CD (DVD)-Renzensionen und Vergleiche (2017)

  • Einführungstext zur Klaviersonate Nr. 29 B-dur op. 106 "Hammerklaviersonate" von Ludwig van Beethoven:


    Das Erscheinen der Sonate wurde im September 1819 u. a. mit folgenden Worten angezeigt:
    "So bemerken wir nur in einigen Zeilen, dass dieses Werk sich vor allen anderen Schöpfungen des Meisters nicht allein durch die reichste und größte Phantasie auszeichnet, sondern dass dasselbe in Rücksicht der künstlerischen Vollendung und des gebundenen Stils gleichsam eine neue Periode für Beethovens Klavierweke bezeichnen würde.
    Die beiden ersten Sätze entstanden 1817 und wurden im April 1818 für den Erzherzog Rudolph, dem das Werk gewidmet ist, ins reine geschrieben. Irgendwann im Jahre 1818 war das erste Autograph der großen Sonate fertig:


    Die Beschreibung ist so komplex, dass ich der Einfachkeit halber


    Aufbau:


    1. Satz: Allegro, B-dur, Alla breve: 405 Takte, mit WH Exposition 530 Takte
    Exposition:
    Hauptthema:
    1. Teil: Takt 1 bis 16, 2. Teil Takt 17 bis 34, 3. Teil: Takt 35 bis 38;
    Überleitung: Takt 39 bis 46,
    Seitensatz 1. Phase: Takt 47 bis 63. 2. Phase: Takt 64 bis 73, 3. Phase: Takt 74 bis 80, Wiederholung: Takt 81 bis 99,
    Schlussgruppe, 1. Gedanke: Takt 100 bis 111, Takt 112 bis 125;
    Durchführung:
    Einleitung: Takt 125 bis 133, Kern der Durchführung: Takt 134 bis 213, Letzter Durchführungsteil: Takt 214 bis 226:
    Reprise und Schlussgruppe: Takt 227 bis 349
    Coda: Takt 350 bis 405;


    2. Satz:
    Scherzo, Assai vivace, B-dur/b-moll, 3/4-Takt, 175 Takte
    Thema: Takt 1 bis 7, Fortsetzung Takt 8 bis 14,
    Mittelteil: Takt 15 bis 22
    Wiederholung der Fortsetzung: Takt 23 mit Auftakt bis Takt46;
    Trio:
    Auflösung des Themas Takt 47 bis 54,, nach Art von zwei Liedstrophen: 1: Takt 47 bis 62/63, 2: 63 bis 80, ab Takt 81 Bestrebungen, vom Trio zum Scherzo zurückzukehren, doch liegt hier der (gewollte) Zusammenbruch der konventionellen Form nahe, wie so oft in Beethovens Spätwerk- nach vielem Hin und Her Rückkehr zum Scherzo ab Takt 121/122 bis Takt 175;


    3. Satz:
    Adagio sostenuto appassionato e con molto Sentiment, fis-moll, 6/8-Takt, 187 Takte
    Hauptthema, Takt 1 bis 18
    Wh. des 2. und 3. Melodieteils, Takt 18 bis 26
    Takt 27ff. Überleitung zum 2. Thema
    ab Takt 45: zweites Thema bis Takt 68
    Durchführung: ab Takt 69
    Reprise: ab Takt 87
    Coda: ab Takt 154


    4. Satz:
    Largo, Un poco piu vivace, Allegro, prestissimo, 4/4-Takt, Allegro risoluto, 3/4-Takt, 400 Takte


    Largo: Takt 1 bis 2
    Allegro: Takt 3 bis 10
    Allegro risoluto:
    Takt 11 bis 15 Abschluss und Übergang zur Fuge:
    Gliederung des Allegro Risoluto:


    I:. Takt 16 bis 84: Hauptinhalt: Exposition des Themas in B-dur
    II:. Takt 85 bis 152: Hauptinhalt: Vergrößerung des Themas (es-moll)
    III: Takt 153 bis 207: Hauptinhalt: Rücklauf des Themas (h-moll)
    IV: Takt 208 bis 249: Hauptinhalt: Umkehrung des Themas (G-dur)
    V:. Takt 250 bis 278: Hauptinhalt: Durchführung des 2. Themas (D-dur)
    VI: Takt 279 bis 293: Gleichzeitiger Auftritt des 1. und 2. Themas
    ....Takt 294 bis 348: Originalgestalt und Umkehrung des 1. Themas gleichzeitig
    ....Takt 349 bis 366: Schlussankündigende Durchführung des Themas (sämtlich in B-dur)
    VII. Takt 367 bis 400: Coda


    Die Beschreibung ist so komplex, dass ich der Einfachkeit halber den Text aus dem Wikipedia-Artikel nach hierhin kopiere:


    Nach dem „konventionellen“ Sonatenmuster der Wiener Klassik hat die Hammerklaviersonate zwar vier Sätze; Beethoven unterteilt, variiert und erweitert sie jedoch in „atemberaubender“ Weise. Konflikte und Lösungen machen die Sonate gerade in formaler Hinsicht zu einem Meilenstein der Musikgeschichte.
    Kennzeichen aller Sätze sind die Terz und der harmonische Gegensatz zwischen B-Dur und h-Moll – majestätisch-mächtig die eine, „schwarz“ (auch für Beethoven selbst) die andere Tonart.[3] Zwar findet die Sonate in jede Tonart, das B/h-Paar kehrt jedoch immer wieder zurück, z. B. in der Reprise, wenn die Fanfaren der Anfangstakte plötzlich in Moll ertönen und das ganze Geschehen in ungeheure Tiefen verlagern.
    Erster Satz


    Die Anfangsakkorde der Hammerklaviersonate
    Allegro (B-Dur, Alla breve) – Als einzige seiner Klaviersonaten hat Beethoven die Große in allen Sätzen metronomisiert. Ob der 1. Satz mit =138 „richtig“ und „spielbar“ sei, diskutieren Pianisten und Musikwissenschaftler seit bald 200 Jahren. Bereits die Wucht des trompetenartigen Eingangsmotivs deutet die neuen Dimensionen musikalischen Ausdrucks an: siebenstimmige Fortissimo-Akkorde als Einleitung, gefolgt von einer Fermate. Danach ein sangliches Thema mit harmonisch höchst mehrdeutigen Mittelstimmen. Alternierende, rasend schnelle Oktaven weiten sich vom Bass bis zum Diskant und führen zurück zur Tonika-Fanfare des Anfangs. Es schließt sich ein eher lyrisches zweites Thema an, nun in G-Dur (von B-Dur eine kleine Terz entfernt), wobei der Schlussteil der Exposition wiederum an den Fortissimo-Beginn anknüpft.
    Die sehr intensive Durchführung steht in Es-Dur, der punktierte Rhythmus der Anfangsfanfare wird durch einen immer reichhaltiger werdenden Kanon geschickt, der trotz aller erfolgenden Steigerungen immer wieder auseinander läuft, scheinbar nie zu einem (erlösenden) Ende kommt. Auch die letzte Steigerung in Fortissimo-Akkorden läuft schließlich in einem Ritardando aus und Beethoven moduliert nach h-Moll und -Dur, wobei nun der cantabile Schlussgedanke der Exposition als Überleitung zur Reprise fungiert.
    Diese steht nun wieder in der Tonika und wiederholt im Prinzip die Exposition. Und doch ist alles anders: Plötzlich kommen im ersten Thema Nebenstimmen hinzu, alles wird unruhiger, aufgeregter, instabiler. Die Harmonik entfernt sich noch weiter von B-Dur als in der Exposition, um am Ende des ersten Themas in der „Schreckensfanfare“ in h-Moll zu gipfeln. Doch auch an dieser „tragischen“ Stelle macht Beethoven nicht halt, wieder ändert sich die musikalische Richtung, das zweite Thema steht wiederum in B-Dur, hat aber ebenfalls verschiedene Änderungen erfahren.
    Die Coda mit ihren gebrochenen Oktaven ist klaviertechnisch sehr anspruchsvoll; nachdem noch einmal die Melodie der Schlussgruppe ertönt ist, schließt der Satz auf einer Fantasie über die Anfangsakkorde im Fortissimo.
    Zweiter Satz
    Scherzo: Assai vivace – B-Dur/b-Moll, 3/4-Takt
    Liebenswürdige und kauzige, hintergründige und bissige Klavierscherzos schrieb Beethoven schon in den Klaviersonaten op. 2, op. 14, op. 26 und op. 31. Nr. 3, aber – vielleicht abgesehen vom 2. Satz der 9. Sinfonie – kein vergleichbar abgründiges. Die punktierten Viertel könnten für „ernste Heiterkeit“ stehen – wenn sie nicht „sehr lebhaft“ gespielt werden müssten. Hier nicht zu hasten (3/4=80), den richtigen Ton zu finden und die dynamischen Vorschriften auf engstem Raum nicht zu überspielen, ist mehr als nur „schwer“. Der b-Moll-Abschnitt mit leeren Tonika-Oktaven in der einen und ausgreifenden Triolen in der anderen Hand treibt das Drama voran. Das brodelnde und zugleich verhangene Semplice baut eine enorme innere Spannung auf, die sich im Presto entlädt: In drei mal acht 2/4-Takten weiten sich die gleichläufigen Piano-Achtel über Sextakkorde zu Fortissimo-Oktaven, die in der F-Dur-Dominante – mit Sforzato auf jedem Viertel – in den Bass stürzen und nach einer Atempause in der F-Tonleiter prestissimo in den Diskant stürmen. Achtel-Fermate, auf die ein tremolierter Dominantseptakkord folgt. Dreiviertel-Pause – und das punktierte Scherzo-Thema ist wieder da – dolce, als sei alles nur ein „Scherz“ gewesen. Dass es keiner war, zeigt sich im viertaktigen Alla breve-Presto. 20 gehämmerte Doppeloktaven fallen schließlich von H auf B. Noch ein dreitaktiger Schatten des punktierten Themas. Schluss im Pianissimo.
    Dritter Satz
    Den berühmten Eingangstakt – Una corda, mezza voce – schob Beethoven Monate nach der Fertigstellung nach. „Wie aus unermesslicher Tiefe geholt“ (Theodor Adorno), führen die beiden Oktaven in der A-Dur-Terz zu dem überwältigenden fis-Moll-Thema – tiefe Trauer in erhabener Ruhe. Aus ihr steigt in derselben Tonart das zweite Thema. Con grand´espressione singt es machtvoll-stolz über Mittelstimmen und Tonika-Akkorden im Bass.
    Zwar wiederum in Sonatenhauptsatzform, ähnelt das Adagio einem Variationssatz, denn alle Themen kehren in immer anderer Gestalt wieder. Beethoven greift dabei „romantischer“ Klaviermusik voraus: Das vielstimmige Eingangsthema erinnert an Schumann oder Brahms. In der Überleitung zum zweiten Thema lässt die Verwobenheit von Begleitung und Melodie an Chopins Nocturnes denken.
    Themenveränderungen sind zwar typisch für Beethovens Spätwerk, wie in der Arietta von op. 111 finden sie aber in diesem Adagio zu höchster Ausprägung. Themen werden in Zweiunddreißigstel-Läufe aufgelöst und um Figurationen, Mittelstimmen und Verzierungen „bereichert“. Mit den Modulationen überwindet Beethoven alle – auch seine eigenen – Konventionen. Bei aller Spannung und Weite ist der dritte Satz doch Ruhepunkt und Ausdruck melancholischen Meditierens. Alles Irdische hinter sich lassend, endet er in ätherischem Fis-Dur.
    Vierter Satz
    Largo, Un poco piu vivace, Allegro, Prestissimo, 4/4 – Allegro risoluto, 3/4
    Ein improvisatorisch wirkendes Spiel mit Takt, Tempo, Rhythmus und Tonart führt von den Abgründen des Adagios zur gewaltigen Schlussfuge. Dolce führen sachte F-Oktaven über Des-Dur und b-Moll zum Ges-Dur – dem enharmonischen Fis des Adagios. In Zweiunddreißigstel-Läufen und „ein wenig lebhafter“ geht es zum im Tempo I gehaltenen H-Dur, der Dominante des jetzt versinkenden Fis-Dur. In der Paralleltonart gis-Moll kündigen erst zwei, dann vier Stimmen in fünf Takten die Fuge an. Über schlichte Grundakkorde im Tempo I findet das H-Dur über die Subdominante E-Dur und die Paralleltonart cis-Moll zum A-Dur. Das Tenuto–Zitat des Anfangs fällt in explodierenden Synkopen vom Fortissimo ins Pianissimo und endet, wie die „Einleitung“ begonnen hat – in F-Dur, der Subdominante vom B-Dur des Kopfsatzes und der Fuge.
    Das Allegro risoluto (1/4 = 144) beginnt mit leisen Trillern auf dem F-Akkord, die in vier Takten zum Hauptthema der Fuga a tre voci, con alcune licenze führen. Sie ist eines der größten kontrapunktistischen Werke Beethovens und gilt als einer der schwierigsten Sätze der Klavierliteratur. Das Thema basiert auf absteigenden Sechzehntelläufen und wird in unzähligen Varianten in den folgenden fast 400 Takten durchgespielt. Zwischenzeitlich kommt ein zweites Thema in Vierteln hinzu, das mitunter gleichzeitig mit dem ersten erklingt.
    Beethoven schickt das Thema hierbei durch alle erdenklichen Veränderungsprozesse, die aus der barocken Fugenkunst bekannt sind: Vergrößerung, Rücklauf (Krebsgang – diese stärkste aller Veränderung steht als einer der Höhepunkte des Satzes in h-Moll), Umkehrung, schließlich sogar Original und Umkehrung zugleich. Das Ganze steigert sich in einer riesigen von Trillern begleiteten Coda, um schließlich mit den gleichen Fortissimo-Akkorden wie die frühe B-Dur-Sonate zu enden.


    Literatur
    • Joachim Kaiser: Beethovens zweiunddreißig Klaviersonaten und ihre Interpreten. Fischer, 1999, ISBN 3-596-23601-0.
    • Siegfried Mauser: Beethovens Klaviersonaten. C. H. Beck, 2001, ISBN 3-406-41873-2.
    • Erwin Ratz: Einführung in die musikalische Formenlehre. Universal Edition, 3. Aufl., 1973.
    • Jürgen Uhde: Beethovens Klaviermusik. Reclam, 2000, ISBN 3-15-010151-4.


    Viel Spaß mit der Lektüre und später mit den einzelnen Aufnahme dieses "sonata assoluta".


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).


  • Beethoven, Sonate Nr. 29 B-dur op. 106 "Hammerklavier-Sonate"
    Grigory Sokolov, Klavier
    AD: 5. 6. 2013, Berlin, live
    Spielzeiten: 13:25-3:28-21:09-14:05 --- 52:07 min.;


    Grigory Sokolov gehört nicht zu denjenigen, die im Kopfsatz Höchstgeschwindigkeit walten lassen, das hat er schon 1975, mit 25 Jahren, nicht getan, als er in München die Sonate im Studio aufnahm, und ich werde auch kein Metronom aufstellen, um die Tempi in meinen insgesamt 68 Ausgaben der Hammerklavier-Sonate individuell zu messen, sondern ich werde wie bisher mein Gefühl fragen.
    Ich habe im Vorhinein schon diese Aufnahme einmal über meine AV-Anlage laufen lassen und war sehr angetan von dem, was ich da hörte und sah.
    Im Einzelnen beginnt Sokolov im Hauptthema I mit großem dynamischen Impetus, aber nicht zu großem, wie mir scheint, und spielt sogleich nach den ersten vier Staccato- bzw. Non-Legato-Takten und einer abschließenden Fermate in Takt 4 einen wunderbaren ersten Legato-Abschnitt mit einem atemberaubenden Ritartando in Takt 8, um dann gleich darauf im selben Atem ein vorbildliches Crescendo poco a poco anzuschließen, das unmittelbar in Teil II des Hauptthemas (ab Takt 17) führt.
    Hier spielt er nach der dynamisch kontrastreichen hohen Oktave eine brillante Synkopensequenz, die wiederum mit einem frappierenden Ritartando in den dritten Auftritt des Hauptthemas (ab Takt 35) führt, um seinerseits zum Seitenthema überzuleiten.
    Wunderbar zeichnet er wie mit dem Silberstift die ersten Phase des Seitensatz mit dreimaligen Oktavieren in die ganz hohe Oktave, dann in der 2. Phase ab Takt 64 mit Auftakt mit zweimaligem Poco ritartando etwas Fahrt herauszunehmen und in der 3. Phase den gleichmäßigen Fluss wieder aufzunehmen. Nach abermals dreimaligem Oktavieren nach oben leitet in der hohen Oktave die hochdynamische Staccato- bzw. Non-Legato-Sequenz zur Schlussgruppe über.
    Diese Überleitung spielt Sokolov mit kontrollierter Vehemenz. Der anschließende 1. Gedanke der Schlussgruppe, ab Takt 100, "cantabile dolce ed espressivo" kommt wie vom anderen Stern aus dem Piano, und er führt es über ein wunderbares Trillercrescendo zum 2. Gedanken, 10 Takte lang in der ganz hohen Oktave, bis er nach gut drei Minuten das Ende der Exposition erreicht, die er natürlich wiederholt- welch ein monumentaler und gleichzeitig fragiler Beginn!
    Nach hochdynamischem Beginn der Durchführung ab Takt 121 geht es im Kern der Durchführung ab Takt 138 in das Fugato, in dem das Thema in den Takten 147, 156 und 165 wieder einsetzt, bevor in einer weiteren Sequenz nur der Auftakt des Fugatothemas in den verschiedenen Tonarten einsetzt.
    Von der dritten Sequenz (Takt 186 ff zur vierten Sequenz Takt 189 ff steigert Sokolov nochmal von ff nach fff- gigantisch!
    Die Phase des sogenanntes Stillstands mit poco ritartando und Espressivo hin zum letzten Durchführungsteil, die hoch virtuos angelegt ist, wie das ganze Fugato, spielt Sokolov atemberaubend und leitet dann in riesigen Intervallunterschieden zur Reprise über (ab Takt 227).
    In dieser verändert Beethoven, wie so oft, die musikalische Form, hier ab Takt 235 mit Auftakt ist es der zweite Thementeil, den er moduliert und dabei die Oktave immer höher steigt und ein langes Crescendo poco a poco dabei anstimmt, bevor er wieder in der phantastischen Synkopensequenz des Hauptthementeils II anlangt. Welche riesigen Intervalle tun sich hier auf (Halbe-Oktaven c''-c''' in Takt 251, 253 und 255), (fast wie Risse im Raum-Zeit-Kontinuum anmutend), bevor es im Hauptthementeil II im Diminuendo-Ritartando in immer größeren und leiseren Intervallen zur thematischen Rückleitung geht. Von dieser geht es nochmal in den Seitensatz, in dem Beethoven in 16 Takten 5 Crescendi komponiert hat, die allerdings nurmehr leichte Wellenform annehmen und im Non-Legato-Poco ritartando auslaufen ((Takt 296 bis 299). Nach den neuerlichen Oktavierungen laufen noch einmal in der 3. Phase des Seitenthema die Fortissimo-Akkorde und das Echo-Sforzando durch (Takt 323 326), und dann leitet das Cantabile der Schlussgruppe über zur Coda ab Takt 350. Welch eine Coda mit gegenseitig synkopisierenden Intervallen in beiden Oktaven, dann einem subito piano, dann zwei parallelen Trillern, einem sempre piano e dolce, einem Staccato-Feuerwerk, einem taktelangen Wechsel von Forte und Piano, pp und ppp und schließlich doch ff am Schluss- ich glaube, das ist eine Coda, die ihresgleichen sucht!


    Dadurch, dass ich mich mit Sokolovs Hilfe leichter in die Partitur einlesen konnte, habe ich statt 1000 Wörtern für den Kopfsatz nicht einmal 700 gebraucht.
    Eine herausragende Interpretation dieses unglaublichen Kopfsastzes!!!


    Auch im Scherzo lässt sich Sokolov Zeit. Wenn man alle Satzzeiten vergleicht, kommt man zu dem Ergebnis, dass Grigory Sokolov ein untrügliches Gespür für das temporale Binnenverhältnis dieser gigantischen Sonate hat.
    Den exakten Dreiertakt dieses hochrhythmischen Scherzos erreicht Sokolov durch genaueste Beachtung der Partitur, indem er den dynamischen Akzent genau auf die "drei" legt, das ist die jeweils erste Viertel im Takt, während 3/8 und 1/16 im Auftakt liegen, ebenso in der nach oben oktavierten Fortsetzung. Auch im Mittelteil des Themas wird so verfahren, obwohl da der Akzent nur eine halb so große Intensität hat. In der Wiederholung, mit häufigeren Oktavierungen, verfährt er entsprechend bei niedrigerer Grundlautstärke (pp).
    Sehr originell mit "geheimnisvollen" Achteltriolen scheint das Trio auf, in dem die Triolen mit den Viertel- und Achteloktaven ständig die Oktav wechseln. Sokolov spielt das unnachahmlich, wie ich finde, im durchaus romantischen Gewande.
    Im Presto ab Takt 81 mit zweifachem Figurenwechsel tut Sokolov einen gehörigen temporalen Kontrast auf. pianistisch spielt er das herausragend- herrlich auch sein Prestissimo-Takt 112. Solche Takte sind uns bei dem Großmeister der unverhofften Einfälle ja beileibe nicht neu: denken wir nur an den Takt 232 in er vorher besprochenen Sonate Nr. 3 C-dur op. 2 Nr. 3, der sogar als "Kurzkadenz" bezeichnet wurde, ich glaube, im Gegensatz zu diesem Takt, doch er ist in dieser Sonate durchaus nicht überraschend.
    Nach dem Tempo I kommt im Scherzo II noch eine zusätzliche kleine Überraschung, dem er in die 2. Stimme der oberen Oktave eine Achtel als Synkope einfügt- genial! Das geht so bis Takt 127.
    Frappierend auch im weiteren Verlauf der eckige Rhythmus ab Takt 159 mit Auftakt, einhergehende mit raschen Dynamikwechseln. und dann das überfallartige Presto ab Takt 168 und schließlich das tiefleise p/pp- typisch Beethoven, so als ob gar nichts gewesen wäre.
    Wie kann man nur auf so kleinem (temporalen) Raum so viel pianistische Größe komponieren und, wie hier Sokolov, spielen.


    Ohne Dynamikbezeichnung beginnt das größte Klaviersonaten adagio aller Zeiten (in jeder Beziehung), und Sokolov beginnt es etwa im Pianissimo. Er ist langsam (wie es gehört), aber immerhin ist er in seiner ersten Aufnahme 38 Jahre zuvor über 2 Minuten langsamer gewesen. Wenn man die Metronomangaben zu Grunde legt, wäre dieses Adagio genau sechs Mal so langsam wie das Allegro des Kopfsatzes.
    Für mich hat diese Eröffnung in Sokolovs Lesart in der seltenen Beethovenschen Sonatentonart fis-moll etwas von einem traurigen Choral, was sich aber, wie wir wissen, noch durchaus ändert.
    Schon in Takt 14 treten wir in elysische Sphären ein, die aber, wie die weiteren, noch zu besprechenden Passagen, erst elysisch werden durch das richtige Tempo, was möglichicherweise, wenn ich meine erste Aufnahme des op. 106 (Gulda 1967) zu Grunde lege, nicht immer der Fall sein dürfte. Deswegen ist mir dieses Adagio auch vor 50 Jahren nicht im Gedächtnis haften geblieben. Welche Pianisten da sonst noch maßgebend sein werden, werden wir im Verlaufe dieses Threads noch erleben. In Takt 23 mit Auftakt wird die nächste Stufe erreicht, und in Takt 27, im "tutte le corde" erreichen Beethoven und Sokolov eine neue Tiefe des Ausdrucks durch das Staccato in den Sechzehnteln der Begleitung. Diesen melodischen abschnitt, der sich dem überragenden tiefen Seitenthema nähert, spielt Sokolov mit einer ungeheuren inneren Spannung, die den langsam schreitenden Rhythmus mühelos auf höchstem Niveau hält.
    Dann das Thema selbst, ich halte es für unbeschreiblich und lasse es einfach in mich hineinfließen.
    Im nächsten "una corda"-Abschnitt Takt 57 ff wird die Spannung fast unbeschreiblich, und es geht auf diesem spannungsreichen Level in die Durchführung hinein, mit ganz einfachen Oktaven im Diskant und im Bass. Immer wieder wird der langsame Schreitrhythmus durch aufwärts perlende Sechzehntelfiguren in beiden Oktaven variiert.
    Im Zentrum der Durchführung steht das unglaubliche Espressivo ab Takt 87, die Zweiunddreißigstel-Passage im Diskant, die von Achtelfiguren im Bass kontrastiert wird und die Sokolov ebenfalls mit einer unglaublichen Binnenspannung musiziert. Diese Fülle von Oktavwechseln sucht sicherlich ihresgleichen. Vor allem in der hohen Oktave ab Takt 99 und in der zusätzlich Oktavierung in die ganz hohe Oktave und in den langen dynamischen Akzenten liegt eine zusätzliche Spannung, die kaum mehr erträglich ist und von Sokolov auch so musiziert wird, Wahnsinn auch das riesige Ritartando, das sich langsam in die untere Oktave verlagert und immer wieder mit den oberen Tönen vorangebracht wird.
    Wiederum im geänderten musikalischen Charakter befinden wir uns in der Reprise im "a tempo"-Teil ab Takt 113, wo in großen Intervallen in einem eckigen Rhythmus und mit großem Espressivo das thematische Material in leicht geänderten musikalischen Figuren weitergetragen wird, bevor wir erneut zum wundersamen Seitenthema kommen. In diesem Thema verliere ich mich regelmäßig.
    Ich verstehe nicht, wie man diesen Satz in gut 13 Minuten spielen kann.
    Und so kommen wir in der Coda an, in der schon wieder das selige Seitenthema grüßt. Wie Sokolov das spielt, das ist reine Himmelsmusik.
    Unglaublich spielt er auch das Crescendo ab Takt 162, wo sich das Tempo innerhalb der Phrase unmerklich verdoppelt mit Sechzehnteln im Diskant und Zweiunddreißigstel-Sextolen im Bass. Nicht viele Pianisten können, wie ich glaube, im letzten Abschnitt noch das Ritartando so überzeugend spielen wie Grigory Sokolov (Takt 168 ff.).


    Das einleitende Largo schließt zwar temproal an das Adagio an, ist aber eine ganz andere Musik, fast, als wenn der Meister persönlich am Klavier säße und improvisierte, um zu sehen, wohin die Reise geht. Nach den zwei sehr langen Takten aus Zweiunddreißigsteln und Sechzehnteln hebt in Takt 3 ein Allegro an, das im "a tempo" ab Takt 10 über rhythmische Sechzehntel bis Vierundsechzigstel in einem stark expandierenden Crescendo-Accelerando -Prestissimo und schließlich Ritartando ins Allegro risoluto mündet und über eine Trillertreppe in Takt 11ff in dreistimmige grandiose Fuge mündet, das ab Takt 16 moderat anhebt, auch das erste Crescendo ab Takt 22 entwickelt sich nur mäßig. In diesem expositionsartigen Teil (bis Takt 84 ) nimmt der eckige Rhythmus zu, und die vornehmlich dreistimmige Fuge nimmt äußerst virtuose Gestalt an, die auch musikalisch alles in den Schatten stellt, was vorher an Klavieronate da war. Im zweiten Teil ab Takt 85 wird das Thema nach es-moll erweitert. Für den Laien ist der musikalische Fortgang nicht einfach zu verfolgen. Man stelle sich vor, dass alleine zwischen Takt 102 und 110 28 Sforzandi notiert sind.
    In dieser melodisch-rhythmischen Dichte ist schließlich in Takt 153 der dritte Teil des Allegro risoluto erreicht, in dem das Thema zurückgeführt wird in h-moll. Das Geschehen ist nun etwas kantabler, wenn auch in der Begleitung rhythmisch immer noch äußerst heikel.
    Ab Takt 208 wird das Thema umgekehrt in G-dur. Am Ende dieser Themenumkehrung steht eine wilde Trillersequenz, in der die zweite Note eines jeweils erheblichen Achtelintervalls mit einem Triller versehen wird, eine Übung, die Grigory Sokolov nicht die geringsten Schwierigkeiten zu machen scheint. Das ist jedenfalls m. E. das pianistisch Schwierigste, was mir bisher untergekommen ist, und ich wundere mich, dass ich immer noch an der richtigen Stelle bin.
    Ab Takt 250, im fünften Teil, wird das 2. Thema in D-dur durchgeführt, klanglich fast choralartig, eine richtige Atempause in dem bisherigen Wirbel des Finales. Welch eine originelle Musik von großer innerer Schönheit, in einem kurzen Ritartando auslaufend, bevor in Takt 279, dem Beginn des sechsten Teils subito das Thema wieder einsetzt, allerdings zusammen mit dem zweiten Thema, das weiter durchläuft. Dieser Gleichlauf endet in Takt 294, in dem das musikalische Geschehen im sempre ben marcato mit der Originalgestalt und gleichzeitigen Umkehrung des ersten Themas fortsetzt wird. Dieses wieder hochvirtuose muntere Spielchen setzt sich munter fort bis zum Takt 348 und steigert sich in der zweiten Hälfte zu wilden Sprüngen, Sforzandi und Trillern.
    Dem schließt sich ab Takt 367 die Coda an, die einen würdigen Abschluss dieses phänomenalen Satzes in einer adäquaten Interpretation bietet.


    Diese Live-Aufnahme hat mich zum zweiten Mal in zwei Tagen begeistert, mir aber auch gezeigt, dass man, wenn man das wirklich genießen und wenigstens in den Grundzügen verstehen will, sich wirklich in die Materie versenken muss.


    Liebe Grüße


    Willi :thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup:

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

    3 Mal editiert, zuletzt von William B.A. ()

  • Sagitt meint:


    DANKE für den großartigen Einstieg in den Mount Everest des Klaviers.Dank Yuja Wang auch einen größeren Publikum bekannt ( allein die Version aus der Carnegie Hall hat 1,6 Mio Klicks). Ivh hoffe Michael Leslie wird bei den Interpreten erscheinen.

  • Grigory Sokolov gehört nicht zu denjenigen, die im Kopfsatz Höchstgeschwindigkeit walten lassen, das hat er schon 1975, mit 25 Jahren, nicht getan, als er in München die Sonate im Studio aufnahm, und ich werde auch kein Metronom aufstellen, um die Tempi in meinen insgesamt 61 Ausgaben der Hammerklavier-Sonate individuell zu messen, sondern ich werde wie bisher mein Gefühl fragen.

    Vielen Dank für diese starke Eröffnung, lieber Willi! Da op. 106 aber wie Du in Deiner Einführung ausführst, die einzige Sonate Beethovens ist, bei der der Komponist Metronomangaben gemacht hat, können wir diesen Aspekt natürlich nicht ignorieren. Ich kenne nur Sokolovs CD (DG) und finde da den ersten und auch den letzten Satz viel zu langsam. Sokolov orientiert sich wohl an seinen Mentor Gilels, der die Sonate auch eher langsam gespielt hat (aber schneller als Sokolov). Kaiser schreibt meiner Erinnerung nach sinngemäß, dass die Metronomangabe zumindest eine Richtung vorgibt - und die ist eben deutlich schneller als die meisten Pianisten den Satz spielen (können). Im richtigen Tempo dauert der erste Satz so um die 10 Minuten oder sogar noch weniger. Das ist freilich sehr extrem und passt besser zum Klang eines Hammerklaviers. Ich finde dennoch, dass hier unbedingt ein ordentlicher Zug nach vorne spürbar sein muss, dass das Thema keinesfalls zu getragen gespielt werden darf, sondern mit Wucht gespielt werden muss. Es hat dann einen völlig anderen Charakter. Und Sokolov ist einfach zu langsam, trotz aller Qualitäten.



    Rechts neben Gilels: der 16jährige Sokolov!


    Viele Grüße,
    Christian

  • Am nächsten unter den mir bekannten Einspielungen kommen in Kopfsatz Schnabel und Korstick; sie zwar aus unterschiedlichen Gründen nicht unproblematisch, Schnabel wegen technischer Mängel und Korstick später mit einem langsamen Satz im halben Tempo, aber sie geben einen Eindruck wie der Satz orientiert an der Angabe gehen würde (knapp 9 min. MIT Wiederholung der Exposition). Denn tatsächlich sind ggü. etwa Gilels und Sokolov als "schnell" empfundene Lesarten wie Pollini (ca. 10:40) auch schon deutlich zu langsam. Es wird dann ein schroffes, atemloses, ganz unmajestätisches Stück.


    Am nächsten an den Angaben in allen Sätzen ist under den mir bekannten Aufnahmen Gulda/amadeo. Zwar in den Ecksätzen etwas langsamer (9:30 im Kopfsatz), jedoch noch sehr nahe am Gestus, aber besonders im langsamen Satz (13-14 min) näher am vorgeschriebenen Tempo als fast alle anderen Interpretationen. Problem hier der unabhängig vom Tempo sehr nüchterne Zugang, der besonders den langsamen Satz nicht leidenschaftlich genug rüberkommen lässt. Von den insgesamt ein wenig an Nüchternheit leidenden späten Sonaten mit Gulda ist das dennoch zusammen mit op.111 mein Favorit (die freieren, "romantischeren" Sonaten opp. 101,109,110 gehören m.E. zu den schwächeren Teilen seines Zyklus). Ich glaube, dass man dem Werk, besonders dem langsamen Satz am ehesten gerecht würde, wenn man das vorgeschlagene Tempo ernst nimmt, aber nicht sklavisch handhabt; es spricht einiges dafür, dass bei Solomusik Beethoven auch ohne ausdrückliche Modifikationen von einem freieren Umgang mit dem Tempo ausgegangen ist. Neben den eindeutig in "langen" Noten (also nicht Achteln und 16teln) gehenden Anfangsthemen, die m.E. erfordern, dass der 6/8 nicht komplett in 6 langsame Achtelschläge zerfällt, sondern als Zweiertakt noch ahnbar ist (vgl. die Diskussion letztes Jahr um den langsamen Satz von op.22) spricht gerade die "appassionato"-Vorschrift m.E. für ein zügigeres als das verbreitete Tempo und eben auch für Flexibilität.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
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    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

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  • Beethoven, Sonate Nr. 29 B-dur op. 106 "Hammerklavier-Sonate"
    Grigory Sokolov, Klavier
    AD: 23. 8. 2013, Salzburg, live
    Spielzeiten: 13:31-3:27-21:28-13.40 ---52:06 min.;


    Die Spielzeiten dieser Aufnahme sind weitestgehend ähnlich denjenigen der Live-Aufnahme vom 5. 6. 2013 in der Berliner Philharmonie.
    Die Aufnahme scheint mir jedoch niedriger ausgesteuert zu sein, ansonsten ist in der Tat auch Sokolovs Umgang mit Dynamik, Tempo und Rhythmik ungefähr 1:1 mit der Berliner Aufnahme vergleichbar.
    Hier wie dort spielt er schon im Kopfsatz auch die Temporückungen und -änderungen, z. B. in Hauptthema I das Ritartando in Takt 8 und das längere in Hauptthema II in Takt 32 bis 34, das dort noch mit einem diminuendo einhergeht, sehr sorgfältig entsprechend den Vorgaben in der Partitur, natürlich in seiner eigenen Tempovorstellung, die nicht jedermanns Sache sein dürft, die er aber m. E. durch erhöhte Spannung aufwiegt. Mir gefällt das so, aber das soll nicht heißen, dass mir eine schnellere Lesart nicht gefällt. Das zu beurteilen, dazu wird es noch hinreichend Gelegenheit geben.
    Auch in dieser Aufführung gefällt mir wieder nach der Überleitung das silbrig funkelnde Seitenthema
    mit den drei Oktavierungen in die ganz hohe Oktave, das in diesem moderaten Tempo wunderbar entspannt dahin fließt, ebenso beeindruckend kommt auch hier in der Schlussgruppe ab Takt 109 das Cantabile dolce ed espressivo daher mit einer beeindruckenden Trillersequenz und einem abschließenden dynamisch kontrastreichen Staccatoteil, der leider durch einige kleine Aussetzer in der Aufnahme gestört wird.
    Dann kommen wir auch hier in den Genuss der Wiederholung der Exposition.
    Die Durchführung leitet Sokolov auch hier dynamisch sehr kontrastreich und rhythmisch sehr akzentuiert ein.
    Dann erwächst das Fugato aus dem Pianokeller und temporal moderat in ein Crescendo herein, wie ich es liebe. Über verschiedene Einsätze führt er es auch hier in den zweiten Durchführungskernteil, in dem nach viermaligem Thema getreu Beethovens Prinzip der Verkürzung nur noch viermal der Themenauftakt des Fugatos folgt, dazu in vier verschiedenen Tonarten,, der dom. c-moll, dann c-moll, dann dom. Es-dur, dann Es-dur- atemberaubend auch der "Stillstand", der diesen Teil des Durchführungskerns (ab Takt 197) abschließt und über den letzten Durchführungsteil zur Reprise überleitet, was natürlich einen neuerlichen Rhythmuswechsel nach sich zieht.
    Auch in der Reprise, die zwar etwas kürzer ist als die Exposition, werden die wesentlichen Elemente der Exposition wieder gebracht, wenn auch teilweise in geänderten musikalischen Figuren, wie z. b. die geniale Idee, , nur einen Akkord im Diskant noch einmal nach oben zu oktavieren, wie z. B. hier in Takt 251, 253 und 255, jeweils auf der Eins.
    Auch Rückleitung und Seitensatz sowie die Schlussgruppe enthalten die wesentlichen Elemente der Exposition, auch wenn hier im seitensatz die Oktavierungen wegfallen. Auch die Coda hält wieder mit der ellenlangen Sforzandokette und allerlei Trillern großen Überraschungen für uns bereit. Es ist halt eine exorbitante Coda eines exorbitanten Kopfsatzes.


    Auch im Scherzo ist Sokolov nahezu deckungsgleich im Tempo mit der Berliner Aufnahme. Auch hier fällt mir sofort wieder die rhythmische Pointierung des Scherzothemas über den Taktstrich hinaus auf, und auch hier folgt Sokolov seinen eigenen Tempovorstellungen, die sich durchaus an den temporalen Binnenverhältnissen der vier Sätze orientieren. Bei diesem Tempo existiert der Vorteil, dass man den Läufen der Achteltriolen (in der oberen oder unteren Oktave sehr gut folgen kann. Atemberaubend spielt er auf das Presto, was sich hauptsächlich auf den Ausdruck, nicht auf das Tempo bezieht.
    Auch die zusätzliche Note in der, wenn man so will, Altstimme, im Scherzo II, ist hier mühelos zu vernehmen. Ansonsten spielt Sokolov auch hier den Satz äußerst sanglich, wo es nur geht, ohne natürlich die dynamischen Ausschläge zu vernachlässigen., und endet diesen zwar kurzen aber dennoch großen Satz mit einem frappierend gespielten Tempo- und Dynamikgegensatz.


    Das magische Adagio hält mich sogleich wieder gefangen. Bei jeder derartigen Interpretation wie der hier vorliegenden sage ich mir, dass man dieses Stück doch einfach nicht schnell spielen kann.
    Sokolov beginnt hier m. E. mit einem Piano, da der Beginn von Beethoven nicht mit einer bestimmten Lautstärke versehen wurde. Erst in Takt 15 auf der 6 erfolgt der erste Eintrag (p). Das ganze Hauptthema strahlt in Sokolovs Wiedergabe große Ruhe und einen eigenartigen Zauber aus, den er wie ich finde, ganz natürlich entschlüsselt. Dies wird sich im wahrsten Sinne des Wortes im Seitenthema noch vertiefen.
    Sehr gut gefallen mir auch wieder die Staccati im "con grand' espressione" ab Takt 27. Hinreißende musiziert Sokolov das nun folgende crescendo poco a poco, das nun schon erkennbar auf as überirdische Seitenthema zuführt- welche eine geniale Musik!
    Auch das Thema selbst ist erfüllt auch von unterschiedliche temporalen Strömungen, z. B. den Sechzehnteltriolen von Takt 49 bis 52. Das eigentlich geniale an diesem Thema ist m. E. das dunkle Leuchten, wenn es im Tiefbass ertönt.
    Doch auch in diesem so scheinbar kontinuierlichen ewigen Fluss ist eine Sonatensatzstruktur zu erkennen, so wie hier die Durchführung in Takt 69 mit ganz einfachen musikalischen Mitteln beginnt, mit Achteloktaven in der oberen Oktaven, denen 3/8-Oktaven im Bass gegenüberstehen, und in der Folge klar erkennen lassen, wie das Thema durchgeführt wird. Beethoven erweitert auch den Formenreichtum, indem er in beiden Oktaven aufsteigende Sechzehntelfiguren einstreut. Diese musikalische Struktur, so wie ich sie hier zu erkennen glaube, führt m. E. bis weit in die Romantik herein, hier und da meine ich sogar impressionistische Anklänge zu hören. Wunderbar auch die folgende Zweiunddreißigstelsequenz ab Takt 87, die in sanften Wellenbewegungen in der Oktave langsam auf und ab steigt, und am Ende dieser Sequenz streut Beethoven wieder einige kürzere Oktavierungen ein.
    Nach diesem langen vielfach fließenden Abschnitt, spielt Sokolov wieder ganz ausgezeichnet die staccatoartigen mehrtaktigen Intervalle unter den ebenfalls mehrtaktigen Achteln im Diskant. obwohl das Tempo auch hier ziemlich langsam ist, zerfällt die Musik aber m. E. keinesfalls, sondern Sokolov hält die Stimmung stets hoch, und er spielt natürlich wieder "con grand' espressione", bevor nach einer neuerlich einfachen Oktavenüberleitung das wunderbare Seitenthema wieder einsetzt und in der Wieerholung gleich darauf im Tiefbass von schmeichelnden Sechzehnteltriolen umspielt wird. Auch ein veritables Crescendo, das den Rahmen natürlich nicht sprengt, spielt Sokolov hier ab Takt 140.
    Noch einmal zieht das herrliche Seitenthema mit Eintritt der Coda an uns vorüber. In dieser spielt Sokolov auch hier eine grandioses Crescendo, und am Ende der Coda spielt er ebenfalls in atemberaubender weise den Moreno-Schluss.


    Ich finde, dass Sokolov dieses Finale im Largo genauso überzeugend spielt wie zweieinhalb Monate zuvor in Berlin. Auch das bachisch angehauchte Allegro spielt er, wie ich finde, genau richtig.
    Auch die anschließende Fuge, hier im ersten Teil bis Takt 84 die Exposition in B-dur, sowie den zweiten Teil, die Vergrößerung des Themas in es-moll bis Takt 152, spielt er m. E. genauso begeisternd wie in Berlin, anschließend den Rücklauf des Themas in h-moll bis Takt 207 und die Umkehrung des Themas in G-dur bis Takt 249. Anschließend folgt auch hier meisterhaft gespielt die große Atempause ab Takt 250 bis Takt 278, das grandiose "sempre dolce cantabile", das er mit einem ebenso berührenden Ritartando abschließt.
    In den nächsten drei Abschnitten folgt eine nochmalige Steigerung, falls so etwas überhaupt noch möglich ist, indem zuerst beide Themen gleichzeitig vorgeführt werden (bis Takt 293), dann das erste Thema gleichzeitig original gespielt und umgekehrt wird und schließlich das Thema kurz vor der Coda noch einmal durchgeführt wird.
    Und die Coda selbst ist dann noch einmal etwas ganz besonderes und sie schließt den Riesenbogen zu dem viele Jahre zuvor entstandenen jungen "B-dur op. 22".


    Sicherlich von der gleichen Qualität wie die Berliner Aufführung!


    Liebe Grüße

    Willi :thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup:

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Nun ist er also eröffnet, der "Hammerklavier-Sonaten" Thread. Besten Dank auch für die schöne Einführung, lieber Willi. :) Und die Idee aktuell mit Sokolov zu beginnen, finde ich auch sehr gut. Die Sache mit dem Metronom finde ich eher verwirrend. Da heißt es z.B., dass man Beethovens Metronomzahlen heute halbieren müsse, also Schnabel viel zu schnell sei in seinem Bemühen, die Metronomzahlen zu realisieren. Es gibt ja eine schöne Karrikatur mit Strawinsky als Dirigenten, wo er am Pult steht und statt des Taktstockes ein Metronom auf der Hand hält. Die Vorstellung, dass man musikalische Zeit metronomisch exakt messen und gar vorschreiben könnte, ist ein Objektivismus des 20. Jhd. und glaube ich kaum auf das 18. oder 19. übertragbar.


    Die Frage ist immer, was macht das unterschiedliche Tempo aus der Musik. Es zählt, was als Ergebnis herauskommt und ob das Sinn macht. Bei Sokolov war ich zunächst irritiert. Aber dann hört man doch gebannt zu. Ich habe das mit Hanslick "Beethoven als tönend-bewegte Form" genannt. Eine Abstraktion, die es einem erlaubt, das Stück neu zu hören. (Von den überragenden Qualitäten der Sokolov-Aufnahme braucht man nicht zu reden.) In der alten russischen Aufnahme ist er ja deutlich "dynamischer". Da hat er seinen eigenen Ansatz radikalisiert. Solche Aufnahmen bringen einen letztlich dazu, Hörgewohnheiten zu überdenken. Gut, dass es sie gibt! :hello:


    Herzlich grüßend
    Holger

  • Die Vorstellung, dass man musikalische Zeit metronomisch exakt messen und gar vorschreiben könnte, ist ein Objektivismus des 20. Jhd. und glaube ich kaum auf das 18. oder 19. übertragbar.

    Aber darum geht es doch gar nicht, Holger. Wir haben zuletzt bspw. sehr genau über Bögen und Phrasierungen diskutiert und da hast Du auf winzige, für Dich wesentliche Unterschiede aufmerksam gemacht, die ich auch bei besten Willen nicht hören kann. Die Metronom-Angabe sind nun aber keine Kleinigkeit und sie geben eine Richtung vor, es muss ja nicht genau stimmen, zumal ein moderner Flüge auch anders und voller klingt als Beethovens Hammerklavier. Aber so ein langsames Maestoso wie bei Sokolov erscheint mir einfach grundverkehrt. Und auch etwas langweilig.


    Viele Grüße,
    Christian

  • Wir hatten das ja letztes Jahr schon einmal in einem anderen Thread. Die Angaben Beethovens sind nicht isoliert. Sie passen grosso modo recht gut zu seinen anderen Angaben, sowie auch zu annähernd zeitgenössischen Vorschlägen von Czerny u.a. Ungeachtet des sehr hohen Tempos am wenigsten problematisch ist wohl die für das Finale. Zum einen ändert es kaum etwas am Charakter, wenn etwas langsamer gespielt wird, sagen wir 132-138, zum anderen ist 144 für "allegro risoluto" auch plausibel. Es spielt aber meines Wissens niemand das Finale in 100 oder langsamer (was den üblichen Verlangsamungen im Kopfsatz entspräche).


    Beim adagio ist es m.E. NUR unsere spätromantische Idee, dass ein adagio "gar nicht langsam genug" sein kann und dass wir Ausdruck mit breitem Tempo verwechseln. Diese Idee ist aber anscheinend so fest verwurzelt, dass man argumentativ dagegen nichts ausrichten kann. Wie in der sehr langwierigen Diskussion zum adagio der anderen B-Dur-Sonate schon angesprochen, sollte bei zusammengesetzten Taktarten immer noch das (hier) Zweiermetrum ahnbar sein und da ist eben ein Tempo wie das von Beethoven vorgeschlagene an der unteren Grenze. Bzw. liegt es zwischen den erheblich fließenderen langsamen Sätzen in opp. 18/1, 22 und 31/1 und den langsameren (mit largo, lento bezeichneten) in opp.10/3 und 135.
    Die üblicheren, 10-25% langsamer gehen auch gerade noch, aber im halben Tempo (wie Korstick), also einem breiten adagio für Achtel statt für punktierte Viertel, höre ich hier keine Zusammenhänge mehr und auch kein "appassionato". Grob gesagt: wenn der Satz länger als 17-18 min. dauert, werde ich stutzig, "korrekt" wären ca. 13-14.


    Das Scherzo sitzt im Charakter und auch der Tempovorschrift etwas eigenartig zwischen den Stühlen. Mit "assai vivace" würde man eigentlich ein erheblich schnelleres Zeitmaß verbinden, wenn man es wie bei Scherzi üblich auf den ganzen Takt bezieht (vgl. "Molto vivace" in der 9. Sinf. Takte= 116). In rasend schnellen Vierteln (240) ist der Satz aber ebenfalls kaum zu fassen (so ordnet ihn meiner Erinnerung nach Kolisch ein). Vergleichbare (etwas langsamere) Sätze in sehr schnellen Vierteln wären die Scherzi aus op. 95 und 127 (man vgl. auch die ähnlichen punktierten Themengestalten dieser drei Sätze).
    M.E. ist es vielleicht doch eine beschleunigte Variante der "Walzer"-Scherzi, die sonst eher 66-69 für Takte bezeichnet sind (und meistens wird der Satz auch eher in 69 als 80 gespielt) aber da solche Sätze in der gemächlicheren Form eher "allegretto" bezeichnet werden, klingt "assai vivace" auch nach einer zu starken Beschleunigung. Egal, der Satz ist jedenfalls in einem dem Beethovenschen nahen Tempo spielbar und wird auch durchaus so gespielt.


    Der für mich nachvollziehbarste Stein des Anstoßes ist der Kopfsatz. Das Tempo ist irre schnell, selbst ein deutlich mäßigeres wie Guldas (ca. 120+ statt 138) kommt uns sehr zügig vor. Der Satz hat auch so viele thematische Gestalten in Achteln, dass mir Beethovens Vorschlag zu schnell vorkommt. (Er hat, glaube ich, auch die Angabe von "Allegro assai" zu "Allegro" korrigiert - vielleicht entsprach 138 dem Allegro assai und blieb stehen...? Es ist auch für mich, der ich die Metronomziffern generell für relevant und nicht absurd halte, nicht zu leugnen, dass es manche Seltsamkeiten gibt. So hat Beet


    Frage an Experten und Selbstspieler: Wie kommt Euch das Tempo verglichen mit den Allegro alla breve Kopfsätzen in op.2/1 und op.31/2 vor? Sollte der in op.106 schneller sein? Oder eher genauso? Es gibt jedenfalls mehr Pianisten, die die beiden anderen Sätze MM ca. 130 spielen als op.106 (so ein Tempo ist mir bei op.2/1 aber auch zu schnell).
    Nichtsdestoweniger, "Allegro" ist bei Beethoven nicht 90-100 oder noch breiter, wie die langsamen (wie Sokolov und Gilels) den Satz spielen. 120-130 als Richtlinie, mit Flexibilität bei Nebenthemen usw. scheint mir durchaus plausibel.


    Wenn wir ingesamt aufgrund Taubheit usw. sagen wollen, dass Beethovens Angaben 10% zu schnell sind, kommen wir in 2 und 4 auf durchaus verbreitet gespielte Tempi (Takte ca. 72 bzw. Viertel ca. 128-132). Beim langsamen Satz (Achtel ca. 84) und Kopfsatz (Halbe ca. 120-126) sind wir aber immer noch bei Tempi, die nur von den zügigsten Interpreten erreicht oder übertroffen werden. Wenn man die üblichen Verlangsamungen auf Sätze 2 und 4 übertragen wollte, müsste das Scherzo im Tempo eines gemächlichen Ländlers (ca. 50-55) und das Finale in gemütlichen 100-108 gespielt werden. Das macht meines Wissen kaum einer.

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  • Aber darum geht es doch gar nicht, Holger. Wir haben zuletzt bspw. sehr genau über Bögen und Phrasierungen diskutiert und da hast Du auf winzige, für Dich wesentliche Unterschiede aufmerksam gemacht, die ich auch bei besten Willen nicht hören kann. Die Metronom-Angabe sind nun aber keine Kleinigkeit und sie geben eine Richtung vor, es muss ja nicht genau stimmen, zumal ein moderner Flüge auch anders und voller klingt als Beethovens Hammerklavier. Aber so ein langsames Maestoso wie bei Sokolov erscheint mir einfach grundverkehrt. Und auch etwas langweilig.

    Lieber Christian,


    bei Sokolov scheint es mir in diesem Fall doch ein bisschen so zu sein wie bei Glenn Gould - er bürstet absichtlich Beethoven gegen den Strich. Er selbst hat den 1. Satz früher ja deutlich flüssiger gespielt. Wenn das nun aber gewollt ist, dann bringt das Argument, das sei aber musikhistorisch oder wie auch immer betrachtet nicht "richtig", letztlich nicht viel. Dann ist die Frage: Was erschließt uns das? Ärgerlich werde ich z.B. bei Ivo Pogorelich, wenn er in "Le Gibet" aus Gaspard de la nuit exakt genau das Gegenteil von dem macht, was Ravel dem Interpreten vorschreibt, nämlich stur das Tempo zu halten. Denn dies ist nichts als Willkür und Ausdruck interpretatorischer Ratlosigkeit. Bei Sokolov ist das aber ganz anders. Er will offenbar sagen: Wir haben Beethoven alle so gespielt wie gewohnt, ich zeige Euch - und mir selbst - jetzt aber, dass man diesen Satz auch ganz anders "lesen" kann und so etwas sichtbar wird, was man sonst nicht sieht. Wenn das aufgeht, dann habe ich auch nichts dagegen einzuwenden. Im Gegenteil. Allerdings finde ich wie Du, dass man im langsamen Satz von op. 106 es mit "slow motion" nicht übertreiben sollte, denn der Zusammenhang zerfällt dann in der Tat.


    Herzlich grüßend
    Holger

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  • Sokolov in Salzburg habe ich mir gerade angehört - in einer offenen Wohnküche geht das beim Kochen. :D Ich bin beeindruckt. Bei Sokolov versteht man endlich, warum im Zentrum des Kopfsatzes eine Fuge steht. Beethovens stürmender und drängender Willen "gebändigt" durch die Form, so dass die Fugenarchitektur zum zentralen Ereignis des Satzes wird. Dabei ist mir keine Sekunde langweilig, denn Sokolov gestaltet hyperpräzise und auch ungemein eloquent was die dynamischen Spitzen angeht. Auch das Scherzo ist wunderbar - verhalten, charakterisierend statt stürmisch zu Beginn, was die bewegten Passagen im Kontrast dazu um so wirkungsvoller macht. Auch der langsame Satz fällt trotz Sokolov-Länge nicht auseinander, sondern hält jeden Moment die Spannung - einfach überragend gestaltet. Und die ganze Stärke von Sokolovs formbetontem Interpretations-Ansatz zeigt sich im Finale. Die drei "architektonischen" ersten Sätze wachsen in der Dramaturgie der Sätze zusammen zur Einheit dem barock-gelösten, das Bewegungsprinzip verkörpernden Fugen-Finale gegenüber: Ruhe-Bewegung. Die bewegt-lebendige, quasi-barocke Fuge in ihrer Gelassenheit wird so als Kehraus zugleich zum Gipfel der Sonate, zur Überwindung des quälenden Willens, den im Kopfsatz die Form bändigt, "bemeistert" im Sinne von Thomas Mann, um letztendlich einen höheren geistigen Zustand innerer Gelöstheit zu errreichen - die Triller entwickeln sich bei Sokolov eindrucksvoll zu "Lösungsmotiven": Die Rückkehr zu Bach, sie ist endlich erreicht, aus innerlich geläutertem, "klassischem" Geist heraus!


    Fazit: Was sich hier erreignet ist Interpretation als ein Prozess von Vergeistigung - "Denken" in Tönen. Das hat wahrlich das Niveau von Gilels und Richter bei ihren Höhenflügen! :) :) :)


    Als nächstes höre ich den interpretatorischen Gegenentwurf - Lazar Berman. ;) :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Lieber Johannes, lieber Christian und vor allem lieber Holger,


    vielen Dank für eure Beiträge. Ich habe mich entschlossen, meine letzte Sokolov-Aufnahme, die von 1975, am Ende dieses Durchganges zu besprechen und sitze stattdessen an der ersten Aufnahme Arraus vom September 1963, wo sich auch temporal einiges Überraschende zeigt. Ich werde den Beitrag später am Abend (oder in der Nacht) einstellen.


    Liebe Grüße


    Willi :)

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    2 Mal editiert, zuletzt von William B.A. ()


  • Beethoven, Sonate Nr. 29 B-dur op. 106 "Hammerklavier-Sonate"
    Claudio Arrau, Klavier
    AD: September 1963
    Spielzeiten: 10:45-2:28-20:27-11:39 --- 45:19 min.;


    Ich habe mal zu Beginn die Dynamiklevel mit denen der Sokolov-Aufnahmen gleichgestellt, und siehe da, Arrau, der Beethovenpianist schlechthin, braucht sich in seinem Dynamik-Umfang keineswegs vor Sokolov zu verstecken. Arrau war zum Zeitpunkt der Aufnahme 3 Jahre jünger als Sokolov zum Zeitpunkt der hier schon besprochenen Aufnahme. Im Tempo ist Arrau im Kopfsatz knapp 3 Minuten schneller. Das ist schon eine ganze Menge und erfordert gleich erhöhte Aufmerksamkeit. Pianistisch ist das, was Arrau hier in den ersten beiden Abteilungen des Hauptthemas vorführt, höchste Qualität und zeigt sofort auf, wie entschieden er sich dem musikalischen Kern des Kopfsatzes nähert.
    Nach dem dritten Themen-Aufruf ab Takt 35 und der Überleitung zeigt Arrau in der 1. Phase des Seitensatzes, dass auch er das lyrisch-silbrige Spiel beherrscht, das auf der anderen Seite in diesem etwas höheren Tempo auch keinesfalls an Ausdruck verliert. Und er lässt auch das Thema wunderbar fließen, spürt jeder dynamischen Regung nach und schwenkt nach den machtvollen ff-Akkordwechseln ab Takt 91 auf die Schlussgruppe ein, dessen Cantabile er mit seiner typischen Hingabe wunderbar zum Ausdruck bringt. Nach der Schlusssteigerung im zweiten Gedanken der Schlussgruppe wiederholt auch er die Exposition, was an und für sich bei ihm überflüssig ist zu erwähnen.
    Nach der Schlusssteigerung der Exposition, die in der Wiederholung noch dynamischer ausfällt, spielt er aus dem sempre pp ein schönes Crescendo. Im Kern der Durchführung spielt er ein drängendes Fugato und anschließend die viermalige Durchführung des Fugato-Auftaktes.
    Bei Arrau erinnern mich die durch die Oktaven wieselnden Doppelachtel an die koboldeske Romantik Mendelssohns. Auch die Stillstands-Sequenz ab Takt 197 ist sehr ausdrucksvoll gespielt, und im letzten Durchführungsabschnitt führen die riesigen Intervall-achtel-viertel-Sprünge zur Reprise hin.
    Hier spielt er ganz natürlich die modulierenden Thementeile weiter und schließt ein bemerkenswertes Crescendo poco a poco an, dem die übrigen Abschnitte der Exposition in teilweise geänderter musikalischer Form folgen. Auch Arrau spielt hier die drei oktavierten bis zu fünfstimmigen Halbenoktaven dynamisch sehr explosiv.
    Über ein wunderbares Diminuendo-Ritartando gelangt er zu Rückleitun und dann zum Seitensatz. Eines muss auch noch erwähnt werden. Obwohl Arraus Aufnahme 50 Jahre älter ist, ist sie sehr transparent. Sie wurde aufgezeichnet im Bachzaal in Amsterdam:

    Obwohl der Seitensatz hier nicht oktaviert wird, spielt Arrau ihn lyrisch sehr ausdrucksvoll und schließt im gleichen Tonfall die kantable Schlussgruppe an, bevor die mit allen Beethovenschen Feinheiten gespickte Coda (ellenlange Sforzandoketten, Triller, lyrische Bögen, Staccati und Dynamikwechsel auf engstem Raum folgt- welch ein pianistisches Feuerwerk!


    Im Scherzo ist Claudio Arrau fast eine Minute schneller als Sokolov in seinen beiden späteren Aufnahmen und gar nicht weit von Friedrich Gulda entfernt. Dieses Tempo passt sicherlich zum Scherzo sehr gut, muss natürlich auch unter dem Gesichtspunkt des temporalen Binnenverhältnisses so schnell sein. Und dynamisch wie rhythmisch spielt Arrau das m. E. überragend.
    Auch das Trio gefällt mir ausnehmend, in dem Arrau die Achteltriolen wunderbar dunkel abfärbt. Das Presto fügt sich in dieses hohe Niveau ein.
    Eines fällt mir im Tempo I im Scherzo II auf: es fällt schwerer, die Struktur mit der zusätzlichen Achtel in der Altstimme im Diskant zu verfolgen. Der Prestoschluss ist dafür wieder überwältigend.


    Das Adagio nimmt Arrau ähnlich langsam wie Sokolov in seinen beiden späteren Aufnahmen. Das gibt dann allerdings auch im temporalen Binnenverhältnis der Sätze untereinander ein ganz anderes Ergebnis. Ich versuche am Ende der Besprechung eine Begründung zu finden, warum das bei Arrau so ist.
    Arrau beginnt im Piano, geht dann in Takt 2 in der mezza voce auf mp, spielt dann zwei Mal über in den Crescendi noch etwas deutlicher und spielt am Ende des Hauptthemas den hohen lyrischen Bogen ganz berückend. In der Wiederholung spielt er eine, wenn überhaupt möglich, noch intensivere hohe Oktave (Takt 22ff).
    Den nächsten Abschnitt spielt er bei weitem nicht so stark Staccato wie Sokolov, eigentlich ist das nur ein Non-legato. Ich meine, das hätte mir bei Sokolov etwas besser gefallen.
    Überragend ist dann, wie bei Sokolov, die Hinführung zum Seitenthema, wo Arrau, ähnlich wie Sokolov, die terrassenförmige Melodieführung ab Takt 36 mit Auftakt im "crescendo poco a poco" mit einem terrassenförmigen Crescendo verknüpft. So klingt dieser Abschnitt Takt 36 mit Auftakt bis Takt 38 so stark und so expressiv und darf m. E. im Verein mit dem beginnenden Seitenthema als einer der expressiven und emotionalen Höhepunkte in der gesamten Soloklavierliteratur gelten.
    Und Arrau spielt das Seitenthema mit nochmals geringfügig reduziertem Tempo und einem unglaublichen Ausdruck. Darin steht er Sokolov in Nichts nach und bringt mich der Beantwortung meiner eingangs gestellten Fragen schon etwas näher.
    Ein letzter expressiver Höhepunkt ist m. E. die Sequenz, die "una corda" in Takt 57 beginnt und über die Zweiunddreißigstel-Figuren der Durchführung zustrebt.
    Diese spielt auch Arrau dank der aufstrebenden Sechzehntelfiguren sehr lyrisch. Auch den reprisenförmigen Abschnitt ab Takt 87 spielt Arrau sehr überzeugend und sehr expressiv, wunderbar auch nochmal die hohe Oktave ab Takt 100 mit Auftakt. Im neuerlichen "a tempo" ab Takt 113 spielt er die Riesenintervalle im Non-Legato sehr schön aus, vor allem in der hohen Oktave mit sehr viel Ausdruck in die Sechzehntel-Sextole und -triolen hinein. In solchen Sequenzen wie dem "grand' espressivo Ab Takt 118 ist Arrau ja ein wahrer Meister seines Fachs und lässt kurz darauf das unendlich tiefe Seitenthema noch einmal an uns vorüberziehen mit einer atemberaubenden Steigerung ab Takt 140. Wie traumverloren spielt er doch den Übergang zur Coda ab Takt 146. Und die Coda selbst (ab Takt 154) steht dem übrigen Satz in nichts nach, die Interpretation durch Arrau auch nicht. Noch einmal das Seitenthema, noch einmal eine geniale Steigerung mit raschen rhythmuswechseln, mit Zweiunddreißigstelsextolen in der Begleitung, einem Ritartando auf dem langsamsten Abschnitt, ohne auch nur einen Moment die Spannung sinken zu lassen, bevor ein letztes "a tempo" uns dem Morendo-Schluss näher bringt, endend in einem gebrochenen ppp-Akkord.
    Eine wahrhaft herausragende Interpretation, und ich glaube, dass Arrau ihr deshalb so viel Raum gegeben hat, weil er das Adagio für den wahren Höhepunkt der Sonate gehalten hat.


    Arrau spielt das Largo ebenfalls dolce und sehr ausdrucksvoll in p/pp mit einem deutlichen "poco piu vivace" und moderat nachgezeichneten dynamischen Bewegungen.
    Das Allegro spielt er schon rascher als Sokolov. Das hochrhythmische "a Tempo ab Takt 10 spielt er atemberaubend, und das Allegro risoluto beginnt er mit einer mitreißenden Trillertreppe.
    Mit der Exposition in B-dur Takt 16 bis 84 beginnt jedoch bei diesem Tempo die anstrengende Arbeit der Nachverfolgung. Arrau spielt dies, wie ich finde, hochvirtuos, aber nicht um der Virtuosität willen.
    Der zweite Abschnitt des Allegro risoluto, die Vergrößerung des Themas in es-moll, stellt für mich noch eine pianistische Steigerung der Schwierigkeit dar und gestattet mir ab und zu einen Einblick in die unglaublich komplexen Strukturen des Allegros , das weitgehend mindestens vierstimmig verläuft, wobei die Richtungen der Melodielinien häufig gegenläufig sind.
    Die weiteren Teile des Allegros laufen pausenlos ineinander über, wobei sicherlich Höhepunkte in dem dritten Abschnitt in den eilenden Sechzehntel-Sforzandi und im vierten Abschnitt, der Themenumkehrung in G-dur, in den raschen Oktavwechseln der Themenausschnitte und den Begleitfiguren, ebenfalls in den Sechzehnteln, zu erblicken sind, letztlich auch die großen Intervalltriller Takt 243 bis 246 dem Hörer zu schaffen machen (aber wahrscheinlich nicht nur dem Hörer!).
    Im "sempre dolce", dem fünften abschnitt, der Durchführung des Seitenthemas, dürfen wir dann endlich durchatmen (der Pianist auch). Was Holger in Beitrag Nr. 11 mit "Beethoven unterwegs zu Bach" bezeichnete, kann ich nur bestätigen. Hier, in der Durchführung des zweiten Themas wird es tönende Bestätigung. Ich freue mich jetzt schon darauf, wenn ich beim Buchstaben "G" angekommen
    sein werde und der große "Bachianer" Glenn Gould hier seine Visitenkarte abgeben wird.
    Im sechsten, dreifach unterteilten Abschnitt des Allegro risoluto, in dem es um das erste und zweite Thema, gleichzeitig und in Umkehrung geht und schließlich der Schluss angekündigt wird, dreht Claudio Arrau noch einmal so richtig auf, und man lässt es am besten einfach laufen und erfreut sich daran, dass ein stocktauber Komponist, der dazu noch schwerkrank war, in seinem inneren Ohr ein solches Opus summum zu Wege gebracht hat, das von einem seiner größten nachschöpfenden Musiker so kongenial wiedergegeben wurde.


    Herausragend!


    Liebe Grüße


    Willi :thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup:

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).


  • Beethoven, Sonate Nr. 29 B-dur op. 106 "Hammerklavier-Sonate"
    Claudio Arrau, Klavier
    AD: 1954
    Spielzeiten: 10:59 -2:20 - 20:39 -11:39 --- 45:37 min.;


    In dieser neun Jahre früher entstandenen Aufnahme, deren Anschaffung ich Christian zu verdanken habe, ist Arrau im Kopfsatz nur geringfügig langsamer als in der späteren Aufnahme.
    Die paar Sekunden gehen vielleicht auf das Konto des ersten Ritartandos im Hauptsatz I, Takt 8 und eines Rubato in Takt 14/15, beides außergewöhnlich. Auch das Hauptthema II spielt er ähnlich mitreißend und mit großen dynamischen Kontrasten wie in der späteren Aufnahme, desgleichen das kurze Hauptthema III und die Überleitung sowie das atemberaubende Seitenthema mit seinem silbrigen Glanz (Takt 47ff. Auch die 2. und 3. Phase des Seitenthemas geraten ähnlich überzeugend, was nicht verwunderlich ist, da sich Arrau eine erstaunliche Kontinuität in seinen Interpretationen über Jahrzehnte erarbeitet hat.
    Sehr berührend spielt er auch hier den 1. Gedanken der Schlussgruppe, das cantabile dolce ed espressivo und den hochdynamischen 2. Gedanken. Dann wiederholt er natürlich die Exposition.
    Auch die Einleitung der Durchführung spielt er mit großer Vehemenz, dann gestaltet er die vier Fugato-Einsätze im Kern der Durchführung mit großem Vorwärtsdrang. Dann lässt er mit gleichem Drang und wiederum dynamischem Gewicht den viermaligen Auftakt des Fugatothemas folgen und es dann im poco ritartando des "Stillstands" auslaufen (Takt 198ff.), bevor er im letzten Durchführungsteil den Themenauftakt durch die Oktaven steigen lässt. Auch das macht er großartig.
    Auch in der Reprise klingt Vieles schon so wie 9 Jahre später, vielleicht, dass seine Vehemenz in dieser früheren Aufnahme noch etwas größer ist. Und wo wir schon dabei sind, ich ahbe auch den Eindruck, dass seine Ritartandi hier vielleicht noch etwas ausgeprägter sind. Die Rückleitung führt uns noch einmal zum Seitenthema hin, das hier tiefer liegt, und dann zur zweiteiligen, hier stark verkürzten Schlussgruppe hin, die ja noch die überragende Coda nach sich zieht, die er ebenfalls überragend spielt.


    Das Scherzo spielt Arrau noch geringfügig schneller als 1963 in seiner späteren Aufnahme. Dabei beachtet er natürlich die vielfältigen dynamischen Akzente und Kontraste. Auch hier fällt im Trio auf, dass ab einem bestimmten Tempo die Achteltriolen im Bass kaum noch zu unterscheiden sind. Das Presto spielt er sehr imposant mit einem Prestissimo, das ein pures Glissando ist.
    In der Wiederholung des Scherzos scheint mir die Grundlautstärke doch eher bei mp+ zu liegen als bei p. Das ist auch im weiteren Verlauf in diesem Tempo doch eher ein hochvirtuoses Stück, das, und das wird bei Gulda nicht anders sein, ein wenig auf Kosten der Transparenz geht.
    Für Diejenigen jedenfalls, die von Arrau schwerlastende Schicksalsmusik erwarten, ist dieses Scherzo nicht geeignet.


    Im Adagio spielt Arrau ebenfalls schon das Tempo, das er auch neun Jahre später einschlägt. Auch dynamisch erkenne ich Parallelen, wie auch schon die etwas gesteigerte Bewegung im Anfang der "mezza voce" (Takt 3/4) und die sorgfältige Ausgestaltung der kurzen Crescendi. Atemberaubend auch der Bogen in Takt 14/15. Wunderbar auch der zweite Bogen mit der Oktavierung erst nach oben, dann nach unten (Takt 22 ff.) Das ist ein schlichtes und doch so tief empfundenes Espressivo.
    Auch die folgende Sequenz, ab Takt 27, die er wiederum eher non legato als staccato spielt, berührt mich sehr, auch die Sechzehnteltriolen in Takt 31ff und dann die die stufig angeordnete Steigerung am Ende der Überleitung ab Takt 35: kann man das noch ergreifender und mit mehr musikalischer Tiefe spielen, als Arrau das hier tut? Ich glaube, nicht.
    Die Gestaltung des Seitenthemas mit den moderaten temporalen Bewegungen, den Crescendi, dem beinahe stufenlosen Einflechten der Sechzehnteltriolen ab Takt 49, das alles geschieht bei ihm so vollkommen natürlich, und auch der nächste Bogen Takt 58 blüht so natürlich auf, und er lässt die dann folgenden Oktavakkorden in einem sehr langsamen Tempo vollinnerer Spannung der Durchführung zufließen.
    Auch hier, in den aufstrebenden Sechzehnteln, in den hohen Oktaven, ist die Spannung fast auf der Haut spürbar.
    Dann spielt er die Zweiunddreißigstelsequenz zu Beginn der Reprise ab Takt 87, pp espressivo-crescendo "poco a poco due ed allora tutte le corde", sicherlich ein Höhepunkt des Adagios, mit höchstem Ausdruck und mit größter Spannung- welch ein überragendes Spiel, und welch ein grandioses ritartando über sechs Takte am Ende des ersten Teils des Hauptthemas, das dann direkt in die zweite Hälfte mit dem Non-Legato-Abschnitt übergeht. Den spielt er genauso ergreifend wie im Expositionsteil in einem großen Crescendo "con grand'espressione". Das ist bei Arrau wirklich höchster Ausdruck.
    Dann kommt wieder die wundersame Überleitung zum Seitenthema. Schon in sie könnte ich mich versenken. Und dann das überirdische Seitenthema mit den herrlichen Oktavierungen von der ganz tiefen in die ganz hohe Oktave und umgekehrt, dann die Themenerweiterung mit dem ergreifenden Crescendo-Diminuendo , ebenfalls über sechs Takte. Was ich auch so frappierend finde und ich mir bei einem raschen Tempo (13-14 min.) gar nicht vorstellen kann, ist der Schluss der Reprise (gleichbedeutend mit dem Schluss der Exposition), wo die Musik dem Stillstand entgegen zu gehen scheint.
    Und in der grandiosen Coda geht es ja erst noch so weiter, bevor Arrau hier die dramatische Steigerung aus dem neuerlichen Seitenthema heraus atemberaubend vorträgt- grandios! Dann strebt es doch langsam dem Ende zu, das Seitenthema noch einmal in der hohen Oktave dann die hohen Oktavakkorde, flankiert von den tiefen Sechzehnteltriolen, in einem langsamen Diminuendo verdämmernd und in einem gebrochenen Morendo-Akkord auslaufend- von Arrau überragend gespielt.


    Arrau braucht auch für das Finale-Largo-Allegro risoluto die gleiche Zeit wie 9 Jahre später, d. h. er ist hier wiederum zweieinhalb Minuten schneller als Sokolov in Berlin knapp 60 Jahre später. Dynamisch hat er schon die gleichen Vorstellungen wie in der späteren Aufnahme. Schon im Allegro entwickelt er eine große dynamische Spannweite.
    In der Exposition in B-dur drückt er gleich aufs Tempo, spielt den sperrigen Rhythmus, als ob es die leichteste Übung wäre und setzt die scheinbar willkürlichen Sforzandi zielsicher dazwischen. Am Ende der Exposition ein winziges Diminuendo-Ritartando.
    In der Themenvergrößerung in es-moll setzt Arrau die hurtige Reise durch die Partitur unvermindert fort. Die Sforzandogewitter mit den vielfach unterlegten kurzen Trillerketten spielt er mit höchster Konzentration und Vehemenz.
    Ebenso schnell hat er diesen zweiten Abschnitt des Allegro risoluto durchmessen und gönnt uns jetzt eine kleine Atempause im III. Teil, dem Rücklauf in h-moll. Nach ein hier nur kleinen Atempause geht es mit großem Ungestüm weiter und so ist auch der IV. Abschnitt, die Umkehrung des Themas in G-dur im Nu durchmessen.
    Ich hatte mich zu früh gefreut, denn erst im V. Teil, der Durchführung des zweiten Themas geht es wirklich etwas ruhiger zu Werke: sempre dolce cantabile- wie schön! Manchmal liegt die Ruhe auch im Bach, wie man hören kann.
    Doch genug der Ruhe, das Thema ruft im VI. Abschnitt, und das gleich zweimal, und jetzt bleibt es bei B-dur, und hier geht es weiter "mit der gleichen Wucht wie früher", d. h. ungemindertem Tempo, Trillern und Sechzehntelkaskaden, und flugs ist die Coda erreicht, wo es noch einmal richtig zur Sache geht.


    Arrau spielt auch diesen Satz herausragend, wobei er damals, mit 51 Jahren in der Blüte seiner pianistischen Jahre, kein Risiko scheute. Wenn ich keine falschen Töne hörte, hat er entweder keine gemacht, oder ich habe keine gehört.


    Liebe Grüße


    Willi :thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup:

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Danke für Deine beiden Arrau-Besprechungen! Ich finde auch, dass er seiner Linie treu geblieben ist, allerdings erscheint mir die spätere Aufnahme noch stringenter. Vor allem die Beschleunigungen in der finalen Fuge sind atemberaubend. Für mich eine der besten Aufnahmen der Sonate überhaupt und eine der besten Aufnahmen Arraus. Leider leider wurde diese Aufnahmen niemals wirklich auf der Höhe der Zeit reamstered. Die Qualität ist ja ganz ok, aber es geht heute einfach mehr. Und wer je Arraus leuchtenden Klavierklang live gehört hat (in den späten Aufnahmen wurde er gut eingefangen), weiß, was hier alles auf der Strecke geblieben ist. Bei Arrau stimmen für mich auch die Temporelationen, der erste Satz hat Zug nach vorne, zumal bei Arrau ja auch die tonalen Reibungen wunderbar zur Geltung kommen und bei einem noch schnelleren Tempo würden diese zwangsläufig wegfallen. Und in der Fuge vermag er dann das Tempo immer wieder zu steigern, ohne freilich je den Überblick zu verlieren. Sehr eindringlich und tiefschürfend auch sein Adagio.
    Arrau steht hier ja immer am Anfang der Besprechungen - aber ich glaube, dass er auch am Ende ganz vorne dabei sein wird.
    Viele Grüße,
    Christian

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  • Lieber Christian,


    vielen Dank auch für deinen Beitrag, in dem ich viel wiederfinde, das auch ich über Arrau denke, dessen 114. Geburtstag übrigens heute ist.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Lieber Willi,


    ich habe Arrau leider nur einmal live gehört, es muss um 1987/88 in Augsburg gewesen sein mit einem typischen Arrau-Programm: Beethoven op. 10/3 und 81a, Liszt Dante-Sonate und diverse Klavierstücke. Ich war damals gerade 20 alt, aber seitdem ich einen Führerschein hatte, besuchte ich regelmäßig in München Klavierabende. Aber so einen Klang hatte bis dahin nicht gehört. Arrau war vom Klang her wirklich einzigartig. Was für ein Volumen, was für einen Innenspannung der Akkorde! Davon profitiert bei op. 106 sehr der langsame Satz. Vielen Dank für den Hinweis auf seinen Geburtstag, ich erschrecke gerade dabei allerdings ein wenig, liegt dieses Konzert-Erlebnis doch fast 30 Jahre zurück.


    Viele Grüße,
    Christian

  • ich habe Arrau leider nur einmal live gehört, es muss um 1987/88 in Augsburg gewesen sein mit einem typischen Arrau-Programm: Beethoven op. 10/3 und 81a, Liszt Dante-Sonate und diverse Klavierstücke.

    Lieber Christian,


    stell Dir vor, mit genau demselben Programm habe ich Arrau auch gehört in der Düsseldorfer Tonhalle - das müßte dieselbe Saison gewesen sein. Dazu müßte ich das Programm aus der Kiste herauskramen. :) Verkehrstechnisch hatte ich es als Student damals leichter. Mit der S-Bahn zum Hauptbahnhof und dann mit der Straßenbahn (U-Bahn gab es damals glaube ich noch nicht) bis zur Tonhalle. Dreimal mindestens hörte ich ihn in Düsseldorf. Einmal sprang er kurzfristig für ABM ein, der einen Beethoven-Abend abgesagt hatte. Farbig habe ich sein Spiel auch in Erinnerung - wunderbare "Estampes" von Debussy und eine ebenso tolle Chopin Fantasie op. 49. Sein Biograph Joseph Horowitz beschwert sich ja auch über die Klangqualität besonders der Philips-Aufnahmen, die seinen Ton im Konzert nicht wiedergeben könnten. Da ist wohl etwas dran. Die alten RCA/CBS-Mitschnitte, die zuletzt als Box erschienen (Debussy!) sind allerdings sehr farbig!


    Die Hammerklaviersonate von ihm lege ich gleich auf - ich gönne mir eine Arbeitspause. :)


    Liebe Grüße
    Holger

  • Ich wundere mich ein wenig darüber, dass Arrau offenbar die Hammerklaviersoante nur zweimal augenommen hat, jedenfalls sind nur diese beiden Aufnahmen habhaft. Von der Appassionata habe ich 10 Arrau-Aufnahmen, eine, ebenfalls von 1954 in der Liszt-Legacy-Box. muss ich noch besprechen.
    So, jetzt geht's gleich zur Chorprobe.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).


  • Mangels Zeit fällt meine Besprechung stenographisch kurz aus. Mich erinnert diese Aufnahme - Arrau hat sie bezeichnend in späteren Jahren nicht noch ein zweites Mal eingespielt - tatsächlich an sein letztes Konzert, das ich von ihm in Düsseldorf hörte. Sein Beethoven strahlte eine gewisse Gelassenheit und Entspanntheit aus, hatte nicht diese lastende Schwere, die Arrau bisweilen früher kennzeichnete. Ich habe das "aristotelische Mitte" genannt. Bekanntlich ist nach Aristoteles die Mitte zu treffen das Schwerste, weil es unendlich viele Abweichungen vom rechten Winkel gibt. Arrau bringt das Kunststück fertig, "alles" an diesem späten Beethoven zu zeigen, das Spätwerk als altersweise Synthese, welche jegliche Extreme und Unausgewogenheiten meidet. Form, Bewegung, Fluss, alles ist da, ist sich nie gegenseitig im Weg oder spielt sich in den Vordergrund. Bezeichnend werden bei Arrau die Sätze im Bewegungsduktus angeglichen, die Musik fließt wie von selbst weiter, ein unaufhaltsamer Fluss, der sich durch nichts aus der Ruhe bringen läßt: keinerlei Forcierungen, Übertreibungen. Bei weniger großen Interpreten wäre eine solche "Mittigkeit" freilich langweilig. Nicht so bei Arrau (wie wohl auch nicht bei Artur Rubinstein, letzterer hat op. 106 zwar gespielt in jungen Jahren, eine eigene Geschichte, aber wohl nie aufgenommen) mit seiner großen Persönlichkeit und Reife. Die Fuge ist bisweilen fast schon ein wenig "objektivistisch", aber für Arrau ist später Beethoven weder Apotheose der Form noch exzentrische Subjektivität, sondern das Ringen um klassische Ausgewogenheit der Gegensätze. Im Vergleich mit Sokolov muss ich allerdings sagen, dass eben wegen dieser klassischen Ausgewogenheit auch nichts verloren geht, wenn man etwas weniger treibend und flüssig spielt und die "Architektur" betont. Bei Sokolov funkelt der Kopfsatz vor Schönheit, bei Arrau werden die Formteile vom Wasserfluss bewegt. Es wird nichts "in Ruhe" gelassen, so dass sich der ruhende Atem des musikalisch Schönen auch nicht ereignen kann. Arrau reduziert die Bewegung nicht, seine Bewegung schafft aber auch keine neue Sinnebene, denn sie bleibt in klassisch entspannter Gestaltung kraftlos, zertrümmert nichts, gibt sich stets gewaltlos unauffällig. Die Bewegung bei Arrau wird letztlich nicht formdynamisch relevant, sondern spinnt lediglich den Leitfaden für den Hörer, dem Geschehen immer gelassen folgen zu können. Somit geht bei Sokolovs Abstraktion auch nichts Wesentliches verloren, darf man mit Blick auf Arraus klassische Kunstsinnigkeit reflektierend feststellen.


    Und noch etwas zur Aufnahmetechnik: Sie ist im Grunde sehr gut, der Tontechnik kann man glaube ich keinen Vorwurf machen. Ich habe schon deutlich schlechtere Philips-Aufnahmen gehört. Das Problem liegt wohl eher bei der trockenen Akustik des Aufnahmeraumes (wo sie das aufgenommen haben, ist dem Booklet leider nicht zu entnehmen), der mangels Resonanzen keine Mischklänge hervorbringt und so wenig geeignet ist, Tonfarben wiederzugeben. Es ist ein bisschen so ähnlich wie bei ABMs EMI-Aufnahmen aus der Schweiz, wo sie auch einen solchen resonanzfreien Saal gewählt hatten, so dass der Klang puristisch trocken gerät.


    Meine Box ist übrigens diese alte hier:



    Die Bässe sind im neuen Remastering sicher besser als bei mir. :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

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  • Beethoven, Sonate Nr. 29 B-dur op. 106 "Hammerklavier-Sonate"
    Vladimir Ashkenazy, Klavier
    AD: 1980
    Spielzeiten: 10:54 - 2:43 - 19:13 - 11:30 --- 44:22 min.;


    Vladimir Ashkenazy ist im Kopfsatz ungefähr so schnell wie Arrau 1963, vielleicht einige Sekunden langsamer. Sein Klavierton ist voll und rund. Dynamisch und rhythmisch bewegt er sich voll auf der Höhe der Partitur, und im zweiten Teil des Hauptthemas I, Takt 5 bis 8, offenbart er sogleich seine lyrischen Ausdrucksfähigkeiten, auf einem berückenden Ritartando in einer Viertel-Fermate endend.
    In der Oktavierung (ab Takt 9 mit Auftakt), steigert er den Ausdruck noch und geht schwungvolle in das fließende Crescendo, bevor in Hauptthema II der zweiten Thementeil nun staccato und hochdynamisch wiederholt wird.
    Höchst ausdrucksvoll spielt er auch diese Passage, im Diminuendo-Ritartando in ansteigenden Intervallen von einer Terz bis zu einer Quindezime auslaufend. Und zwar werde die oberen Viertel-Intervalle von den unteren Achtel-Intervallen synkopiert. Desgleichen ziehen sich die Synkopen auch durch die Überleitung (Takt 39 bis 46).
    Herrlich filigran ist sein Spiel auch im Seitensatz, in dem in der 1. Phase in der oberen Oktave die perlenden Achtel silbrig glänzen.
    Auch in den temporalen Bewegungen lässt er, wie zu Beginn der 2. Phase in den Ritartandi größte Sorgfalt walten. In der 3. Phase des Seitensatzes fällt abermals auf, wie genau er auch die dynamischen Wellenbewegungen (Takt 75 bis 84) nachzeichnet.
    Wiederum lyrisch sehr ausdrucksvoll gestaltet er das "cantabile dolce ed espressivo" im 1. Gedanken der Schlussgruppe, bevor er im 2. Gedanken der große rhythmische (staccato) und dynamische (ff-sf-p) Kontrast offenlegt.
    Natürlich wiederholt auch Ashkenazy die Exposition.
    In der Einleitung steigert er von Takt 120 bis 131 kontinuierlich.
    Nach zwei Oktavsprüngen im Bass ab Takt 134 mit Auftakt beginnt er das Fugato aus dem p/pp. Die 4 verschiedenen Fugatoeinsätze stuft er dynamisch feinst ab und lässt dann in gleicher Weise den viermaligen Auftakt des Fugatothemas in Dominate c-moll, c-moll, Dominante Es-dur und Es-dur folgen. Hier gleitet er in einem wunderbar ausgedrückten Diminuendo poco ritartando in den mit "Stillstand" bezeichneten durchführungsabschnitt hinüber. Dieser mit dem nachfolgenden Espressivo ist ein Paradebeispiel Ashkenazyscher Piano-Espressivo-Kultur, bevor im letzten Durchführungsteil die Dynamikwechsel über mehrere Oktaven zur Reprise führen.
    In der Reprise verfährt er wie in der Exposition, wobei mir das Ritartando im 8. Takt des Themas noch etwas ausgeprägter erscheint als in der Exposition. Die Modulationen des zweiten Thementeils spielte er im ersten Abschnitt ab Takt 235 mit Auftakt und im "cantabile e ligato" wieder auf seinem höchststehenden lyrischen Niveau, bevor er im "crescendo poco a poco" ab Takt 248 in den dynamisch hochstehenden II. Hauptthementeil einschwenkt., hier wieder mit dem herrlichen Ritartando endend. Hier wechselt er zur wiederum synkopisch strukturierten Rückleitung über, mustergültig gespielt, und von dort zum lyrischen Seitensatz, diesmal ohne die Oktavierungen in der ersten Phase und weitgehend lyrisch auch in der 2. Phase sowie in der 3. Phase, zur Schlussgruppe hin mit gesteigertem dynamischen Puls, dann zu Beginn der Schlussgruppe wieder "cantabile dolce ed espressivo), und dann wieder höchstdynamisch in die unglaubliche Coda hinein, wo er, für mich auffällig die ersten parallelen Trilerketten (ab Takt 366 aus tiefstem Pianissimo, quasi wie aus dem Nichts crescendiert- herausragend. Bei Arrau und Sokolov ist mir das so nicht aufgefallen. In der zweiten Hälfte spielt er die häufigen Dynamikwechsel sehr akzentuiert, , was allerdings die Vorgenannten auch getan haben- trotzdem auf höchstem Niveau zu Ende gespielt, wie den ganzen Satz!


    Im Scherzo ist Ashkenazy deutlich langsamer als Arrau, aber ebenso deutlich schneller als Sokolov.
    Das Scherzo spielt er dynamisch sehr ausgewogen und rhythmisch so, dass der Dreiertakt deutlich hervortritt, und wie ich finde, lebhaft genug.
    Das Trio gefällt mir über die Maßen, dynamisch, rhythmisch, temporal, einfach klassische Mitte, wie ich finde, genauso zutreffend wie eine romantischere Variante. Die Wiederholung des Scherzos wird hier nicht als "Da Capo" bezeichnet, weil es doch auch in einigen musikalischen Figuren und im Presto-Tempo I-Schluss vom Eingangsscherzo abweicht.
    Die sechzehn Schlusstakte haben denn auch für mich fast den Charakter einer Coda.


    Im Adagio ist Vladimir Ashkenazy etwa eine Minute schneller als Arrau und etwa 1 3/4 Minuten schneller als Sokolov, gehört aber immer noch zu den Langsamen im Interpreten-Zyklus, und, ich gestehe es freimütig, diese Tempi für dieses gigantische Adagio sind mir a priori lieber als diejenigen unter 15 Minuten.
    Man muss hier zu Beginn schon die Ohren spitzen, denn Ashkenazy beginnt dieses Adagio, das ja am Anfang ohne jegliche Dynamikvorschrift da steht, im tiefsten ppp und geht in der mezza voce (ab Takt 2) maximal bis zum pp, erst im poco crescendo geht er mal bis zum p(mp und verbleibt dort au bis zur Wiederholung des 2. und 3. Melodieteils.
    Auch er spielt das crescendo con grand espressione ohne jedes Staccato, lässt es einfach fließen, wobei er im weiteren Verlauf die Sechzehntel-Triolen sowie Zweiunddreißigstel-Triolen und -quartolen ansatzlos in den Fluss integriert.
    Die Überleitung zum überirdischen tiefen Seitenthema spielt er auch schon überirdisch. Das ging mir bisher musikalisch eigentlich am tiefsten. Ich finde, der große Zauber, der diesem Seitenthema innewohnt, und seine große musikalische Tiefe, erschließen sich erst in einem solchen Tempo am besten. Zauber ist nicht blitzartig, er ist langsamer, muss Zeit haben zu wachsen. Das macht Ashkenazy hier herausragend. Manchmal geschieht solch ein zaubrisches Wunder in einem einzigen Takt wie hier bei Ashkenazy in dem kurzen Doppelbogen in Takt 58/59.
    Welch eine unglaubliche Passage am Ende der Exposition, in dem die Musik fast zum Stillstand zu kommen scheint, von Ashkenazy hier zusätzlich durch sein pp/ppp gesteigert. Die kurze Durchführung von gerade 20 Takten erhebt Ashkenazy trotz der Kürze durch sein gleichsam leises und spannungsreiches Spiel zu einem weiteren Höhepunkt in diesem Satz, gefolgt von dem nächsten Höhepunkt dem umfangreichen Zweiunddreißigstel-Abschnitt, in dem Ashkenazy alle dynamischen und rhythmischen Bewegungen aufmerksam nachzeichnet. Zu höchstem Ausdruck steigert er sich in der hohen Oktave ab Takt 99. Gigantisch auch sein Ritartando (Takt 107 bis 112)! Sehr schön auch sein neuerlicher Melodieteil des Hauptthemas: "con grand' espressione!!"
    Dann wieder das Seitenthema: Gänsehaut pur! mit den mehrmaligen großen Oktavenwechseln- mein Gott!. Gegen Ende dieses so überaus lyrischen Gesanges dann noch einmal der kurze, paradiesische Doppelbogen (Takt 143, wie vor Takt 58). Dann am Übergang zur Coda eine unerwartete (?) dynamische Erhebung (mp), und dann die Coda, wieder auf exquisitester Beethovenscher Qualität und Originalität.
    Ein letztes Mal das paradiesische Seitenthema, aber nur kurz, weil sich- wieder einmal Beethoven at his best- eine fast dramatische dynamische Steigerung ergibt- und auch das sechstaktige Ritartando taucht wieder auf, und in den letzten Takten noch einmal ein dynamisches Aufbegehren (bis zum mp!), dann das atemberaubende Verdämmern!
    Welch eine überragende Interpretation dieses Adagios!


    Im Finale ist Ashkenazy temproal etwa gleichauf mit Arrau, also erheblich schneller als Sokolov. Das Largo spielt er in den Zweiunddreißigsten, aber auch in den Sechzehnteln, wie ich finde, etwas langsamer als Arrau, dazu wieder im tiefsten Pianissimokeller- grandios!
    Dafür geht es in den Sechzehnteln im Allegro ganz anders zur Sache (nach den Metronomzahlen ungefähr mit dem achtfachen Tempo. Also ist höchste Aufmerksamkeit geboten. Pianistisch ist das natürlich weiterhin herausragend. Großartig auch das Tenuto (ab Takt 9) und das anschließende "a tempo" (ab Takt 10).
    In Teil I des Allegro risoluto, der Exposition in B-dur, legt er sogleich ein flottes Tempo vor, jedoch noch sehr klar durchhörbar. Auch in Teil II, der Vergrößerung in es-moll, wo es dynamisch sehr wild wird, spielt er sehr durchhörbar und dynamisch hochstehend. Auch aus diesem Blickwinkel wird der dynamische Über-Kontrast Ashkenazys in dieser Einspielung sehr deutlich.
    Im Rücklauf in h-moll, dem III. Teil des Allegros, spielt er die gestiegenen rhythmischen und dynamischen Feinheiten souverän aus, ebenso im IV. Teil der Themenumkehrung in G-dur, wo er mir die Struktur, die im III. Und IV. Teil auch als durchführungsartig bezeichnet werden könnte, seltsamerweise klarer vermittelt als Arrau in seinen beiden Einspielungen. Arrau spielte mit einem hohen Risiko, trieb dadurch die rhythmischen und dynamischen Strukturen auf die Spitze, Ashkenazy spielt m. E. kontrollierter, ohne ins rein Neutrale abzudriften.
    Eine temporale und dynamische Ruheinsel ist in besonderem Maße bei Ashkenazy der V. Teil des Risoluto, die Durchführung des 2. Themas in D-dur, das er in seiner großen lyrischen Ausdrucksfähigkeit wunderbar und wirklich "sempre dolce cantabile spielt. Da er ja von Geburt Russe ist, fragt man sich manchmal: ist das noch russisch? Ich glaube schon, auch, wenn es, wie hier, von einem leicht melancholische Überzug gekennzeichnet ist.
    Der V. Teil besteht aus drei Abschnitten, in denen die beiden Themen teils gleichzeitig, teils eines zweifach durchgeführt werden und am Schluss auf die Coda zugesteuert wird. Darum will ich diesen fast 90 Takte langen Abschnitt in einem besprechen. Dieser Superabschnitt ist musikalisch sehr dicht, oft vierstimmig, wieder, wie fast immer (außer im V. Abschnitt), durchgehend von Sechzehnteln bestimmt, und wieder von Ashkenazy sehr durchhörbar gespielt. Am Ende des zweiten Teilabschnitts erweitert sich der Tonraum erst drastisch, dann spielt sich das Gesehen von Takt 334 bis 344 11 Takte lang nur in der hohen Oktave ab, bevor in Takt 345 die untere Oktave wieder mit ins Spiel kommt.
    Abschließend, als der weniger versierte Hörer schon glauben mag, dass Schluss sei, setzt... die Coda ein:
    Auch diese spielt Ashkenazy auf höchstem Niveau.
    Ich denke, dass Ashkenazy mindestens auf einer Höhe mit Arrau und Sokolov zu nennen ist.


    Liebe Grüße


    Willi :thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup:

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).


  • In Italien fühlte sich Lazar Berman immer schon wohl – nach seiner „Inhaftierung” durch die Sowjets (er durfte Russland nicht verlassen) und ihrer Aufhebung durch Mikhael Gorbatschow nahm er schließlich die italienische Staatsbürgerschaft an. Sein Vortrag der großen „Hammerklaviersonate“ von Beethoven war sicher ein eindrucksvolles Konzertereignis in Mailand, was das Publikum auch mit begeistertem Applaus belohnte. Der Mitschnitt gibt jedenfalls ansatzweise wieder, welche gewaltigen Kräfte er hier am Flügel entfaltete. Da sind vor allem im ersten, mitreißend vorgetragenen Satz Elemente von Furor zu hören, wütende Subjektivität und Willensenergie meldet sich. Berman, der Lieblingsschüler des „Minimalisten“ Alexander Goldenweiser, dem erklärten Gegner des russischen Expressivo um jeden Preis, verleugnet aber auch hier nicht, was er von seinem Lehrer gelernt hat. „Jede Note die man spielt, muss man begründen können“ – war laut Berman Goldenweisers pädagogisches Prinzip. So verliert er die klassische Form niemals aus den Augen, hält seine pianistischen Kraftakte also frei von jeglicher Exaltiertheit und Übertreibung. Aufs Detail versessen wie Sokolov ist Bermans spontan-inspiriertes Spiel freilich nicht. Und a propos Bach: An barocken Fugengeist kommt die Erinnerung bei Berman niemals auf: Die Durchführungs-Fuge ist bei ihm dynamischer Höhepunkt, Kulminationspunkt der Kraftentfaltung aber eines sicher nicht: eine Architektur, wo sorgsam Baustein auf Baustein gesetzt wird. Das Scherzo setzt den leidenschaftlich-spontanen Gestus aus dem Kopfsatz fort. Den langsamen Satz geht Berman geschwinder an als Arrau, die melodische Linie betonend, so dass man dies auch für wunderbar ausgesungenen Schubert halten könnte. Keine Frage, das ist sicherlich sehr schön gespielt. Nur wo bleibt da „denkender“, grüblischer Beethoven? So schön Bermans klavieristischer Gesang auch tönt, man vermisst so doch den letzten Tiefgang, der zu einer der ganz späten Beethoven-Sonaten gehört. Bermans Schlusssatz, das Fugen-Finale, ist eine musikalische Merkwürdigkeit. Kraftstrotzend ist das, aber auch fern jeglicher Fugen-Durchsichtigkeit. Bermans ungleichgewichtige dynamische Akzente passen einfach nicht zur Fugen-Grammatik von Balance und dynamischer Ausgewogenheit. Und als Kontrast zu seinen pianistischen Kraftakten lässt der Meister eine Insel der Ruhe entstehen, wo er das Tempo herausnimmt, um es dann zum furiosen Finale hin wieder deutlich anzuziehen. Fazit: Das ist sicher ein eindrucksvoller, persönlich profiliert gestalteter Konzert-Vortrag der großen Sonate op. 106 von pianistischer Extraklasse, der aber auch die letzte interpretatorische Schlüssigkeit vermissen lässt. :)


    Schöne Grüße
    Holger

  • Schönen Dank für deinen sehr aufschlussreichen Beitrag, lieber Holger, und ich habe gleich noch Live-Aufnahme im Gepäck: Bonn 1959:



    Beethoven, Sonate Nr. 29 B-dur op. 106, "Hammerklavier-Sonate"
    Wilhelm Backhaus, Klavier
    AD: 24. 9. 1959, Bonner Beethovenhalle, live
    Spielzeiten: 11:54 - 2:38 - 15:27 - 10:44 --- 40:43 min.;


    Wilhelm Backhaus ist in seiner 1959er Aufnahme signifikant langsamer als Claudio Arrau in seiner 1954-Aufnahme, jedenfalls im Kopfsatz und im Scherzo und dementsprechend schneller als Sokolov knapp 60 Jahre später. Die temporalen Bewegungen und die dynamischen Linien zeichnet er m. E. aufmerksam nach, produziert einen vollen, klaren Klang, im Kopfsatz eher im Maestoso.
    So verfährt er auch in der Überleitung, und in der 1. Phase des Seitensatzes spielt er in der hohen Oktave einen silbrigen sanglichen Ton. In den Crescendi steigert er moderat, spielt in der 2. Phase die Ritartandi schön aus , und in der 3. Phase legt er partiturgerecht dynamisch kräftig zu, immer wieder die Oktavierungen hell leuchtend spielend, im 1. Gedanken der Schlussgruppe das Tempo im Cantabile dolce ed espressivo schön drosselnd und auf dem langen Triller ab Takt 106 ein kräftiges Crescendo spielend, dass dann im 2. Gedanken das Fortissimo voll erreicht hat und er spielt dann einen zündenden Abschluss. Und, o Wunder, er wiederholt zum ersten Mal die Exposition.
    In der Einleitung der Durchführung lässt er sich allerdings von der Partitur mitreißen: da spielt er eindeutig kein "sempre pp", wie es vorgeschrieben ist (Takt 126), sondern startet sogleich aus einem satten Mezzopiano ein Crescendo, das eigentlich erst ab Takt 128 folgen sollte.
    Im Kern der Durchführung spielt er auch sogleich einen sehr diesseitigen Ton, der aber noch vertretbar ist. In dem ab Takt 177 folgenden 4maligen Auftakt des Fugatothemas verstärkt er partiturgemäß seine dynamischen Anstrengungen. Dem Crescendo im 4. Auftakt ab Takt 188 mit Auftakt verleiht er noch zusätzliches Gewicht, indem er zusätzlich in der Oktavierung ab Takt 193 ein Ritartando spielt. In seinem moderaten Tempo macht das sogar Sinn, vergrößert die Steigerung und den Kontrast zum anschließenden Diminuendo-poco Ritartando (ab Takt 198), das dann folgende Espressivo leitet er behutsam zum letzten dynamisch wieder hochstehenden Durchführungsteil, den er durch ein kraftvolles Crescendo abschließt, wobei er die letzten vier Takte (223 bis226) glissando spielt.
    Die Reprise beginnt er auch vehement mit einem starken Kontrast im Ritartando-Diminuendo in der Modulation (ab Takt 234). Das anschließende Cantabile e ligato spiel er erst sehr berührend, dann kraftvoll steigernd ins Hauptthema II hinein. Dieses speilt er dann in einer mitreißenden Steigerung und in einem ebenso betörenden Diminuendo-Ritartando auslaufend, anschließend organisch über die Rückleitung mit ihren Viertel-Oktavakkorden steigernd und wieder fallend in den diesmal nicht oktavierten, aber genauso sanglichen Seitensatz hinein, den er in seiner dynamischen Dreiteiligkeit vorbildlich aus der Partitur umsetzt.
    Auch die zu Gunsten der fantastischen Coda verkürzte Schlussgruppe spielt er mitreißend, direkt in die Coda hineinfließend, die er in ihren höchsten Ansprüchen auch, wie ich finde, großartig spielt.


    Das Scherzo spielt er, wie ich eingangs schon erwähnte, langsamer als Arrau, aber schneller als Sokolov. Dabei schein mir seine Grundlautstärke im Thema und der Fortsetzung etwas hoch. Im Mittelteil ab Takt 15 nimmt er sie zurück. Auch in der Wiederholung nimmt er es nicht so genau mit dem Pianissimo, offenbar lässt er sich auch hier von der Partitur mitreißen. Wahrscheinlich würde ich das auch machen, wenn ich mehr mit ihm gemeinsam hätte als nur den Vornamen.
    Das Trio semplice spielt er auch in ruhigem Tempo, wobei man seine Achteltriolen gut verfolgen kann. Auch dynamisch nimmt er sich hier zurück.
    Das Presto spielt er gigantisch, da explodiert er regelrecht, auf einem rasanten Prestissimo endend.
    Im reprisenförmigen Scherzo II (ab Takt 115, in der Oktavierung ab Takt 121, kann man die zusätzliche Achtel in der Altlage gut unterscheiden. Er spielt das auch in der dynamischen Steigerung großartig.


    Im Adagio ist er etwa 5 Minuten schneller als Arrau und ungefähr 6 Minuten schneller als Sokolov, aber dennoch finde ich dieses ruhige und klare Spiel nicht zu schnell. Besonders ausdrucksvoll ist m. E. die Wiederholung des 2. und 3. Melodieteils, etwa ab der Oktavierung in Takt 22 ff.
    Als sehr gelungen sehe ich auch im "tutte le corde" con grand' espressione ab Takt 27 den dynamischen Verlauf an, der dann ab Takt 35 in die geniale Überleitung zum himmlischen Seitenthema hineinführt. Das ist schon große Pianistik, und in dieses Espressivo bringt er auch viel dynamische Bewegung hinein., die sich nach dem Themeneinsatz noch fortsetzt. Hier bringt er in die Sechzehntelverläufe auch temporale Bewegung hin, was zeigt, dass man auch dramatische Funken aus der Partitur schlagen kann.
    In die Durchführung bringt Backhaus auch reichlich dramatischen Einschlag hinein, was die Partitur auch ohne Weiteres hergibt.
    In der Reprise spielt Backhaus dass eingeschlagene Tempo unvermindert weiter, was in der langen Zweiunddreißigstelsequenz (17 Takte) gegenüber den anderen bisher gehörten fünf Einspielungen doch sehr rasch wirkt.
    Im "diminuendo poco a poco" ab Takt 104 beruhigt sich das musikalischen Geschehen wieder. , und im "a tempo" (siehe ab Takt 22ff.) spielt er einen großen dynamische Bogen über 10 Takte direkt in die Überleitung zum Seitenthema. Das ist schon sehr expressiv.
    Und schon folgt wieder das sagenhafte Seitenthema, das er unglaublich spielt. Ein Wahnsinn sind auch die grandiosen Oktavierungen, nach deren letzter das Thema dann in den rascheren Sechzehntel-Wellenbewegungen ausläuft. Auch die Überleitung zur Coda mit ihren berührenden Intervallwechseln nimmt den Hörer sehr für sich ein. Das spielt Backhaus hier grandios, hinein in die beseligende Coda ab Takt 154, wieder mit dem Seitenthema, hier jedoch wesentlich bewegter. Und Wilhelm Backhaus spielt das hier herrlich dramatisch zugespitzt, bevor das Hauptthema noch einmal aufscheint und sich im letzten großen Bogen eine letzte dramatische Bewegung ereignet, von Backhaus mit tiefem Ernst gespielt und dann vom letzten Diminuendo ab Takt 178 mit einer letzten eingebundenen dynamischen Bewegung langsam ersterbend.
    Wenn man die Tempofrage mal ausklammert, war dies eine grandiose Interpretation des Adagios.


    Das Largo spielt mir Backhaus denn doch ein wenig arg rasch, es ist ja immerhin fast 8mal so langsam wie das Allegro risoluto. Auch das Allegro ab Takt 3 und das Tenuto ab Takt 9 scheinen mir sehr rasch.
    Die Exposition in B-dur spielt Backhaus sehr fließend, aber auch sehr klar vernehmbar und rhythmisch und dynamische sehr aufmerksam. Auch das sehr dichte, drei- bis vierstimmige musikalische Gewebe kann man in diesem Abschnitt sehr gut unterscheiden.
    Den zweiten Teil des Allegro risoluto, die Themenvergrößerung in es-moll, spielt Backhaus, wie ich finde, bravourös und dynamisch ausgezeichnet.
    Im Rücklauf in h-moll werden die Melodieverläufe noch dichter, der Rhythmus teilweise noch sprunghafter, was sich im vierten Abschnitt, dem Rücklauf in G-dur, noch weiter steigert. Vor allem die vielen einzelnen Triller und Sforzandi, aber auch dir Triller auf den großen Achtelintervallen in den Takten bis 246 sind schon sehr aufwühlend.
    Da kommt das fugenartige "sempre dolce cantabile", der fünfte Teil, die Durchführung des zweiten Themas, zum Durchatmen gerade recht, ist aber nur von kurzer Dauer. Backhaus spielt dieses Kleinod, wie ich finde, durchaus im barocken Stil.
    Doch der dreiteilige sechste Abschnitt nimmt den temporalen Faden wieder auf, im ersten Teil gekennzeichnet von kurzen Sechzehntelabwärtsgängen, im zweiten Teil von längeren Sechzehntelbewegungen, zum Teil in beiden Oktaven und im dritten Teil zur Coda überleitend.
    Nach diesem dynamisch-dramatischen Gipfel des sechsten Teils mutet die Coda fast wie ein zweites temporales Verhalten an: der Abschnitt378 bis 380 ist "ritartando" überschrieben, die folgenden drei Takte sogar mit "poco adagio". Dennoch wohnt dieser fantastischen Coda mehr dramatische Bewegung innen, mehr dynamsicher Furor, als manche ganze Sonaten anderer Komponisten.
    Alles in allem doch eine großartige Live-Aufnahme, in der Backhaus kein Risiko gescheut hat.


    Liebe Grüße


    Willi :thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup:

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).


  • Beethoven, Sonate Nr. 29 B-dur op. 106
    Wilhelm Backhaus, Klavier
    AD: April 1952
    Spielzeiten: 11.45-2:39-16:34-10:55 --- 41:53 min.;


    Wilhelm Backhaus ist in dieser gut 7 Jahre vorher entstandenen Aufnahme vielleicht um einige Sekunden im Kopfsatz schneller als 1959 in Bonn, zeigt aber bis auf das Adagio eine bemerkenswerte Kontinuität in seinen Zeitvorstellungen. Im Adagio ist er interessanterweise gut eine Minute langsamer als in der späteren Aufnahme. Er ist hier im Kopfsatz als ebenfalls langsamer als Arrau und schneller als Sokolov. Die Anfangstakte trägt er allerdings zu Beginn im Hauptthema I und im Hauptthema III Takt 35/36 in feierlichem Maestoso vor, was mir durchaus sehr gut gefällt.
    Dynamisch und rhythmisch zeigt sich schon in dieser knapp 65 Jahre alten Aufnahme das hohe Niveau, das auch die spätere Aufnahme auszeichnet, und klanglich ist sie trotz monauraler Aufnahmetechnik sehr gut.
    Wilhelm Backhaus wiederholt auch hier schon die Exposition, was ja sonst meistens bei ihm nicht der Fall ist. Besonders hervorzuheben sind das Crescendo poco a poco Takt11ff. und das Diminuendo-Ritartando Takt 31ff. Auch sehr anrührend ist die Ausführung der 1. Phase des Seitenthemas in der hohen Oktave mit leicht zurückgenommenem Tempo. Auch die Temporückungen in der 2. Phase sind ausgezeichnet musiziert. Die 3. Phase füllt er mit viel dynamischem Schwung, ebenso die zweiteilige Schlussgruppe, in der 1. Hälfte sehr kantabel, in der 2. Hälfte hochdynamisch.
    Auch die Einleitung der Durchführung in ihrer großen dynamischen Spannweite spielt er großartig.
    Allerdings hätte er zu Beginn des Durchführungskerns in Takt 134 mit Auftakt das ff-fp im Bass mit mehr Druck spielen können. Das kam etwas zaghaft.
    Das Fugato spielt er allerdings von Beginn an rhythmisch sehr prägnant und auch in seiner erheblichen musikalischen Dichte (oft vierstimmig) sehr transparent, auch die anschließende Verkürzung, d. h. den ebenfalls viermaligen Fugatoauftakt: 1. in der Dominante c-moll, 2. in c-moll, 3. in der Dominaten Es-dur, 4. in Es-dur. Das ist noch dichter, teilweise fünfstimmig.
    Dieser letzte, 4. Einsatz in Es dur (ab Takt 189) darf sicherlich als ein interpretatorischer Höhepunkt dieses Satzes angesehen werden mit diesem sagenhaften Übergang aus dem Fortissimo in den höchsten Oktaven in das Diminuendo-Poco ritartando, den sogenannten Stillstand.
    Auch das folgende Cantabile-Espressivo spielt er traumhaft, zum letzen überführende Durchführungsteil in Richtung Reprise, den er ebenfalls dynamisch sehr akzentuiert spielt.
    Die Reprise spielt er mit ihren thematischen Modulationen dynamisch genauso vehement wie die Exposition, wobei die drei oktavierten Halben-Oktavakkorde Takt 251, 253 und 255 wie Schreie anmuten. Ungeheuerlich in seinem Kontrast zu der hochdynamischen Sequenz mutet wieder das atemberaubende Diminuendo-Ritartando Takt 264 - 266 an. Über die Rückleitung geht es zum abermals berührend und im weiteren Verlauf mitreißend gespielten Seitenthema in die wunderbare Schlussgruppe, die nahtlos in die Coda, die nicht von dieser Welt scheint und die von Backhaus grandios gespielt wird.


    Im Scherzo ist er etwa im gleichen Temporahmen wie 7 Jahre zuvor, also langsamer als Arrau und natürlich schneller als Sokolov. Sein Ton ist auch hier schon sehr diesseitig und mit erhöhter Grundlautstärke, rhythmisch sehr prägnant mit einem zauberhaften Diminuendo im Mittelteil des Themas, Takt 19 bis 22, auch in der Wiederholung.
    Das Trio "semplice" spielt er temporal und dynamisch etwas zurückgenommen, so dass die Achteltriolen sehr gut zu unterscheiden sind. Überragend spielt er m. E. das Presto ab Takt 81, das er hier wirklich presto spielt und das andernorts manchmal erheblich langsamer gespielt wird.
    Auch das Scherzo II spielt er vorzüglich und so transparent, dass man auch hier die zusätzliche Achtel in der Altlage der oberen Oktave dieses durchgehend vierstimmigen Themas sehr gut vernehmen kann. Auch spielt er hier zweimal ein berührendes Diminuendo Takt 133 bis 136 und 149 bis 152.
    Im letzten, dynamisch hoch kontrastreichen Abschnitt mit einem abermaligen Presto hält er das turmhohe Niveau.


    Im Adagio ist hier der jüngere Backhaus über eine Minute langsamer als der 7 Jahre ältere, und ich muss sagen trotz der möglicherweise nach der Metronomzahlen neutralen 13 Minuten und etwas, dass mir 16 1/2 Minuten besser gefallen als 15 1/2 Minuten oder gar 13 1/2.
    Wilhelm Backhaus spielt hier das Thema in einer ungeheuren musikalischen teilweise siebenstimmigen Dichte, (immerhin hat er die Sonate kurz nach seinem 68. Geburtstag eingespielt), sehr abgeklärt in klarer Diktion und mit sorgfältiger Nachzeichnung der moderaten dynamischen Bewegungen. Ein erster Höhepunkt ist der anrührend gespielte lyrische Boden in Takt 14 und 15 der oberen Oktave, in zweiter nur wenige Takte später der zweite Bogen mit der Oktavierung in Takt 22/23. Im wqeiteren Verlauf spielt auch er die Sechzehntel ab Takt 27 in der begleitung nicht staccato am Beginn, sondern sofort non legato. Ich sehe das inzwischen fast als schlüssiger an.
    Dann die überirdische melodisch terrassenförmig ansteigende Überleitung zum ebenfalls überirdischen Seitenthema, hier atemberaubend gespielt.
    Und erst das Seitenthema: ich führe eine immer enger werdende Bindung zu diesem Thema und fühle, wenn ein Pianist auch diese enge Bindung zu diesem Thema hat. Backhaus hat sie.
    Auch in den tiefen Lagen wie hier in Takt 61 mit Auftakt "una corda" spielt er sehr transparent. Zu Beginn der Durchführung, (Takt 69), kommt mir in den Sinn, mit welch "heiligem" Ernst Backhaus das hier spielt. Das mag übertrieben klingen, aber ich fühle so. Wunderbar lässt er auch die Sechzehntel-Aufwärtsbewegungen laufen und leitet im Diminuendo-Smorzando in die Reprise über, an deren Beginn ein 17taktiges Espressivo mit insgesamt 102 Zweiunddreißigstel-Figuren à 4 Zweiunddreißigstel bzw. 3 Zweiunddreißigstel steht, auch ziemlich einmalig in der Sonatengeschichte, wie mir scheint. Und Wilhelm Backhaus zeichnet die wellenförmigen dynamischen Bewegungen, die sich den wellenförmigen Verläufen in den Oktaven anpassen, sorgfältig nach, die in dieser unglaublichen hohen Oktave mit den Oktavwechseln ab Takt 99 bis Takt 103 mit zusätzlichen Oktavierungen in der hohen Oktave ausläuft.
    Auch den Melodieteil führt er wieder so aus wie in der Exposition., ruhig, non legato, transparent und leuchtend in den Höhen, und im Abschnitt "con grand'espressione" ab Takt 118 kann man selbige förmlich spüren. Ich jedenfalls spüre sie innerlich. Und dann wieder die Überleitung und das Seitenthema, beides überirdisch, und auch so gespielt. Auch, als die Sechzehnteltriolen einsetzen (Takt 134 ff.) bleiben Atem und melodischer Bogen die Gleichen.
    Und wieder fesselt uns eine Coda der typischen Beethovenschen Art, diesmal auf ganz anderem temporalen Niveau und ebenfalls von großer musikalischer Tiefe und mit an dieser Stelle ungewohnter dynamsicher Bewegung- welche eine Entsprechung von Komposition und Interpretation, sechstimmig morendoartig endend auf dem letzten gebrochenen Akkord!
    Ein herausragend gespieltes Adagio!


    Im Finale ist Backhaus signifikant langsamer als er selbst 7 Jahre später und schneller als Arrau und vor allem Sokolov.
    Schon im Largo spielt er keineswegs so breit, wie es die Satzverzeichnung vermuten lässt. Da ist Sokolov ganz anderer Auffassung. Im Vergleich zum Largo , in dem Achtel = 92 sind, dürften hier Achtel gleich 38 hier nur knapp zweieinhalb mal so schnell sein, aber das kommt mir schneller vor. Ich will aber jetzt nicht das Metronom herausholen, dann würde ich mich nur verzetteln. Ich will nur schauen, dass ich auf der Höhe des musikalischen Geschehens bleibe. Allerdings spielt Backhaus das alles, einschließlich des Allegros, des tenuto, des a Tempo und des Prestissimo (Takt 3 bis Takt 11) brillant, da beißt die Maus keinen Faden von ab.
    Den ersten Teil des Allegro risoluto, die Exposition in B-dur, spielt er sehr klar und Transparent, so dass man dem musikalischen Verlauf gut folgen kann. Vor allem der dynamische Verlauf und die vertrackten rhythmischen Bewegungen bringt er zu sehr großer Übereinstimmung.
    Auch der zweite Teil des Allegros, die Themenvergrößerung in es-moll, die nicht nur taktmäßig (68 Takte), sondern auch rhythmisch-dynamisch mit zum Schwierigsten gehört, was die Klavierliteratur überhaupt zu bieten hat (ich habe z. allein in diesem Abschnitt 63 Sforzandi gezählt, falls ich mich nicht verzählt habe), fließt unter den Händen Backhaus' nur so dahin. Dann der dritte und vierte Teil, der Rücklauf in h-moll und die Umkehrung des Themas in G-dur, Takt 154 bis 207 und Takt 208 bis 249, bewältigt Wilhelm Backhaus mit großer Bravour, wobei sich im vierten Abschnitt, nach Wiedereinsetzen der Sechzehntel in beiden Oktave, der dramatische Furor noch vergrößert, wobei er insbesondere den Abschluss der G-dur-Sequenz mit den sprunghaften Trillern ab Takt 243 mit der größten Vehemenz spielt.
    Dass er auch "sempre dolce cantabile" kann, stellt er gleich darauf im fünften Teil, der Durchführung des 2. Themas in D-dur, unter Beweis. Wenn der Abschnitt auch kurz ist, so besetzt er doch eine Schlüsselstelle in diesem aufwühlenden Finale, un JSB ist Wilhelm Backhaus ja nicht so ganz unbekannt, und so lässt er diesen Abschnitt auch in richtiger Weise atmen und in einem wunderbaren Ritartando ausatmen.
    Der sechste Abschnitt schließlich mit den verschiedenen Themenbearbeitungen in B-dur, nimmt den drängenden temporalen Faden wieder auf, auch wenn das Tempo sich gegenüber dem temporalen Höhepunkt des Satzes hier in der Interpretation Backhaus' zumindest etwas beruhigt hat. Doch auch hier ist noch Furor genug und erst in der Super-Coda. Ich glaube, außer Beethoven hat niemand solche Codas geschaffen.
    Auch hier höchste Bewertungen für Backhaus Finale!
    Es war sicherlich das Beste, was ich bisher von Wilhelm Backhaus gehört habe.


    Liebe Grüße


    Willi :thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup:

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).


  • Beethoven, Sonate Nr. 29 B-dur op. 106 "Hammerklavier-Sonate"
    Daniel Barenboim, Klavier
    AD: 1966-69
    Spielzeiten: 13:14-3:03-21:56-12:49 -- 50:59 min.;


    Daniel Barenboim ist in den Spielzeiten nahe bei Sokolov, sowohl im Kopfsatz, als auch im Scherzo. Im Adagio ist er sogar etwas langsamer als Sokolov, im Finale jedoch etwas schneller.
    Dynamisch geht er ordentlich zur Sache, das ist schon ein veritables Fortissimo, das er anschlägt, aber er beweist auch ein großes Gespür für die temporalen, rhythmischen und dynamischen Verläufe, wie man schon im Hauptsatz, an den Crescendi in Takt 11ff. und 24ff. oder am Diminuendo Takt 31ff. sowie an den vielen Staccato-Legato-Wechseln unschwer erkennen kann. Diese Musik ist voll Saft und Kraft.
    Auch die Überleitung, die er aus dem piano wunderbar crescendiert und sogleich in das beseligende hohe Seitenthema hinein gleitet, sowie der Seitensatz selbst in seinen drei Teilen sin vom Feinsten.
    Das spielt er extrem sanglich, auch noch in der 2. und 3. Phase, bis er am Ende des Seitenthemas wieder den dynamischen Impetus des Hauptthemas erreicht. Im Cantabile dolce ed espressivo der Schlussgruppe senkt er das Tempo noch etwas ab und erreicht so, wie ich finde, noch mehr musikalische Tiefe und Ausdruck. Dann spielt er am Ende der Exposition noch ein frappierendes Crescendo, bevor er die Exposition selbstverständlich wiederholt. Danach steigt er mit Vehemenz in die Einleitung der Durchführung ein, bevor er mit moderatem Tempo das Fugato beginnt. Hier gestaltet er die verschiedenen Einsätze in verschiedenen Lagen un dynamischen Intensitäten, darauf dann ebenfalls viermal den Auftakt des Fugatothemas in den bekannten verschiedenen Tonarten, bevor er diesen immer höher aufsteigenden und immer mehr Dynamik erreichenden Auftakt in einem wunderbaren Diminuendo-Ritartando auslaufen lässt und ein berührendes Cantabile espressivo folgen lässt, schließlich in einem großen dynamischen Kontrast den letzten Durchführungsteil anschließt.
    Die Reprise mit ihrer anfänglichen Themenmodulation und dem anschließenden Cantabile e ligato spielt er ebenso berückend, um im Hauptthema II wieder den starken dynamischen Anstieg mit dem abschließenden Diminuendo-ritartando abzuschließen. Über die starke synkopierte Rückleitung gelangt er wieder zu dem überirdischen dreiteiligen Seitensatz, und von dort zur hochdynamischen Schlussgruppe und zur unglaublichen Coda.
    Ein ähnlich intensiv gespielter Kopfsatz wie derjenige Sokolovs.


    Das Scherzo spielt er auch in ähnlichem Tempo wie Sokolov, ein wenig rascher, dynamisch und rhythmisch sehr aufmerksam, den Akzent jeweils auf den dritten Akkord der vierakkordigen Phrase legend, im Mittelteil schön mit einem Piano kontrastierend und dann das Ganze wiederholend.
    Das Trio gerät in dem moderaten Tempo ganz klar strukturiert, und das Presto ist ein großartiger Kontrast.
    Im reprisenförmigen Tempo I ist die zusätzliche Achtel im Alt auch hier sehr gut zu vernehmen, und im weiteren Verlauf spielt er entsprechend dem 1. Scherzoteil, wobei mit etwas gutem Willen die letzten zwölf Takte mit den vier Prestotakten in der Mitte auch als Coda bezeichnet werden könnten.
    Sehr klar und gut strukturiert und kontrastreich gespielt!


    Das Adagio spielt er mit großem Ernst, wie ich finde, und mit viel Spannung und tief empfundenen Ausdruck, wobei besonders die beiden Bögen in Takt 14/15 und 22/23 herausragen. Der folgende "con grand' espressione"-Abschnitt treibt die expressive Kurve weiter nach oben, und dann beginnt im Crescendo poco a poco ab Takt 36 mit Auftakt die berückende Überleitung zum Seitenthema und bei mir der Schauer am Rücken. Das Crescendo in diesen drei unglaublichen Takten treibt Barenboim, wie ich finde, besonders auf die Spitze, das klingt atemberaubend, und dann das Seitenthema- überirdisch! Und es soll ja keiner glauben im Überirdischen sei keine dynamische Bewegung, den belehrt Barenboim eines Besseren.
    Die Durchführung mit den einleitenden Oktavgängen spielt Barenboim weiter in einem äußerst klaren Ton mit klaren perlenden Crescendo-Sechzehntelbögen und im weiteren Verlauf mit großer dynamischen Spannweite und gleitet ganz natürlich in die lange Zweiunddreißigstel-Sequenz der Reprise hinein, in der er die fortlaufenden Legatobögen konzentriert, spannungsreich und entspannt fließen lässt, von Achteln begleitet und von allerlei auf- und absteigenden Dynamikkurven strukturiert. Besonders beeindruckend ist die hohe Oktave mit den Oktavwechseln ab Takt 99 mit Auftakt mit einigen zusätzlichen Oktavierungen- welch ein Ausdruck. Auch hier besticht wieder der schon aus Takt 14/15 bekannte lyrische Bogen, hier in Takt 108/109, bevor wieder der "grand'espressione"-Abschnitt für sich einnimmt, hier in einer etwas höheren Lage als in der Exposition, mit einem geradezu elysischen Klang, wobei Barenboim im nächsten Bogen in Takt 118/119 noch etwas höher treibt, hier durch mehrere ausdrucksmäßige und dynamische Satzbezeichnungen noch hervorgehoben. Dann spielt Barenboim wieder das himmlische Seitenthema mit allem Ausdruck, der ihm zu Gebote steht, und das ist nicht wenig. Diesen ganzen letzten Abschnitt der Reprise zur Coda hin, etwa von Takt 137 bis Takt 153 spielt Barenboim herausragend. Ich fühle mich von der Musik umgeben, ja fast eingehüllt. Noch einmal erklingt das himmlische Seitenthema, entwickelt daraus ein kraftvoll mitreißendes Crescendo. Noch ein letztes ml zieht das Hauptthema an uns vorüber, bevor nach dem a tempo das Geschehen langsam im Morendo versinkt.
    Welch eine große Interpretation!


    Dann das Finale. Endlich mal ein Largo, das den Namen verdient hat. denn nach den Metronomzahlen müsste dieses kurze Stück (2 Takte) zweieinhalb mal so langsam gespielt werden wie das voraufgegangenen Adagio. Das Allegro und die einleitenden Allegro risoluto-Takte 11 bis 15 spielt er sehr vehement.
    Die Exposition in B-dur spielt er sehr im Vorwärtsdrang, aber dennoch sehr transparent. Im weiteren Verlauf bleibt der dynamische Impetus auf sehr hohem Niveau. Den zweiten Abschnitt, die Themenvergrößerung in es-moll mit den vielen Trillern gleichzeitig oder nacheinander in mehreren Lagen und den vertrackten Rhythmus spielt Barenboim sehr gekonnt, wie ich finde, so dass man den Überblick gut behalten kann.
    Der Rücklauf in h-moll bringt hier in Barenboims Lesart doch mehr Ruhe ins Geschehen, womit es aber in der Themenumkehrung in G-dur ab Takt 208 wieder vorbei ist. Diesen Teil des Allegro risoluto kann besonders im Sinne der Satzbezeichnung verstehen. Hier wimmelt es von Sforzandi und Fortissimi und von Trillern in allen Lagen, und Barenboim spielt das auch sehr mitreißend.
    Und dann die "Bach-Sequenz" Takt 250 bis 278. Hier klingt sie altersweise, etwas introviertiert, ja fas andächtig, auf jeden Fall grandios!
    Teil 6, Nr. 1 (Takt 279 bis 293) nimmt unter Barenboims Händen wieder einen kraftvollen "ben marcato", dann "sempre ben marcato"-Aufschwung, dann führt er das Thema vehement original und in Umkehrung gleichzeitig durch und nimmt schließlich in der wundersamen Coda (ab Takt 367) noch einmal unter allen möglichen Aspekten einen Anlauf zu einem würdigen Beethoven-Schluss-Höhepunkt in beiden dynamischen Richtungen und gespickt mit pianistischen Hürden, die jedoch dem jungen Barenboim keinerlei Schwierigkeiten zu bereiten scheinen- Grandios!!


    Liebe Grüße


    Willi :thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup:

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

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  • Beethoven, Sonate Nr. 29 B-dur op. 106 "Hammerklavier-Sonate"
    Paul Badura-Skoda, Klavier
    AD: 1969/70
    Spielzeiten: 10:12-2:22-16:53-11:08 --- 40:35 min.;


    Paul Badura-Skoda ist in dieser seiner ersten Aufnahme im Kopfsatz schneller als alle anderen, die ich schneller als alle anderen, die ich bisher rezensiert habe. Allerdings kommen in diesem sich schon dem objektiven Tempo der Metronomzahlen nähernden Ablauf die Ritartandi in Takt 8ff. und 32ff., meines Erachtens wichtige Schlüsselstellen im temporalen Gefüge des Hauptthemas, nicht zum Tragen.
    Im Seitensatz allerdings hat die Lesart Badura-Skodas m. E. trotzdem Bestand, da er die hohe Oktave konstant fließen lässt, was der Sequenz Ruhe verschafft. Auch in der 2. Phase des Seitenthemas fallen die Ritartandi nicht so ins Gewicht, wie sie sollten. Es bleibt einfach zu wenig Zeit zum Retardieren. Natürlich ist das alles, auch in der 3. Phase des Seitensatzes, prachtvoll musiziert und verleiht dem dramatisch-temporalen Impetus dieses abschließenden Teils des Seitenthemas zusätzlichen Schube, aber m. E. fehlt ein wenig die majestätische Größe zu Gunsten der Virtuosität.
    Im 1. Gedanken der Schlussgruppe gibt Badura-Skoda dem lyrischen Gewicht dieses Satzes kurzzeitig Raum, bevor im 2. Gedanken wieder der dynamisch-temporalen Impetus das Kommando wieder übernimmt. natürlich wiederholt auch Badura-Skoda die Exposition.
    Die kleinen temporalen Ruheinseln, die diese Exposition zweifellos aufweist, werden in diesem Tempo, das Badura-Skoda anschlägt, und das Andere noch mehr forcieren, m. E. nicht genügend berücksichtigt.
    In der Einleitung der Durchführung ist allerdings die dynamische Bewegung sehr gut eingefangen. Auch im Kern der Durchführung stellt er die verschiedenen Einsätze des Fugatos schön heraus, desgleichen auch die im zweiten Teil 4 ebenfalls vorgestellten Auftakte des Fugatothemas, die er dann doch in einem frappierenden "Stillstand" (ab Takt 197) auslaufen lässt. Auch das anschließende Cantabile espressivo musiziert er sehr berührend und geht nahtlos in den dynamische sehr kontrastreichen letzten Durchführungsteil über, den er in den letzten 4 Takten 223 bis 226 fast glissando spielt.
    In der Reprise scheint mir im Hauptthema das Ritartando etwas treffender musiziert. Auch nach der Themenmodulation spielt Badura-Skoda die wiederholten Themeneinleitungen dynamisch sehr drängend, verstärkt durch die vehementen Fortissimooktavierungen Takt 251, 253 und 255, die jeweils eine Anschubfunktion inne haben.
    Doch wiederum scheint mir wie schon in Takt 31 bis 34 am Ende der Exposition in der Reprise das Ritartando zu wenig ausgeprägt.
    Die Rückleitung dagegen, nach einer auffallend langen Fermat3 in Takt 268, gefällt mir sehr gut.
    Jedoch scheint mir auch der seitensatz ab Takt 279, hier ohne Oktavierungen, temporal zu wenig von der Exposition abgesetzt. Das Problem hatten wir auch schon mal zuletzt in der Sonate Nr. 3 angesprochen, wo im Kopfsatz in der Exposition das Seitenthema, das ja eigentlich, wie hier, Ruhe bringen sollte, von dem einen oder anderen zu schnell gespielt wurde.
    Dagegen spielt Badura-Skoda das Cantabile im 1. Teil der Schlussgruppe viel zutreffender in verhaltenem Tempo, was eine ungleich tiefere musikalische Wirkung erzeugt.
    In der grandiosen Coda legt Badura-Skoda dann nochmal zu und zeigt, dass er auch über ein großes virtuoses Potential verfügt. Hier ist in der Tat der dynamisch-rhythmische Impetus angebracht.
    Eine immer dort überzeugende Interpretation, wo das Tempo nicht zu hoch war.


    Im Scherzo ist Badura-Skoda temproal etwa auf einer Höhe mit Arrau. Allerdings meine ich, dass er die dynamische Akzentuierung in der jeweiligen zweitaktigen Phrasenmitte nicht so ausgeprägt gestaltet wie die meisten seiner Vorgänger. Rhythmisch ist das ansonsten m. E. in Ordnung.
    Im sehr schnellen Trio ist es ähnlich wie bei Arrau. Die Achtel-Triolen in der Begleitung sind kaum noch zu unterscheiden. Man vergleiche das mit den Pianisten, die das Scherzo-Trio in Ruhe spielen und bewundere, wie klar dort die Strukturen hervortreten.
    Im Scherzo II ab Takt 122 haben wir ein ähnliches Problem, wo die zusätzliche Achtel im Alt auch höchstens zu erahnen ist. Wie anders ist das doch z. B. bei Sokolov. Tempo und vordergründige Virtuosität auf Kosten der Struktur ist m. E. kein guter Ratgeber. Da, wo das Tempo zutreffend ist, wie z. B. in den letzte 8 Takten, einer Kurzcoda vergleichbar, hat das eine ganz andere Wirkung.


    Im Adagio ist Badura-Skoda etwas langsamer als Backhaus, aber schneller als alle anderen bisher rezensierten Pianisten. Dennoch habe ich nicht den Eindruck von zu hohem Tempo. Er spielt das sehr ruhig, und von Anfang an auch dynamisch sehr aufmerksam den Bewegungen folgend. Dieser Satz scheint ihm zu liegen, sein Ausdruck ist sehr berührend, vor allem der erste Bogen Takt 14715 blüht regelrecht auf, auch der zweite Bogen in Takt 22723 gefällt mir außerordentlich.
    Auch die nächste Sequenz spielt er, wie es der Name schon sagt, "con grand' espressione". Im nächsten abschnitt mit den Sechzehnteln und Zweiunddreißigsteln hält er das expressive Niveau. Dann die überirdische Überleitung zum Seitenthema, die kann auch Paul Badura-Skoda in besonderem Maße. Sie ist eben, zusammen mit dem anschließenden Seitenthema, eine der größten Eingebungen, die Beethoven je gehabt hat. So, wie her hier dieses Thema spielt, ist da m. E. vom Tempo her noch keinerlei Einwendung gegen zu machen, und mir scheint, dass Badura-Skoda ab Takt 45 mit Eintritt des Themas das Tempo noch einmal geringfügig verringert, und das tut diesem Thema ja so gut. Wunderbar auch noch mal der Bogen über dem Takt 58. Sehr stark spielt er auch das Ende der Exposition Takt 61 bis 68.
    Auch die Durchführung mit den Sechzehntel-Figuren spielt er m. E. großartig, vor allem auch in der zweiten Hälfte die stark auflebende dynamische Bewegung. Das ist schon große Pianistik.
    Die Reprise gefällt mir auch in diesem Tempo durchaus, die er sehr ausdrucksvoll spielt, wobei hier das manchmal temporal Drängende durchaus zielführend ist. Wunderbar sind vor allem die Oktavwechsel ab Takt 99, wobei eine besondere Steigerung noch dien Takte 103 und 103 bedeuten, in denen jeweils drei Oktavierungen von einem nicht oktavierten Oktavwechsel unterbrochen werden. Das ist in der Klaviersonatengeschichte m. E. so ziemlich ohne Beispiel.
    Den nach oben oktavierten teil des Hauptthemas (ab Takt 113) spielt Badura-Skoda m. E. besonders ausdrucksvoll. und dynamisch sehr akzentuiert.
    In der Rückkehr zum Seitenthema öffnet sich wieder das Tor zum Elysium. Ich glaube, jeder Pianist will dies Thema toll spielen, und Badura Skoda braucht das nicht zu wollen, er tut es einfach. Auch die Coda spielt er sehr berührend, mit der nochmaligen Rückkehr zum himmlischen Seitenthema und der anschließenden dramatischen Steigerung Takt 162 bis 165. Auch den Schluss der Coda spielt Badura-Skoda, wie ich glaube, durchaus überzeugend, in einem frappierenden Morendo auslaufend.


    Das Largo beginnt Badura-Skoda m. e. einigermaßen im richtigen Tempo. Das Allegro ist auch in Ordnung, und das tenuto und das a tempo scheint mir etwas übertrieben. Dort ist zwar ein Crescendo notiert, aber kein Accelerando.
    Im I. Teil des Allegro Risoluto, der Exposition in B-dur, ergreift Badura Skoda ein schnelles Tempo, wie es seiner gesamten Tempo-Konzeption geziemt. Das ist zwar schwierig zu verfolgen, aber bis jetzt schaffe ich es noch.
    Im II. Teil, der Themenvergrößerung in es-moll, führt Badura-Skoda die Sforzando-Sequenz und die anschließende Trillersequenz mit großem Engagement aus, dabei auch das Diminuendo in Takt 126 ff. sehr schön ausführend.
    Im III. Teil, dem Rücklauf in h-moll, und im IV. Teil, der Umkehrung des Themas in G-dur , steigert sich auch in dieser Interpretation die rhythmische Kurve, die vielleicht einer durchführungsähnlichen Steigerung angemessen ist.
    Den V. Teil, die Durchführung des 2. Themas in D-dur, spielt Paul Badura-Skoda, mit dem lyrischen Ausdruck, der ihm natürlich auch zur Verfügung steht. Allerdings vermisse ich auch ein wenig die letzte konsequente Ausführung des Ritartando in Takt 276 bis 278.
    Im VI. Teil in dem das 1. und 2. Thema gleichzeitig durchgeführt werden, hält er die dynamisch-dramatische Spannung auf dem Höhepunkt, bevor die wundersame Coda dieses große Werk abschließt.
    Die Coda spielt Badura-Skoda abschließend großartig.


    Durch temporale Fragen bin ich leider nicht zu einer besseren Bewertung gekommen.


    Dieses war meine 750. Rezension, und ich danke an dieser Stelle allen Mitdiskutanten und den vielen Lesern.


    Liebe Grüße


    Willi :thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup:

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).


  • Beethoven, Sonate Nr. 29 B-dur op. 106 "Hammerklavier-Sonate"
    Paul Badura-Skoda, Klavier
    AD: 26. 6. 1976, Warschau, Live
    Spielzeiten: 10:14-2:22-16:05-10:49 --- 39:30 min.


    Paul Badura-Skoda ist in dieser zweiten Aufnahme der Hammerklavier-Sonate im Kopfsatz temporal gleich mit der Ersten. Auch dynamisch und rhythmisch entspricht das einander, leider auch den wenig ausgeprägten beiden Ritartandi in Takt 8 und Takt 31 bis 34 in dem großen Diminuendo-Ritartando. Das habe ich in anderen aufnahmen schon viel prägnanter gehört.
    Dafür spielt er die Überleitung vom Hauptthema III zum Seitensatz präzise und den seitensatz selbst in seiner 1. hochliegenden und sehr lyrisch-sanglichen sehr anrührend. Vielleicht hätte er diese Sequenz noch etwas langsamer spielen können. In der 2. Phase des Seitenthemas spielt er die beiden poco Ritartandi schon etwas aufmerksamer, vor allem das zweite in Takt 68/69.
    Aber es ist ja auch auffällig, wie viele derartige Vorschriften er alleine in der Exposition erlassen hat (4 Ritartandi, 11 Crescendi, 2 Diminuendi und 4 a tempo). Das hat er ja nicht aus Jux und Dollerei gemacht, sondern weil er diese Vorschriften für unerlässlich hielt, und ich finde, deshalb sollte man sie ernst nehmen. Interessanterweise ist Badura-Skoda in den hochdynamischen Sequenzen, z. B. der 2. und 3. Phase des Seitenthemas konsequenter. Allerdings spielt er auch den 1. Gedanken der Schlussgruppe, das Cantabile, sehr berührend und spielt hier auch signifikant langsamer. Er kann das schon sehr gut.
    Natürlich wiederholt er auch die Exposition. Und ich meine, dass er in der Wiederholung die beiden Ritartandi in Hauptthema I und Hauptthema II etwas langsamer spielt. Das gilt auch für das zweite Poco Ritartando in der 2. Phase des Seitensatzes (Takt 68/69). Nicht, dass wir uns falsch verstehen, er spielt das alles ganz großartig, die Schlussgruppe geradezu phänomenal, aber das Tüpfelchen auf dem "i" wäre bei einer derartigen pianistischen Potenz auch eine gleichzeitige konsequente Partiturtreue.
    Die Einleitung der Durchführung ist so ein Ort, wo er konsequent ist (Takt 120 bis 124). Auch die Crescendi spielt er grandios. Auch der Kern der Durchführung mit den präzisen vier Themeneinsätzen (Takt 138 mit Auftakt, Takt 147 mit Auftakt, Takt 156 mit Auftakt und Takt 167 mit Auftakt) und den ebenfalls 4 Auftakt-Sequenzen in dom c-moll, c-moll, dom Es-dur, Es-dur, spielt er sehr präzise und transparent, und nach dem 4. Auftakteinsatz, spielt er an dessen hochdynamischen Ende im sogenannten "Stillstand" ab Takt 197 zum ersten Mal in Diminuendo-poco ritartando genau so, wie ich es mir vorstelle- grandios! Danach spielt er ein atemberaubendes Cantabile espressivo, bevor im letzten Durchführungsteil die dynamische Kurve wieder steil nach oben zeigt.
    In Badura-Skodas Tempo haben die vier abschließenden Durchführungstakte 223 bis 226 wieder einen Glissando-Charakter.
    Die Reprise beginnt er mit wiederum machtvollen ff-Akkorden im Thema. Nach der Themenmodulation ab Takt 235 mit Auftakt fährt er wieder eine grandiose Steigerung, lässt aber diese auslaufen in einem, wie ich finde, wiederum zu wenig ausgeprägte Diminuendo-Ritartando. Das sind absolute Schlüsselstellen, wie ich finde, die zum Gesamtbau der Satzstruktur unerlässlich sind.
    Hier sind dann im Weiteren Rückleitung und Seitensatz in der 1., lyrischen Phase, durchaus wieder großartig, während im weiteren Verlauf die temporalen Bewegungen (Ritartandi) m. E. wieder zu wenig ausgeprägt sind.
    Den ersten, lyrischen Abschnitt der Schlussgruppe spielt er wieder grandios und den zweiten, direkt in die atemberaubende Coda hineinreichenden sowieso. Auch die Coda ist vom Feinsten.
    Großen Teils ist dieser Satz formidabel gespielt, aber es gibt Stellen, mit denen ich so nicht einverstanden bin.


    Auch im Scherzo entspricht seine Satzzeit derjenigen aus dem Jahre 1970. Die dynamisch-rhythmische Akzentuierung auf der Phrasenmitte (Taktende) scheint mir hier präziser zu sein. Im Trio jedoch besteht wieder die Schwierigkeit, die Achtel-Triolen auseinander zu halten. Ich ahbe mir mal überlegt, wenn Beethoven hier Halbe=80 setzt, müsste das Achtel=320 bedeuten. Geht das? Mir ist jedenfalls wohler bei Satzzeiten eines Grigory Sokolov und auch schon eines Vladimir Ashkenazy, wo man die Strukturen noch lesen kann, sprich: alles unter 2:30 min. ist mir suspekt.
    Das Tempo I ab Takt 113 mit Auftakt spielt er allerdings so präzise, dass ich sogar die zusätzliche Achtel im Alt erkennen kann- wow. Und hier, in diesem Hochgeschwindigkeitssatz, packt er ab Takt 164 ein Ritartando aus, direkt vor dem Presto, das mich beinahe fassungslos macht. Also, in diesem Satz hat er wirklich alles drin.


    Im Adagio ist er fast 1 Minute schneller als in seiner früheren Aufnahme. Dennoch habe ich noch nicht den Eindruck, dass das zu schnell sei. Die dynamischen Linien zeichnet er aufmerksam nach und lässt die Musik maßvoll fließen. Die beiden Bögen in Takt 14/15 und 22/23 spielt er sehr anrührend.
    Die "con grand' espressione"-Sequenz ab Takt 28 mit Auftakt lässt er wirklich mit großem, ja beinahe schon dramatischem Ausdruck folgen, und die lyrische Überleitung zum überirdischen Seitenthema spielt er vollends losgelöst. Die zunehmende dynamische Bewegung im weiteren Verlauf des Seitenthemas lässt er einhergehen mit moderaten Tempobewegungen, eine kluge Idee. Auch die Überleitung zur Durchführung ab Takt 61 spielt er grandios.
    Sehr schön gestaltet er auch die zunehmende dynamische Bewegung mit den beiden Crescendi in der Mitte der kurzen Durchführung ab Takt 72 und ab Takt 76 und nimmt Takt 80 mit Auftakt schön zurück. Dann gefällt mir auch der Übergang zur Reprise in den Takten 85/86 diminuendo-smorzando ausnehmend.
    Mit tief empfundenem Ausdruck gestaltet er auch den 17-taktigen Zweiunddreißigstel-Beginn der Reprise und spielt die insgesamt 8 Crescendi auf diesem Abschnitt voll aus. Und im nächsten Abschnitt, dem "diminuendo poco a poco" und dem anschließenden ausgedehnten Ritartando, Takt 104 bis 106 (dim) und 107 bis 112 (rit) spielt er das hier wirklich herausragend.
    Auch den folgen "a tempo"-Abschnitt ab Takt 113 spielt er mit höchstem Ausdruck und mit sehr hohen dynamischen Ausschlägen- wieder ein Beleg dafür, dass "überirdisch" nicht heißen muss: "ständig nahe der Hörgrenze".
    Nach der neuerlichen hochlyrischen Überleitung folgt erneut das herrliche Seitenthema, das er erneut mit viel dynamischer Bewegung versieht, was ja durchaus möglich ist, da Beethoven hier keine bestimmten dynamischen Vorschriften notiert hat, sondern nur ein Crescendo in der Überleitung und ein Crescendo in dem herrlichen Oktavbogen Takt 143 und erst danach wieder p und pp. Auch diesen tiefdynamischen Übergang zur Coda spielt Badura-Skoda atemberaubend.
    Dann schließt er eine sehr bewegte Coda an, in der er in den beiden Crescendi ab Takt 157 und 162 durchaus auch schon mal das Fortissimo trifft.
    Auch im nächsten Abschnitt spielt er das wiederum ausgedehnte Ritartando vorbildlich und den letzten "a- tempo"-Abschnitt mit dem letzten Crescendo wieder sehr bewegt und das dann abschließende Diminuendo fast bis zum Morendo-Schluss.
    Eine grandiose Lesart des Adagios.


    Im Largo - Allegro risoluto ist er um wenige Sekunden schneller als in seiner früheren Aufnahme.
    Den Übergang zum Allegro risoluto "a Tempo" Takt 10, gestaltet er mit einem bestechenden Accelerando-Prestissimo.
    Den I. Teil der Fuge, die Exposition in B-dur, mit dem raschen Oktavenwechsel von Thema und Begleitung, gestaltet er sehr klar und transparent.
    Den II. Teil, die Themenvergrößerung in es-moll, versieht er mit dem nötigen dynamischen Gewicht, vor allem in der Sforzandokette Takt 102 bis 110. Hier laufen die Stimmen teilweise weit auseinander, auch durchsetzt von verschiedenen Trillern in mehreren Ebenen.
    Der III. Teil, der Rücklauf in h-moll mit wellenförmigen Sechzehnteln, aufstrebenden Sechzehntelfiguren sowie gegeneinander laufenden Sechzehntelfiguren, ist unter Badura-Skodas Händen ebenfalls gut zu verfolgen.
    Der IV. Teil, die Themenumkehr in G-dur, wobei sich ebenfalls die Laufrichtungen der Sechzehntelfiguren, ständig verändern und auch häufiger als im III. Teil in beiden Oktaven unterwegs sind, verlangt auch rhythmisch dem Pianisten Höchstanstrengendes ab. Badura-Skoda spielt hier mit vollstem Risiko und endet diesen Abschnitt mit einem donnernden Fortissimo.
    Dafür kann er im V. Teil, der Durchführung des 2. Themas in D-dur, auch kurz durchatmen, wobei er diesen kurzen Abschnitt von 28 Takten mit Auftakt, wirklich sehr kantabel gestaltet, wie es in der Partitur steht. Diese lyrischen "Ruheinseln" gibt es in Beethovens Sonatenkosmos ja häufiger.
    Dafür geht es dann im zweifach unterteilten VI. Teil wieder mächtig zur Sache, wo der Pianist gleich wieder gehörig ran muss, der Hörer allerdings auch. Im ersten Teilabschnitt führt er beide Themen gleichzeitig in B-dur vor, und im zweiten Teilabschnitt das erste Thema zweifach vor, wieder mit höchster Betriebsamkeit der Sechzehntelfiguren in beiden Oktaven, wobei sich Badura-Skoda auch hier tapfer schlägt. Im dritten Teilabschnitt des VI. Teils schließlich folgt die schlussankündigende Durchführung in B-dur, die dann nahtlos in die kolossale, ja ultimative Coda übergeht ultratiefen Trillerketten, einem Sechzehntelaufstieg über mehrere Oktaven und 12 höchstdynamische Schlusstakte --- eine gigantische Coda einer gigantischen Sonate- und Paul Badura-Skoda bleibt nichts schuldig.


    Liebe Grüße


    Willi :thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup:

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).


  • Beethoven, Sonate Nr. 29 B-dur op. 106 "Hammerklavier-Sonate"
    Paul Badura-Skoda, Klavier
    AD: Juli 1980
    Spielzeiten: 9:50- 2:25-15:50-11:09 ---39:14 min;


    Paul Badura-Skoda ist in dieser seiner dritten Aufnahme in den Sätzen 1, 3 und 4 am schnellsten, nur im Scherzo ist er etwa gleichauf.
    Das Besondere an dieser Aufnahme ist, dass er, nachdem er alle 32 Sonaten 1969/70 und die Hammerklaviersonate von 1976 auf einem "Bösendorfer Imperial" gespielt hatte, diese Aufnahme nun auf einem Original Fortepiano, einem Hammerflügel von Conrad Graf aus dem Jahre 1824 gespielt hat.
    Auf genau so einem Flügel, allerdings einem Nachbau, hat Ronald Brautigam vor zwei Jahre in Köln drei Beethovensche Schwergewichte, die Pathétique, die Waldstein-Sonate und die Sonate Nr. 32 gespielt. Ich berichtete darüber im entsprechenden Thread:


    Konzertbesuche und Bewertung


    Ich war seinerzeit von dem schwachbrüstigen Klang mehr als enttäuscht.
    Dass der Klang auf dieser Aufnahme möglicherweise sich ganz anders darstellt, liegt wohl daran, dass diese Aufnahme im Studio entstand und dort alle Möglichkeiten genutzt werden konnten, um dem Klang "auf die Sprünge zu helfen.
    In den Fortissimi des Themas kommt auch Einiges, aber schon im zweiten Thementeil, im Piano ab Takt 5 mit Auftakt, dünnt sich der Klang schon mächtig aus, geht in Richtung Spinett-Klang. Auch spielt er hier, da der Klang dieses Flügels sowieso schneller ist, auch vor allem das ersten Ritartando wieder zu schnell. Das zweite ab Takt 31 ist dann in Ordnung.
    Für das Seitenthema gilt wieder das genau Gleiche wie für den zweiten Thementeil: der Klang ist mir in dieser Tonlage und vor allem in dieser Dynamik zu dünn. Auch in der dritten Phase des Seitenthemas, wo es wieder in die hohen Oktaven hineingeht, beschleicht mich das selbe Gefühl. Ich hätte gerne mal gewusst, wie sich Paul Badura-Skoda selbst dabei gefühlt haben mag nach dem Motto: "Wie man in die Tasten herein haut, so schallt es aber nicht heraus". Pianistisch ist das Ganze natürlich größtenteils ohne Fehl und Tadel.
    Lediglich in der Schlussgruppe ergibt sich ein dynamisch etwas zufrieden stellenderes Bild bzw. Hörergebnis. Natürlich wiederholt Badura-Soda auch hier die Exposition. Es sei an dieser Stelle noch einmal gesagt, dass ich keine Gesamtaufnahmen auf Originalklanginstrumenten in meine Rezensionen mit hinein nehme, weil sie klanglich so schlecht vergleichbar sind mit Steinways oder Bösendorfer oder sogar Blüthner. Aber da diese Aufnahme nun mal in der GA mit enthalten ist, nehme ich sie doch mit dazu.
    In der Wiederholung der Exposition spielt Badura-Skoda m. E. beide Ritartandi im Hauptthema I und II zu wenig ausgeprägt. Ansonsten ergeben sich natürlich an den gleichen Stellen wieder die gleichen klanglichen Defizite.
    Die Einleitung der Durchführung ist klanglich wieder einigermaßen im Soll. Im Fugato ist der Beginn noch einigermaßen konkurrenzfähig, da er sich in der tiefen Oktave befindet. Aber schon der zweite Einsatz im piu crescendo fällt klanglich wieder etwas ab. Im dritten Einsatz geht es dynamisch nach oben, auch da im Tiefbass ziemlich viel passiert, aber in der zweiten Hälfte des Durchführungskerns, wo nur der Themenauftakt in verschiedenen Tonarten durchgeführt wird, tritt der dünne Klang wieder zunehmend ans Licht, weil nach einem Fortissimo-Doppelakkord jeweils eine Kette von kurzen Bögen im Piano folgt, und die fallen dann wieder ganz krass aus dem Rahmen. Im "Stillstand" Takt 197 ff. kommt wiederum hinzu, dass das Diminuendo-Poco ritartando zu wenig ausgeprägt ist. Das folgende Espressivo ab Takt 201 ist einfach schön gespielt trotz der klanglichen Defizite. Erst, wenn das Forte im Tiefbass Takt 213, wieder anhebt, klingt es wieder in etwa nach "Hammerklavier-Sonate",.
    In der Reprise wird nach den einleitenden Fortissimo-Akkorden des Themas das Problem in der Modulation wieder überdeutlich. Im Klartext: im Fortissimo und im Bass klingt das Instrument akzeptabel, im Piano und in den hohen Lagen aber nicht, jedenfalls für mich. Das zieht sich weiter durch die Rückleitung und den Seitensatz. Die Schlussgruppe kommt etwas besser dabei weg, desgleichen die Coda, da dynamischer.


    Im Scherzo setzt sich für mich das Problem fort, da es oft im Piano un in der hohen Lage verläuft. Im Trio verstärkt sich der Eindruck bei mir sogar. Es ist zwar in den Achteltriolen auch transparenter als bei vergleichbaren Steinways, aber es klingt auch öfter ausgesprochen dünn. Und letztlich ist mir das Presto etwas zu wenig presto. Auch im Tempo I und im Scherzo II wird das klangliche Ergebnis nicht besser.


    Im Adagio fällt mir trotz oder gerade wegen der sehr verhaltenen Dynamik ein weiteres Defizit auf: der warme, geheimnisvolle dunkle Klang im Thema fehlt hier, dafür beginnt hier plötzlich der Doppeltakt 14/15 etwas zu leuchten, auch der zweite Doppeltakt22/23 im Diskant, allerdings fällt der warme dunkle Unterton in der Bassoktave wieder flach.
    Auch im "con grand'espressione" ab Takt 28 kommt mir in den sechzehntel-Bassfiguren zu wenig Fundament, und in der hohen Oktave ist der Klang wieder zu dünn. Aber o Wunder: die überirdische Einleitung klingt genau jetzt, genau hier, ab Takt 36, geradezu überwältigend. Ich weiß nicht, wieso das so ist, aber ich nehme es dankbar hin. Das gilt aber nur für die terrassendynamischen Verschiebungen Takt 36 bis 39, dann setzt sich der dünne Klang wieder durch, auch im Crescendo ab Takt 41 wird das nicht wesentlich besser.
    Bei dem Abschnitt, auf den ich gehofft hatte, dem überirdischen Seitenthema, ab Takt 45, hält sich meine Begeisterung sehr in Grenzen. Auch hier gilt, da das Thema in dynamisch niedriger Stufe vorgetragen wird,
    m. E. ein Verlust an Körperhaftigkeit des Klanggefüges. Dazu nimmt das Tempo dieser dritten Aufnahme Badura-Skodas auch hier im Adagio wieder etwas zu, was das musikalische "Gewicht" dieses Satzes weiter schmälert.
    Ich versteh angesichts solcher klanglichen Ergebnisse schon, warum sich Beethoven mal schriftlich bei einem Freund darüber beklagt hatte, dass die Klaviere seiner Zeit für seine Kompositionen zu schlecht klängen, sprich nicht geeignet seien.
    In der Durchführung, die mit Oktavgängen im Diskant und im Bass beginnen, dünnt sich hier der Klang noch weiter aus. Gerade in musiklisch weniger dichten Strukturen wie hier in der Durchführung scheint das Problem noch drängender zu werden.
    Auch in der Reprise, die er auf nach wie vor hohem Niveau spielt, die temproal gar nicht mal so sehr aus dem Rahmen fällt, ist nach wie vor der Mangel an klanglichem Körper förmlich zu spüren. Wiederum ist hier die hohe Oktave ab Takt 99 mit Auftakt herauszunehmen, die aus irgendeinem Grund hier wieder in eine klanglich akzeptable Form gekommen ist. Im "con grand'espressione"-Abschnitt wird das klangliche Volumen wieder geringer. In der Wiederholung des Seitenthemas fällt mir etwas auf, dass ich schon vorher gemerkt hatte, aber hier noch nicht zur Sprache gebracht hatte. Im Tiefbass schnarrt der Graf-Flügel manchmal aus Mangel an klanglichem Körper (wie sagte mal ein amerikanischer Lautsprecherbauer: Volumen ist durch nichts zu ersetzen).
    Aus diesem Grunde klingt auch die Coda von Beginn an ziemlich dünn. Da kann uns das neuerliche himmlische Seitenthema kaum aufheitern, und so zieht sich das bis zum Ende fort.
    Wenigstens hat Paul Badura-Skoda keine Problem, hier ein veritables Morendo zu fabrizieren.


    Wo diese Aufnahme schon so unter klanglichen Defiziten zu leiden hat, muss doch positiv bemerkt werden, dass Badura-Skoda hier im Finale das Largo wenigstens temporal partiturgerecht spielt. Interessanterweise ist bei Beginn der Fuge angesichts des hohen Tempos festzustellen, dass hier die klanglichen Defizite nicht mehr so sehr ins Gewicht fallen und der Klang hier sowieso schlanker wirkt. Auch in der Themenvergrößerung kann man jetzt besser beim selbigen Bleiben, da man nicht mehr so sehr durch das Klangdefizit aus der Spur gebracht wird.. Auch im Rücklauf in h-moll und in der Themenumkehrung in G-dur fließt das geschehen munter weiter. Auch hier ist natürlich latent der dünne Klang zu vernehmen, aber er stört bei dieser musikalischen dichten Fugenverflechtung weniger, als er hilft.
    Und in der Durchführung des 2. Themas in D-dur ab Takt 250 senkt sich ein derartiger Frieden über das musikalische Geschehen, dass das Klangliche für einen Moment nicht so im Vordergrund steht. Und das spielt er wieder ganz großartig, einschließlich des Ritartandos.
    Im dreiteiligen sechsten Abschnitt der Fuge nimmt Badura-Skoda den temporalen wieder auf, jagt die Sechzehntel durch die Partitur und besteht geschickt die rhythmischen Klippen der Partitur. Auch die Schlussankündigung der Durchführung in b-dur übersteht er mit Bravour, auch die Wahnsinnscoda. Allerdings muss gesagt werden, dass m. E. diese Coda auf einem Steinway um Klassen besser klingt.


    Zum ersten (und ich denke einzigen Mal) werde ich hier eine zweiteiligen Wertung vornehmen.


    Klang:............. :thumbsup::thumbsup:
    Interpretation: :thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup:


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

    Einmal editiert, zuletzt von William B.A. ()


  • Beethoven, Sonate Nr. 29 B-dur op. 106 "Hammerklavier-Sonate"
    Lazar Berman, Klavier
    AD: 26. 2. 1975, Mailand, live
    Spielzeiten: 10:57-2:29-17:30-11:23 --- 42:18 min.;


    Diese Aufnahme ist sehr schwach ausgesteuert, und es sind knisternde Störungen zu vernehmen. Dennoch denke ich, dass Berman das dynamisch partiturgerecht gemacht hat. Auch rhythmisch ist das in Ordnung und von der Zeit her ist er zwar deutlich langsamer als Badura-Skoda, aber auch mehr als deutlich schneller als Barenboim oder Sokolov.
    Das Diminuendo-Ritartando am Ende des Hauptthemas II spielt er atemberaubend. Nach der Hauptthema-Überleitung spielt er ab Takt 47 eine betörende 1. Phase des Seitensatzes, und in der 2. Phase nimmt er die temporalen Veränderungen: poco ritartando - a tempo -poco ritartando - a tempo ab Takt 65 mit Auftakt wiederum sehr ernst, was ich als sehr verantwortungsbewusst gegenüber dem Willen des Komponisten empfinde und was auch deutlich zur exakten Darstellung der musikalischen Struktur beiträgt. Andere, wie zuletzt Badura-Skoda, sind da nicht so genau. Auch die dynamischen Bewegungen zeichnet er sorgfältig nach, wie er auch in der 3. Phase des Seitenthemas ab Takt 74 unter Beweis stellt.
    Im 1. Gedanken der Schlussgruppe ab Takt 100 zeigt er abermals seine großen lyrischen Ausdrucksfähigkeiten, und im 2. Gedanken spielt er eine bemerkenswerte dynamische Steigerung zum Ende der Exposition. Dann wiederholt auch er selbstverständlich dieselbe.
    In der Einleitung der Durchführung spielt er seltsamerweise die beiden Viertel-Terzen in der höheren Oktave staccato statt ganz normal non legato.
    Die Fuge beginnt partiturgerecht im sempre p, fast etwas beschaulich, steigert dann aber im zweiten Einsatz im piu crescendo Takt 147 und im dritten Einsatz Takt 156 mit Auftakt kontinuierlich weiter. Im viermaligen Auftakt des Fugatothemas ab Takt 177 ist er dann im Fortissimo angelangt und bleibt in den wechselnden Tonarten auf dem hohen dynamischen Niveau. Dabei bemerkt man, dass er mit höchstem pianistischen Risiko spielt und auch den einen oder anderen Verspieler nicht scheut. Im "Stillstand" ab Takt 297 hätte ich mir allerdings ein noch ausgeprägteres Diminuendo poco ritartando gewünscht. Das Espressivo ist dafür wieder sehr überzeugend und im letzten Durchführungsteil die Dxynamikwechsel.
    Die dynamisch hochstehend eröffnete Reprise m8t der anschließenden kantablen Modulation spielt er auch großartig einschließlich der folgenden Dynamikwechsel im Hauptthema II mit dem abschließenden Diminuendo-Ritartando. In der nun folgenden Rückleitung und dem ausgedehnten dreiteiligen Seitensatz spielt er entsprechend der Exposition, doch hier ohne die Oktavierungen, aber wieder mit den frappierenden Tempomodifikationen, wieder mit einem bestrickenden Dolce in der schlussgruppe und einer bestechenden Supercoda.


    Im Scherzo ist er langsamer als Badura-Skoda allerdings auch deutlich schneller als Barenboim. Im Assai vivace akzentuiert er allerdings in der jeweiligen Phrasenmitte, also der Viertel nach dem Taktwechsel, nicht so deutlich wie etwa Sokolov.
    Im Trio ist dieses Tempo noch gut geeignet, um die Achteltriolen wahlweise in der unteren bzw. oberen Oktaven deutlich zu unterscheiden. Das Presto ab Takt 81 spielt er mit gehörigem Vorwärtsdrang und wiederum vollsten Risiko.
    Im Scherzo II spielt er die zusätzliche Achtel im Alt sehr deutlich, aber insgesamt wie im Scherzo I, also mit verminderter dynamischer Akzentuierung.


    Im Adagio ist er ebenfalls etwas langsamer als Badura-Skoda, aber deutlich schneller als Barenboim, Arrau oder Sokolov. Dynamisch finde ich, dass er zumindest im Hauptthema schon mal die Ausschläge nach oben und unten deutlich reduziert im Gegensatz etwa zu Badura Skoda. Die beiden Crescendi in Takt 8 und 10 könnten deutlicher sein. Allerdings sind die melodiösen Anteile wie etwa der Bogen in Takt 14/15 und der weitere Verlauf bis Takt 26 mit dem neuerlichen Bogen in Takt 22/23 Extraklasse, allerdings wieder dynamisch deutlich reduziert. Das ist nicht Piano, das ist Pianissimo, für sich gesehen, erst mal nicht falsch, falls die dynamischen Bewegungen vollzogen werden. Auch er spielt im weiteren Fortgang im Takt 27 die ersten drei Sechzehntel, nicht, wie es gehört, staccato, sondern non legato. Im weiteren Verlauf spielt er mit reduziertem dynamischen Ausschlag. Erst in der überirdischen Überleitung spielt er ein atemberaubendes Crescendo.
    Im Seitenthema dann scheint mir wieder zu wenig dynamische Bewegung. Der junge Barenboim spielt das ganz anders. Erst im nächsten Crescendo ab Takt 55 erhöht Berman die Aktion, und schon blüht das Ganze auf. Gegen Ende des zweiten Themas zieht er sich wieder ins Pianissimo zurück. Diesmal steht es allerdings auch so in der Partitur.
    In der Durchführung spielt er die aufsteigenden Sechzehntelläufe sehr überzeugend und erhöht auch die dynamische Spannweite und endet die Durchführung mit einem großartigen Diminuendo-Smorzando.
    In der Reprise, die eine Fülle von dynamischen Bezeichnungen beinhaltet, bewegt er sich für mein Empfinden zu sehr am Rande des Pianissimo entlang, um die dynamischen Bewegungen und die Espressivo-Anweisungen zur Gänze auszuschöpfen. Alleine in der 17-taktigen Zweiunddreißigstel-Sequenz sind 13 verschiedene dynamische Anweisungen enthalten, die ich aber in der Fülle so nicht wahrnehmen kann. Erst im langgezogenen Ritartando ab Takt 107 lebt Bermans Spiel dynamisch spürbar auf.
    Auch im darauffolgenden "con grand' espressione" hält er dieses zunehmende dynamische Aktion aufrecht. Auch im zweiten Teil des Seitenthemas bleibt die dynamische Aktion höher, einhergehend mit temporaler Belebung, bevor es wieder, aber hier partiturgerecht, in Richtung Coda ins Pianissimo geht, in der das Seitenthema auch noch mal kurz auftaucht, diesmal aber in einem großen Crescendo zerbröselnd. Hier spielt er dann auch wieder das langgezogenen Ritartando ab Takt 169 mit Auftakt sehr schön. Auch in diesem letzten Teil der Coda bleibt er im Pianissimo, auch im Crescendo Takt 176. Das ist dann in den letzten sechs Takten in der Tat ein überragendes Morendo.


    Im Finale ist Berman schneller als Barenboim, allerdings auch etwas langsamer als Badura-Skoda. Er gehört doch auch zu den Wenigen, die das Largo bisher im m. E. richtigen, w eil langsamen Tempo spielen, immerhin zweieinhalbmal so langsam wie das Adagio. Das gilt m. E. auch für das Allegro.
    Im Allegro risoluto, namentlich im I. Teil, der Exposition in B-dur, scheint mir das dynamische Bewegungsbild sehr unruhig.
    In der II. Sequenz, der Vergrößerung in es-moll, kann ich in den ersten Takten ab Takt 87 die Sforzandi kaum vernehmen. In der ersten Hälfte dieses Abschnitts gestaltet er dann die massive Sforzandokette (Takt 101 mit Auftakt bis Takt 114) dynamisch sehr hochstehend . In der zweiten Hälfte zieht er sich wieder in die Gegenrichtung zurück.
    Im III. Abschnitt, dem Rücklauf in h-moll und in der Umkehrung des Themas in G- ist die Dynamik wieder sehr wechselhaft und das Geschehen wieder schwieriger zu verfolgen.dur im IV. Abschnitt. Gegen Ende des IV. Abschnitt steigert er dann so dermaßen, dass die sprunghaften Triller Takt 243 bis 246 kaum noch zu unterscheiden sind.
    Im V. Abschnitt, der Durchführung des 2. Themas in D-dur, dem sempre dolce cantabile, stellt er einen gewaltigen temporalen Kontrast her. Das ist ja schon fast wieder Adagio. Für sich klingt das toll, aber mir ist es schon im Vergleich mit den Anderen eigentlich zu langsam.
    Dann beginnt er auch den VI. Abschnitt, der ja im "a tempo" steht, sehr zögerlich, aber beschleunigt kurz darauf , spätesten s beim zweifachen Spielen des 1. Themas, ganz unwahrscheinlich. Dennoch sind in diesem Abschnitt die Strukturen wieder besser zu verfolgen, und in der Schlusscoda bietet er noch einmal alles an gestalterischer Kraft auf, was in diesem komplizierten Abschnitt möglich scheint.
    Mir scheint dieser Schlusssatz, der sicherlich zum Schwersten überhaupt gehört, nicht so organisch gespielt zu sein, wie ich es hier schon gehört habe.
    Dennoch im Ganzen eine großartige Interpretation!


    Liebe Grüße


    Willi :thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup: :thumbsup::thumbsup::thumbsup:

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

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