Werkszyklen auch zyklisch hören: wie stehen die Taminos dazu?

  • Hallo zusammen,


    ich höre Werkszyklen gerne nacheinander bzw. zumindest durchgängig (falls die Reihenfolge der CDs von der - teils ja nicht unstrittigen - Werksreihenfolge abweicht).
    Man kann dann sehr schön die Entwicklung eines Komponisten nachvollziehen bzw. die Werke miteinander vergleichen und hörend betrachten, wie sie sich unterscheiden oder auch ähneln.


    Andererseits kann es - je nach Länge des Zyklus und Homogenität der Kompositionen - natürlich durchaus ermüdend sein, sagen wir den Sinfonien Haydns über rd. 30 CDs lauschend zu folgen... :D
    Da muss ich zumindest ab und zu ein (kurzes) Alternativprogramm "dazwischenschieben". Dennoch habe ich grundsätzlich kein Problem damit, bspw. Haydns Klaviersonaten "am Stück" (natürlich mit Pausen und nicht alles direkt nacheinander) zu hören - und diese dabei zu genießen.


    Wie denken andere Taminos über das Thema?
    Sind ganze Zyklen genießbar oder doch eher eine Zumutung bzw. welche Unterschiede (z. B. nach Gattungen oder Komponisten) macht ihr bei euren Hörprogrammen?


    Viele Grüße
    Frank

  • Hallo Hüb´!


    Ich gebe zu, ich nehme mir das ab und an vor; durchgehalten habe ich es bisher nicht. Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich während der Zeit zu viele andere Reize erlebe, die dazu führen, dass ich doch von meinem Vorhaben abkomme. Außerdem macht es auch Sinn, Werke im Schaffenszusammenhang zu sehen.


    So würde es mir wahrscheinlich passieren, dass ich von Beethovens Eroica-Sinfonie zu seinen Eroica-Variationen wechsle, von da zu Diabelli und dann bei Bach und seinen Goldberg-Variationen lande.


    Andere sind da wahrscheinlich disziplinierter und geduldiger...


    Chaqu´un à son goût / oder bayerisch: Ajederwirawui :)


    Gruß WoKa

    "Die Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber Schweigen unmöglich ist."


    Victor Hugo

  • Hallo Frank,


    ich habe die Erfahrung gemacht Zyklen stur von 1 beginnend zu hören, schnell in Langeweile ausarten kann.
    Ich informiere mich erst einmal, welche Werke und Sinfonien am interessantesten/meistgespielten sind und beginne dann mit diesen (zuletzt bei den Weinberg - Sinfonien zum Beispiel) und erweitere dann zu den weniger wichtigen Werken. Ich finde nicht, dass man dann den Überblick über "Sinn, Werke im Schaffenszusammenhang" verlieren könnte, denn das Gehörte hat man ja präsent und kann es einordnen.


    Beim Hören von Werkzyklen schiebe ich aber mit Sicherheit auch mal anderes Material ein und höre nicht alles hintereinander durch. Ich bin auch gar nicht scharf darauf unbedingt alles zu hören, denn wenn ich feststelle oder Lunte gerochen habe, dass gewisse Teile aus dem Zyklus zu langweilig sind, könnte ich dieses Material auch ganz weglassen.



    Um auch zu deinem Beispiel Haydn zu kommen:
    Die Pariser- und die Londoner-Sinfonien (und die dazwischen sind) habe ich in ganz zufälliger Reihenfolge (eher die Späten zuerst) kennengelernt. Zuerst die Londoner in den Karajan-Aufnahmen (DG); dann viel besser mit Aha-Erlebnis in den Harnoncort-Aufnahmen (Warner) und mit noch grösserer Freude dann die Pariser- und Londoner mit Bernstein (SONY; 1CD auch mit dem WPO auf DG) ... aber nie eine sture Reihenfolge eingehalten. Einige Einzelaufnahmen mit Szell gesellten sich noch dazu. Davor hatte ich auf LP die Jochum-Londoner-LP-Box ... ich will ganz ehrlich sein, die habe ich nie ganz durchgehört :untertauch:
    Die frühen Haydn-Sinfonien ... bisher war das nicht mein Repertoire ... fraglich ob ich dazu irgendwann Lust habe. :yes: Bei der Auswahl an Klassik muss man Prioritäten setzen und diese setzen sich bei mir einfach aus spannenderem Material aus dem 20./21.Jhd zusammen.

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Ich habe es mit Haydn anders gemacht als teleton, bei dem mich schon verwundert, dass er Haydn nicht einmal mit Original-Instrumenten gehört hat. Diese Aufnahmen gibt es. Ich habe mich anhand der Hogwood-Aufnahmen bis zum Abbruch bei 78 (oder 88) gehört. Immer nur eine Sinfonie, und die 10x, denn nur so ist es möglich, die Subtilität dieser Musik zu erfassen.
    Das Projekt hat 5 Jahre gedauert, ich habe natürlich noch anderes gehört. Nach jeder gehörten Sinfonie Haydn habe ich mich wie ein Kind auf die nächste gefreut und auf die nächste Überraschung. Der Höhepunkt der Sinfonien Haydns liegt bei mir in den 40ern, den Sturm-und Drang-Sinfonien, besonders 44 (Trauer), 45 (Abschied), 49 (La Passione). Die großen, hier so beliebten Sinfonien, nämlich die Pariser und die englischen, mag ich nicht so sehr. Eine Stellungnahme, die hier viel Anstoß erregt hat, möchte ich wiederholen: Haydn mit großen romantischen Sinfonieorchestern zu spielen fällt unter "Bearbeitungen" und nicht unter Sinfonien. Zum Glück ist es Usus geworden, dass jetzt auch die normalen Sinfonieorchester Haydn-Sinfonien in stark verkleinerten Besetzungen spielen (sogar Simon Rattle mit den Berlinern bei einem Haydn-Pasticchio in Luzern) - und siehe da, das funktioniert.

    Aller Anfang ist schwer - außer beim Steinesammeln (Volksmund)

  • Ich bekenne mich als Zyklist :) Symphonien, Klavierkonzerte, Streichquartette, Trios - das alles höre ich meistens chronologisch vom ersten bis zum letzten Stück. In jüngster Zeit standen etwa die Symphonien von Schumann, Brahms, Tschaikowski und Sibelius auf dem Programm, Haydns Orgelkonzerte, die Klavierkonzerte von Saint-Saëns, und ein Bruckner-Symphonien-Zyklus läuft gerade. Wobei ich zwischendurch immer etwas anderes höre - alle Bruckner-Symphonien hintereinander würde ich dann doch nicht aushalten.


    Ausnahmen gibt es natürlich. Wenn mir mal nach Schuberts "Unvollendeter" oder Mozarts Jupitersymphonie der Sinn steht, höre ich vorher nicht erst die frühen Symphonien alle durch, und um CDs mit Einzelwerken in interessanten Zusammenstellungen mache ich auch keinen Bogen, gerade bei Kammermusik würde einem da auch viel entgehen. Aber grundsätzlich ziehe ich es vor, einen gesamten Werkkomplex eines Komponisten nacheinander zu hören. Das gilt insbesondere dann, wenn ich alle Werke gleichermaßen schätze. Dass ich mal eine einzelne Symphonie zum Beispiel von Beethoven oder Mahler höre, kommt sehr selten vor. So gut wie nie kommt es vor, dass ich verschiedene Aufnahmen ein- und desselben Werkes nacheinander höre.


    Diese Präferenz spiegelt sich dann naturgemäß auch in meinem Kaufverhalten wieder. Von Symphonien zum Beispiel kaufe ich fast nur komplette Zyklen.

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

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  • alle Bruckner-Symphonien hintereinander würde ich dann doch nicht aushalten


    Karlheinz Deschner (bekannt durch seine zehnbändige »Kriminalgeschichte des Christentums«) hat einmal in einer Radiosendung gesagt, dass er nur Bruckner höre. Einmal habe er dann doch eine Zeitlang auch andere Sachen gehört, das dann aber bald zu Gunsten von Bruckner wieder aufgegeben. Das nenne ich konsequent.
    Ich höre meistens bunt gemischt, es sei denn, es hat gerade eine neue Gesamtaufnahme eines Werkkomplexes gegeben. Die höre ich dann hintereinander durch. Da ich aber noch so viel vor mir habe, meine ich es mir nicht leisten zu können, wie dr.pingel jedes Werk mehrmals hintereinander hören zu können, sondern das geht dann eher im Schnelldurchgang. Bei den Haydn-Sinfonien beispielsweise war das dann streckenweise mehr Pflichtübung als Vergnügen (das kam dann allerdings beim späteren Wiederhören einiger Sinfonien).

  • Ich habe es mit Haydn anders gemacht als teleton, bei dem mich schon verwundert, dass er Haydn nicht einmal mit Original-Instrumenten gehört hat.


    Hallo Dr.Pingel,
    du wirst lachen, aber ich glaube das wird bei mir wenig ankommen. Ich habe die Rattle-Aufnahmen (EMI) der Sinfonien Nr.88-92 (um die Lücke zwischen den Parise und Londoner zu schliessen). Bei Rattle gefällt mir die gewählte kleine Besetzung gar nicht besonders. Das hört sich für mich einfach zu dünn an. Zum Beispiel die Sinfonie Nr.88 mit Bernstein (SONY) ist dagegen im Vergleich einfach der Hammer.
    * Nur die Sinfonie Nr.90, bei der Rattle den Joke im letzten Satz wie kein Anderer interpretiert, finde ich genial; das macht Spass. Die Sinfonie Nr.92 ist allerdings mit Rattle auch gut gelungen - das ist Feuer und Spielspass pur.


    Aber Du siehst die Sache ohenhin anders, denn bei Dir sind ja gerade die grossen Pariser- und Londoner gar nicht so beliebt.


    Nun wieder zum Thema :
    Zyklisch hören oder frei ...

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Ich kann meine Meinung kurz und bündig kundtun: Ich höre die angekommenen CDs immer durch, es könnte schließlich eine defekte dabei sein - es ist mir mehrfach passiert. Und ob ich nach Wochen oder gar Monaten noch einen Umtausch durchsetzen kann, weiß ich nicht.


    Unabhängig davon geht es mir aber auch wie Bertarido (und wie Dr. Pingel): Ich "klaue" mir Bertaridos "Zyklist" und bezeichne mich auch als einen solchen. Bei Dr. Pingel bin ich nahe dran, wenn ich bestimmte CDs immer wieder höre, wie das Beispiel der Haydn-Sinfonien es wegen der Hundertschaft naturgemäß nahelegt.


    :hello:

    .


    MUSIKWANDERER

  • Ich höre die Zyklen immer nacheinander, weil ich mich kenne, das wenn ich einmal aufhören würde, ich keine Lust mehr hätte weiterzuhören.

  • Leider hat sich eine falsche Verwendung von "Zyklus" eingebürgert hat, indem der Begriff auf jede mögliche Reihe von ähnlichen Werken eines Komponisten ausgedehnt wird, egal ob die darüberhinaus irgendeine Art Einheit bilden oder nicht.
    "Winterreise" ist ein Zyklus, Davidsbündlertänze, das Weihnachtsoratorium und "Der Ring des Nibelungen" ebenfalls. Haydns "Pariser Sinfonien" oder die letzten drei Mozart-Sinfonien oder die Rasumowsky-Quartette könnte man vielleicht auch noch so verstehen, obwohl es jeweils unabhängige Werke sind.


    Aber weder die 32 Beethovenschen Klaviersonaten noch alle Brucknersinfonien oder alle Haydn-Quartette sind "Zyklen".


    Ich höre je nachdem ganz unterschiedlich. Normalerweise oder typischerweise höre ich "echte Zyklen", also z.B. Lieder- oder Klavierzyklen von überschaubarer Länge in einem durch. (Ich habe mir aber auch schon, wenn ich nicht viel Zeit hatte, eine handvoll "Lieblingslieder" aus der Winterreise auf den Player progammiert.) Auch solche, die öfters nur auszugsweise gespielt werden (z.B. Chopins Preludes). Das Weihnachtsoratorium oder den "Ring" höre ich dagegen meist nicht in einem (oder an aufeinanderfolgenden) Tag(en) durch, was aber hauptsächlich an der Länge liegt.
    Bei "Publikationszyklen" wie einem Vivaldi-Opus oder Bachs Clavierübung I oder Beethovens op.31 kommt es darauf an. Oft ganz pragmatisch z.B. eine CD (oft nur ein halber Zyklus). Die einzige Box mit einer längeren Werkreihe, bei der ich mich in den letzten Jahren erinnern kann, sie zügig (innerhalb von knapp 2 Wochen oder so) durchgehört zu haben, waren Haydn-Klaviersonaten (Dershavina/Hänssler). Dagegen habe ich z.B. Arraus Beethovenbox nach über zwei Jahren noch nicht ganz komplett gehört...

    Struck by the sounds before the sun,
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    (Bob Dylan)

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  • Hallo,


    danke für eure Beiträge. :)


    Die Einordnung des Einzelwerkes in seinen jeweiligen zeitlichen Kontext bzw. auch den individuellen Kontext des Komponisten (welche Musik entstand "Drumherum"?) ist sicher ein wichtiger und hervorzuhebender Punkt, der "gegen" zyklisches Hören spricht.


    Viele Grüße
    Frank

  • Leider hat sich eine falsche Verwendung von "Zyklus" eingebürgert hat, indem der Begriff auf jede mögliche Reihe von ähnlichen Werken eines Komponisten ausgedehnt wird, egal ob die darüberhinaus irgendeine Art Einheit bilden oder nicht.


    Eigentlich hat sich schon die Verwendung des Begriffs Zyklus als Menge zusammengehörender Werke (wie in "Liederzyklus") von der Wortherkunft entfernt, denn das griechische Wort kýklos heißt doch wohl Kreis oder Kreislauf. Von einem solchen kann bei der "Schönen Müllerin" nun keine Rede sein. Wenn man den Begriff in der weiteren Bedeutung verwendet, sehe ich aber auch kein Problem darin, von einem Symphonienzyklus zu sprechen. Die neun Beethoven-Symphonien gehören sehr wohl zusammen: dieselbe Werkgattung, derselbe Komponist und - wenn man z.B. von "Karajans zweitem Beethoven-Zyklus" o.ä. spricht - auch derselbe Interpret.

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • ich erinnere mich vage, dass hier im Forum die Frage gestellt wurde, welche Symphonie eines Zyklus (ich glaube es ging um Pettersson) man als Erstes hören sollte, und da gab es Antworten wie 'fange mit der Siebten an, die ist am Leichtesten' und ähnliche.


    Meine Antwort auf eine solche Frage und auch auf die in diesem Thread gestellte : fange mit der Nr 1 an und wühle dich durch, so lernst du den Komponisten am Besten kennen.
    Insoweit finden einige weiter oben stehende Antworten meine Zustimmung.


    So habe ich es mit den Haydn-Symphonien gemacht, und so mache ich es zurzeit mit Marriners Tschaikowsky, und ich fahre gut damit.

    Es wird immer weitergehn, Musik als Träger von Ideen.

    Kraftwerk

  • Ich möchte doch noch mal nachfragen, wie ihr es mit den Wiederholungen haltet. Als Chorsänger habe ich gelernt, dass man ein Chorstück immer wieder üben muss, auch wenn man die Noten schon kann. Erst wenn man es fast auswendig kann, kann man auch mit einer guten Interpretation beginnen. Einen guten Chorsänger erkennt ihr daran, dass er die Noten tief hält und oft den Dirigenten ansieht, auf jeden Fall bei den Übergängen. Auswendig muss er nicht singen, aber die Noten sind nur Stützen. Diese Angewohnheit habe ich auch auf mein Musikhören angewandt. Das meiste höre ich so oft, bis es sich erschöpft hat. Das kann unterschiedlich dauern, bei vielen Kompositionen erschöpft sich das bei mir nie (nur zwei Beispiele für viele: Die "Geistliche Chormusik" 1648 von Schütz; die "Marienvesper" von Monteverdi).
    Übrigens gibt es einen Maßstab dafür, ob man ein Stück gut kennt: man weiß praktisch immer, wie es weitergeht.
    Zum Schluss: ich bin immer wieder erstaunt, bei der Lektüre von "Was höre ich gerade" zu lesen, welche Unmengen von Musik ihr hört; bei manchen kommen ja noch Opernfahrten dazu, z.B. bei William, der diese Wahnsinnsdateidatei verwaltet, durch halb Europa zum Opernhören reist, in gefühlten 10 Chören singt und dazu noch eine profunde Ahnung von allem hat :D ). Erstaunt bin ich auch immer wieder, wenn jemand nebenbei erzählt, von einem Werk 104 Aufnahmen zu besitzen oder alle Beethoven-Sinfonien in über 50 Gesamtaufnahmen. Ich schildere hier nur, was ich sehe, ich hoffe, ihr denkt nicht, dass da eine Kritik dabei ist. Meine Methode hat nämlich auch gravierende Nachteile. So habe ich durch Janacek, Monteverdi, Cavalli, die alte Polyphonie so viel Zeit gebraucht, die mir dann für Wagner nicht mehr zur Verfügung stand. Das bedaure ich durchaus, denn was ich von Wagner kenne, imponiert mir sehr. Dass ich den Tristan, Parsifal und den Ring so wenig kenne, macht mir durchaus zu schaffen. Vielleicht muss ich einfach mal einen ganzen Wagner-Winter einlegen ("Wagner-Winter warten werdammtnochmal im weißen Weihnachts-Wusel"!)

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  • Ich möchte doch noch mal nachfragen, wie ihr es mit den Wiederholungen haltet. Als Chorsänger habe ich gelernt, dass man ein Chorstück immer wieder üben muss, auch wenn man die Noten schon kann. Erst wenn man es fast auswendig kann, kann man auch mit einer guten Interpretation beginnen. Einen guten Chorsänger erkennt ihr daran, dass er die Noten tief hält und oft den Dirigenten ansieht, auf jeden Fall bei den Übergängen. Auswendig muss er nicht singen, aber die Noten sind nur Stützen. Diese Angewohnheit habe ich auch auf mein Musikhören angewandt. Das meiste höre ich so oft, bis es sich erschöpft hat.


    Lieber Dottore, ich lese immer wieder fasziniert von Deinen Hörgewohnheiten, etwa eine Haydn-Symphonie 10mal hintereinander zu hören, andere Werke noch viel öfter. Ich verstehe die Motivation dahinter sehr gut; wenn man ein Stück wirklich gut kennenlernen will, dann muss man es so machen. Wobei ich dann auch noch unterschiedliche Interpretationen heranziehen würde. Nur würde bei mir ein solches Hören jeden Hörspaß töten, es wäre dann Arbeit. Und da ich allein um des ästhetischen Genusses willen Musik höre, mache ich das nicht. Wenn ich ein Werk einmal gehört habe, dann reicht es in der Regel und ich gehe zum nächsten. Allenfalls höre ich zum Vergleich noch in die eine oder andere Interpretation hinein, aber auch das ist eher selten. Dann lieber einen Haydn-Zyklus einmal vom Anfang bis zum Ende gehört und mit gehörigem zeitlichem Abstand vielleicht noch einmal den nächsten.


    Wahrscheinlich hat Dein anderer Zugang damit zu tun, dass Du ausübender Musiker bist.

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  • Lieber Bertarido, ich freue mich immer, wenn du was von mir kommentierst, weil ich weiß, dass du mit Verständnis kommentierst, auch wenn du anderer Ansicht bist. Ich möchte auch nur auf einen Aspekt antworten, den des Vergleichs und den der Arbeit. Ich vergleiche erstmal gar nicht. Wenn ich z.B. eine CD von Tomàs Luis de Victoria gekauft habe, habe ich nur die gehört (meist eine Referenzaufnahme von Hesperion XX). Dann vielleicht ein Jahr später etwa die gleichen Stücke von Pro Cantione Antiqua. Der Vergleich ist keine Arbeit, weil ich dann beide Interpretationen gut kenne. Der wichtigere Aspekt ist dieser: für die meisten Kompositionen gilt, dass man die subtilen Sachen beim ersten oder einmaligen Hören gar nicht mitbekommt. Es ist also keine Arbeit, sondern eher eine Sucht, immer tiefer einzudringen. Ich erinnere mich, als ich anfing, die Jenufa zuerst zu hören. Das traf mich wie ein Blitz, und ich wollte immer mehr. Von Arbeit keine Spur. Was gibt es Schöneres, als wenn man nach Musik süchtig ist? Noch zwei Beispiele: eine der schönsten Arien, die Mozart je geschrieben hat, ist die Arie der Barbarina am Anfang des Schlussbildes von Figaros Hochzeit (die Arie mit den sordinierten Geigen). Das hört man nicht beim ersten Mal! Genauso in der Zauberflöte der Choral der beiden Geharnischten; mit die beste Musik in dem Stück. Auch das hört man nicht beim ersten Mal. Ein ganz vertracktes Beispiel: in der "Klugen" von Orff muss die kluge Bauerntochter drei Rätsel des Königs lösen. Einem der Enkelkinder (Mädchen, 5) meiner Freunde muss ich dieses Rätsel immer vorsingen; sie kann es jetzt auch! "Es floss ein Mühlenstein auf dem Wasser, da saßen drei Männer drauf. Der erste war blind, der zweite war lahm, der dritte war nackt, so nackt, dass es knackt (Entzücken der 5jährigen!). Der blinde Blinde sah einen Hasen, der Lahme, der lief ihm nach, der Nackte steckt ihn in die Tasche."
    Die Kluge löst es spielend, indem sie es als Täuschung und Lüge bezeichnet. Aber wie macht sie es? Sie macht es so subtil, dass ich das erst nach mehrmaligem Hören entdeckt habe. "Der Taube, der hört es; der Stumme sagt´s weiter!" Das hört man nicht beim ersten Mal. Übrigens führt das häufige Hören auch dazu, dass man viel mitsingen kann, etwa beim Wandern, wobei einem nur die Bäume zuhören, und die stört das nicht.
    Ich hatte diesen "thread" eingestellt: "Welche Oper könnt ihr eigentlich mitsingen?" Ich war von den Socken, was da insgesamt herauskam. Alles nur durch häufiges Hören.

    Aller Anfang ist schwer - außer beim Steinesammeln (Volksmund)

  • Was gibt es Schöneres, als wenn man nach Musik süchtig ist.


    Das werden wahrscheinlich alle Taminos unterschreiben :hello: Nur dass die Sucht unterschiedliche Ausprägungen annimmt. Wenn mich ein Werk eines Komponisten begeistert, dann will ich erst einmal auch alle anderen Werke von ihm hören.

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  • Eine - durchaus ernst gemeinte - Gegenfrage: Hat hier mal jemand die Romane Thomas Manns oder eines anderen Autors mit "Gesamtromanlänge > 2000 Seiten" zyklisch gelesen?

    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.

  • Meine Strategien haben sich in dieser Hinsicht im Laufe der Jahre (ääähh Jahrzehnte) doch einigermaßen verändert. Als ich jung war, da waren Schallplatten sauteuer und man musste gegebenfalls auf Midprice ausweichen (Budget gab es de facto nicht) Wenn es da eine Midprice Serie (Privilege, resonance, fontana, Meister der Musik etc) gab, dann griff man zu. So war des Kennenlernen der Sinfonien Beethovens eine Frage des Zufalls.
    Später begann ich jedoch - wenn ich einen mir unbekannten Komponisten kennenlernen wollte oder sollte - mit dessen früheste Werke anzuhören. Die Sinfonien mit der Nr 1 orientieren sich bei den meisten Komponisten an Werke der Vergangenheit, da könne auch Vertreter der Avantgarde nur verhältnismäßig wenig Unheil anrichten.... :untertauch:


    Was ich aber in der Tat auch heute noch - so meine Zeit es zulässt - praktiziere, ist, daß ich eine neue Aufnahme eines Werkes mit diversen anderen in meiner Sammlung befindlichen vergleiche und somit öfter höre. Das gleiche passiert auch, wenn ich eine Neuaufnahme erstmals höre und
    a) ich sie am nächsten Tag überhaupt nicht mehr in Erinnerung habe
    b) sie mir beim Ersthören eher ein schales Gefühl beschert hat....
    aber auch
    c) wenn mich das Werk in seinen Bann gezogen hat oder ich einen Beitrag bei Tamino Klassikforun drüber schreiben will - soll oder muß.....
    Es gibt aber noch diverse andere Gründe.......


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zitat

    Eine - durchaus ernst gemeinte - Gegenfrage: Hat hier mal jemand die Romane Thomas Manns oder eines anderen Autors mit "Gesamtromanlänge > 2000 Seiten" zyklisch gelesen?


    Vermutlich viele seiner Zeitgenossen. Ich habe beispielsweise die Kriminalromane von Martha Grimes gezwungenermaßen "zyklisch gelesen" - nämlich in der Reihenfolge ihres Erscheinens - weil ich - hatte ich einen ausgelesen, ich schon nach dem kommenden lechtzte.


    Ich gehe davon aus, daß es bei Mozarts Klavierkonzerten und Haydns Streichquartetten ähnlich war: Die Abonnenten warteten schon sehnsüchtig auf die kommende Veröffentlichung. Das zyklische Hören bringt einen näher an die Hörer der Vergangenheit, die sozusagen die "Entwicklung " eines Komponisten mitverfolgen ließ.
    Es ist aber ein - aus heutiger Sicht - gravierender Nachteil damit verbunden:


    Wer alle Haydn-Sinfonien in Folge gehört hat, der wird durch die Reizüberflutung nur wenig Erinnerung an die einzelnen Werke haben. Das war aber zur Entstehungszeit sicher kein wirkliches Manko, denn eine Sinfonie wurde in der Regel relativ schnell ad acta gelegt, das Publikum wollte - im Gegensatz zu heute, neue "zeitgenössische" Werke hören. Das Gestern war bald vergessen.....


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



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  • Es gibt Zyklen, die man komplett hört oder Einzelstücke davon oder die auch so vorgetragen werden auf dem Konzertpodium. Ich denke da an das WTK von J.S. Bach oder die Chopin-Preludes oder Etüden oder Listzts Zyklus "Annees de Pelerinage". Man kann da sicher Einzelstücke oder eine Auswahl spielen (so machte es Richter mit den Chopin-Preludes) und man kann das auch vertreten. Die Stücke sind in gewissem Sinne selbständig und manchmal ist der Zyklus einfach zu lang. Aber die Chopin-Preludes sind nun mal als Zyklus komponiert und auch der Liszt, da entgeht einem einfach, wenn man nur Einzelteile hört, schlicht der Sinn, der sich aus dem Zusammenhang ergibt. Bei Liszt ist das evident und die Chopin-Preludes höre ich ungern nicht komplett z.B., weil ich jede Auswahl als willkürlich empfinde.


    Schöne Grüße
    Holger

  • @Johannes: Danke für das begriffliche Geraderücken.


    Der Threadidee liegt vor allem der "erweiterte Zyklus-Begriff" zugrunde, in dessen Sinnen bspw. die Beethoven-Sinfonien als "Zyklus" verstanden werden.


    Viele Grüße
    Frank

  • Eine - durchaus ernst gemeinte - Gegenfrage: Hat hier mal jemand die Romane Thomas Manns oder eines anderen Autors mit "Gesamtromanlänge > 2000 Seiten" zyklisch gelesen?


    Thomas Mann nicht, aber zum Beispiel Wilhelm Raabe und Wieland und Jean Paul und Faulkner und Claude Simon ...

  • Eine - durchaus ernst gemeinte - Gegenfrage: Hat hier mal jemand die Romane Thomas Manns oder eines anderen Autors mit "Gesamtromanlänge > 2000 Seiten" zyklisch gelesen?


    Sehr viel! Den ganzen Fontane (16 Romane), fast alles von Karl May, alles von Büchner, alle 10 Bände Sjöwall-Wahlöö, alle Bände "Richter Di" von Robert van Gulik (dir nicht unbekannt, lieber Michael), den ganzen Mankell, praktisch alles von Somerset Maugham, alles von Thornton Wilder, alles von Sinclair Lewis, alles von Ambrose Bierce. Nach meiner Pensionierung 2004 habe ich die neue Freizeit dazu genutzt, fast die gesamte deutsche Klassik zu lesen (wobei sich herausstellte, dass Goethe auch unfassbare schlechte Theaterstücke geschrieben hat und von Kleist alle diese bis auf den zerbrochenen Krug von einer nicht geringen Lächerlichkeit waren).
    Nun war ich aber auch in der glücklichen Lage, dass mein Vater Bibliothekar von Beruf war, und der schleppte halt immer jede Menge Bücher nach Hause. So war das Verschlingen von Riesenmengen an Literatur für mich ganz normal. Dazu kam, dass ich auch mal Englisch studiert habe und von daher auch die englische und amerikanische Literatur mir geläufig war. Zum Schluss noch dies: viele Leute geben bei Hobbys an: "Literatur". Das habe ich nie verstanden. Lesen und Musik sind gleichrangig mit Essen, Trinken, Schlafen Wandern!
    P.S. Den ganzen Thomas Mann habe ich natürlich auch gelesen, nur bei "Joseph und seine Brüder" wollte ich nicht mehr. Ähnlich ging es mir bei Stifter. Da habe ich auch den Nachsommer geschafft, aber mit Mühe, sodass der Witiko nicht mehr dran kam.

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  • Einspruch, Euer Ehren.


    Einspruch abgelehnt. Lies mal "Die Familie Schroffenstein". Da kommt man aus dem Lachen nicht mehr heraus. Kleist selber schrieb an seine Familie: "Lest diese Scharteke nicht!". Dem war eine Lesung unter Freunden vorausgegangen, in der die vor Lachen reihenweise vom Stuhl gefallen waren. Allerdings ist "Michael Kohlhaas" große Literatur. Aber streiten werden wir uns hier nicht, denn gerade bei den Klassikern gehen die Meinungen auseinander. Aber vielleicht, lieber Dieter, schreibst du noch mehr.

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  • Bei "leichterer" Literatur habe ich Reihen oder lose Serien mit vielen tausend Seiten in ziemlich kurzer Zeit gelesen; z.B. die ersten 4 Bände (der 5. war noch nicht erschienen) von "Song of Ice and Fire" innerhalb von etwa 4-5 Wochen (ich finde das Kaufdatum für den 4. (schwächsten) nicht mehr, die ersten drei anscheinend innerhalb von 16 Tagen bestellt). In den letzten 16 oder 17 Monaten habe ich weit über 20 "Nero Wolfe" Bücher gelesen (schätzungsweise mehr als 5000 Seiten insgesamt); natürlich nicht non-stop, aber das Zeug liest man ja sehr schnell runter. Wenn ich nochmal einen Versuch mit Manns "Joseph" machen sollte (hatte bei einem der späteren Bände begonnen und es war mir schnell zu langweilig), würde ich auch versuchen, die in einem fort zu lesen.


    Aber Musik muss ich normalerweise mehrfach hören und möchte zugleich mehr Abwechslung, als dass ich häufig mehrere Wochen lang nur Haydn-Sinfonien hören will. Ich sollte so ein Mammutprojekt vermutlich mal mit Bachs Orgelwerken machen...

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  • Thomas Manns wichtigste Werke habe ich tatsächlich einmal chronologisch gelesen, von den "Buddenbrooks" bis zum "Felix Krull". Das war aber für die meisten schon der zweite Durchgang, beim ersten Mal habe ich z.B. den "Zauberberg" vor den "Buddenbrooks" gelesen. (Übrigens verstehe ich die Scheu vor "Joseph und seine Brüder" nicht, das ist doch ein großartiger Roman-Zyklus, der überhaupt nicht langweilig ist. Aber ich habe auch keine Scheu vor langen Romanen, Prousts "Recherche" habe ich schon zweimal gelesen und werde das mindestens noch ein drittes Mal tun. Da würde ich am liebsten sofort wieder von vorne anfangen, wenn ich fertig bin, so ähnlich wie es Dr. Pingel bei seiner Musik geht.)


    Meistens erfolgt mein Zugang zur Literatur aber nicht chronologisch. Wenn ich einen Autor entdecke, dann ist es ein Roman, auf den ich irgendwie aufmerksam geworden bin; es müsste dann schon Zufall sein, wenn es sich um seinen Erstling handelte. Und wenn ich den Autor so toll finde, dass ich mehr von ihm oder ihr lesen will, dann erfolgt auch das nicht unbedingt in der Reihenfolge des Entstehens. Romane, die aufeinander aufbauen, natürlich ausgenommen.

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