Wassili Kalinnikow: Symphonie Nr. 1 g-Moll


  • Wassili S. Kalinnikow


    Das Leben von Wassili Sergejewitsch Kalinnikow (1866—1901) war kurz und von Krankheit überschattet. Nicht einmal 35-jährig starb der Komponist an den Folgen der Tuberkulose. Seine Musik lehnt sich an jene von Tschaikowsky und Borodin an, besitzt jedoch einen eigenen Charakter. Einfallsreichtum kennzeichnet seine Melodik, seine Orchestrierung ist farbig und voll. Die optimistische Grundstimmung seiner Werke verwundert, betrachtet man sein langes Siechtum. Zu Lebzeiten durchaus bekannt und geachtet, sank seine Popularität nach seinem Tod, um in den 1950er Jahren eine neuerliche Renaissance zu erfahren, wollte man doch eine Übereinstimmung mit dem sozialistischen Realismus in ihr erkennen.



    Die erste Symphonie entstand in den Jahren 1894 und 1895, also kurz nach Tschaikowskys Ableben, und setzt sich aus vier Sätzen zusammen:


    I. Allegro moderato
    II. Andante commodamente
    III. Scherzo. Allegro non troppo
    IV. Finale. Allegro moderato



    An der Einspielung Swetlanows von 1975 müssen sich noch heute alle neueren Aufnahmen messen lassen.


    Der Kopfsatz (14:05) vermittelt eine gewisse Leichtigkeit und ist von wunderschönen Melodien durchsät. Am Ende fulminanter Blechbläserklang. Der (relativ kurze) langsame Satz (7:28) ist verinnerlicht und klingt ohrwurmartig betörend. Das Scherzo (7:38) ist von aufgewecktem Charakter und temperamentvoll. Der Finalsatz (8:03) schließlich bekennt sich mit geradezu theatralischer Geste zum Optimismus. Die Coda klingt regelrecht übermütig in grandioser Art und Weise filmreif aus.


    Fazit: Ein sehr eingängiges und sehr russisches Werk, das es wert wäre, öfter gehört zu werden. Verglichen mit den etwa zeitgleich entstandenen Symphonien Glasunows deutlich expressiver und forscher.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Ich persönlich halte die erste Symphonie der zweiten für überlegen. Offenbar stehe ich damit nicht ganz allein da, denn die Diskographie der Ersten ist um einiges größer. Sogar Toscanini nahm sie auf.







    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Die erste Symphonie ist vermutlich das bekannteste Werk Kalinnikows. Sie wurde 1894/95 geschrieben und ist dem Moskauer Kritiker Semjon Nikolajewitsch Kruglikow (1855—1910) gewidmet, der sich trotz der ablehnenden Haltung Rimsky-Korsakows sogleich und nachhaltig für eine Aufführung einsetzte. Die Uraufführung fand am 8. (jul.)/20. (greg.) Februar 1897 in Kiew in einem Konzert der Russischen Musikgesellschaft unter dem Dirigenten Alexander Nikolajewitsch Winogradsky (1855—1912) statt. Die Symphonie war überaus erfolgreich und erfreute sich großer Beliebtheit beim Publikum; die Mittelsätze mussten sogar wiederholt werden. Es folgten Aufführungen in Moskau (unter Hermann Zumpe), Wien, Berlin und Paris. Über die Wiener Aufführung schrieb Winogradsky an Kalinnikow:


    „Lieber Wassili Sergejewitsch! Deine Symphonie erzielte gestern einen brillanten Erfolg. In der Tat ist es eine triumphale Symphonie. Wo auch immer ich sie spiele: jeder liebt sie, sowohl die Musiker als auch die Zuhörer.“


    In der ersten Symphonie folgt Kalinnikow den Traditionen der russischen klassischen Musik. Gleichwohl gelang es ihm, seine ganz eigene musikalische Intonation umzusetzen. Seine Musik erinnert an die Prosa von Turgenew und die gefühlvollen Naturbeschreibungen von Tschechow. Die Melodien der Symphonie sind erfüllt von warmen und herzlichen Emotionen. Die Musik ist voller Träumereien, jugendlichem Überschwang und leichter Heiterkeit. Das Werk ist zudem durchtränkt vom Geiste eines Liedes — die Melodien fließen unbändig und frei, gleichsam wie in den gewaltigen Weiten der russischen Steppe. Kalinnikow gelingt es, den Charakter authentischer Volksmelodien einzufangen.


    In den vier Sätzen — umfangreiches, liedhaftes Allegro, stilles Andante, strahlendes Scherzo und jubilierendes Finale — beeindruckt uns der Komponist großmütig mit seinem Talent, ist seine Musik doch an sehr unterschiedlichen Gruppen der Öffentlichkeit orientiert.


    Der erste Satz (Allegro moderato) basiert auf der Entwicklung zweier völlig verschiedener Themen, beide geschrieben in der Tradition russischer Lieder. Das lyrische Hauptthema wird allmählich dramatischer (fugato), doch klingt es schließlich wieder ruhig und erzählerisch.


    Der zweite Satz (Andante commodamente) beginnt mit einer verträumten Melodie, die von Bratschen und Waldhörnern im Hintergrund von Harfen und Geigen gespielt wird. Im Mittelteil (Un poco più mosso) ändert sie sich in eine neue bewegende und melancholische Melodie. Die dramatische Kulmination des Satzes ist verknüpft mit dem Auftreten des dritten Themas und der kontrapunktischen Entwicklung, in deren Anschluss sich die Wiederholung zurückentwickelt zur ruhevollen Kontemplation.


    Im dritten Satz (Allegro non troppo) fühlt sich Kalinnikow zur Tradition der „Gruppe der Fünf“ (Balakirew, Borodin, Cui, Mussorgsky, Rimsky-Korsakow) hingezogen. Dieses Scherzo erinnert an die Feste der Skomorochen, mittelalterlicher fahrender Volksunterhalter in Russland. Das Trio basiert auf der sich herausbildenden Variation eines Volksliedes. Das Ende des Satzes erklingt wiederum leuchtend und festlich.


    Der Finalsatz (Allegro moderato) beginnt mit dem Hauptmotiv des Kopfsatzes, das durchsetzt ist mit der Intonation des zweiten Scherzothemas. Die melodiöse Nebenmelodie ist eine der besten lyrischen Momente der Symphonie. Dieser Schlusssatz vereint das Material aller vorhergehenden Sätze und bekräftigt die Ideale von Licht und Vernunft, welche diese Symphonie von Kalinnikow unter die besten Kompositionen, die im späten 19. Jahrhundert in Russland entstanden, einreiht.


    (Text in eigener Übersetzung nach dem Begleittext von Anna Rusakowa im Booklet der Aufnahme von Kondraschin)


    Ich darf auf eine Live-Aufnahme des Schwedischen Rundfunk-Symphonieorchesters unter Swetlanow von 1982 hinweisen, die auf YouTube verfügbar ist:



    Sie ist sehr ähnlich seiner im Eingangsbeitrag vorgestellten sowjetischen Aufnahme von 1975 und hat nahezu identische Spielzeiten. Hinzu kommt noch etwas Live-Atmosphäre. Nach recht eingehendem Vergleichshören in nahezu alle oben aufgelisteten Aufnahmen (YouTube und Spotify machen's möglich) komme ich zu dem Schluss, dass Swetlanow (mal wieder) die überzeugendsten Interpretationen vorgelegt hat. Golowanow, Toscanini und Scherchen klingen zu historisch desolat, Järvi, Bakels und Yamada ein wenig zu sehr auf Hochglanz poliert, Kuchar hat kein vergleichbares Orchester zur Verfügung, Ashkenazy enttäuscht sogar ziemlich. Als beste Alternative würde ich Kondraschin mit den Moskauer Philharmonikern (Melodiya, 1960) ansehen, der das Werk lyrischer und im Finale breiter angeht und zudem ebenfalls echten russischen Orchesterklang zu bieten hat.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Hallo und herzlichen dank für die Themen zu Kalinnikow!



    Wassilij Kalinnikoff (1866-1901)
    Symphonien Nr.1 & 2


    Malaysian PO, Kees Bakels
    BIS, DDD, 2000


    Zu den beiden Hauptwerken scheint mir alles Relevante bereits gesagt, so dass ich nur ein paar kurze Eindrucke sowie Einschätzungen zur gezeigten CD beisteuern kann. Grundsätzlich sind die Sinfonien 1 und 2 absolut hörenswerte, gelungene Kompositionen, die aber auf mich gar nicht einmal einen so zwingend "russischen" Eindruck hinterlassen, gleichwohl ich mich ansonsten sämtlichen zuvor beschriebenen Charakterisierungen absolut anschließen möchte. Die Erste hinterlässt bei mir ebenfalls den stärkeren Eindruck. Sie gefällt mir persönlich sogar besser als die meisten Sinfonien Tschaikowskys und bewegt sich - neutraler gesehen - zumindest auf dem Niveau dessen Sinfonien Nr. 1 bis 3 oder auch der sinfonischen Werke von Alexander Glasunow.
    Obwohl das aus meiner Sicht ansprechende, hörens- und wiederhörenswerte Musik ist, drängt sich mir beim Konsum der gezeigten CD nicht der Wunsch nach alternativen Sichtweisen auf. Bei diesen beiden Werken erscheint mir die Bakels-Einspielung aus Kuala Lumpur, da sehr gut musiziert und aufgenommen, als absolut ausreichend und befriedigend. Die bemängelte gewisse "Glätte" könnte man jedenfalls auch der Musik als solches anlasten und eine Dramatisierung und ein "Aufrauen" mit Mitteln der Interpretation erscheint mir zumindest nicht absolut zwingend.
    Beide Sinfonien haben mir gefallen und sind aus meiner Sicht ein guter Kauf und eine lohnende Beschäftigung.


    Viele Grüße
    Frank

  • Ich habe soeben die Sinfonie Nr 1 von Kalinnikow in der schon weiter oben erwähnten Aufnahme unter Kees Bakels gehört - und zwar zum zweiten Male innerhalb einiger Tage. Das erste Mal kam ich nicht sofort nach der Hörsitzung zum Niederschreiben meiner Eindrücke, die flüchtig genug waren. Drei Tage später war jegliche Erinnerung an das Gehörte wie ausgelöscht, so daß ich dieser Sinfonie keine hohen Wiedererkennungswert bescheinigen kann. (Mag sein, daß dies lediglich ein subjektiver Eindruck ist, der dann nur für mich gilt.) Beim Wiederhören kam ich zu ähnlicher Beurteilung - allerdings in abgeschwächter Form. Zumindest der zweite Satz mit seinem "Pendelrhytmus" im Hintergrund ist einigermaßen originell, der dritte Satz wirkt hell und fröhlich, allerdings auch ein wenig "künstlich".
    Dynamische Sprünge sind im Potential der Sinfonie jedenfalls vorhanden, sie wurden IMO nicht völlig ausgekostet, wobei ich glaube, daß eine exzessive Ausnützung dieser Dynamik auch keinen wirklichen Gewinn darstellen würde. Im Finalsatz - er beginnt ähnlich wie der erste - bedient sich Kalinnikow eines oft eingesetzten Kunstniffes: Er verpasst der Sinfonie ein bombastisches Finale, um so den Eindruck eines grandiosen, bedeutenden Werkes beim Hörer hervorzurufen....


    Ich werde jedenfalls die erste Sinfonie mindestens noch einmal hören, bevor ich mich der Nr 2 zuwende. Denn manches Werk braucht mehr Aufmerksamkeit, bis sich dessen Vorzüge erschliessen, zudem hat auch der Zeitpunkt und die Umstände der jeweiligen Hörsitzung großen Einfluß auf die Eindrücke, die der Rezensent vermittelt bekommt. Rezensionen sagen ja, das ist meine feste Überzeugung, mehr über den Zeitgeschmack und jenen des Rezensenten aus als über das Werk an sich.


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !