Hugo Wolf: „Spanisches Liederbuch“

  • Das Motiv für den Start dieses Threads liegt in dem Bestreben, das liedkompositorische Werk Hugo Wolfs in seinen großen „Büchern“, bzw. Bänden in geschlossener und vollständiger Gestalt im Tamino-Kunstliedforum vertreten zu sehen. Die „Mörike-Lieder“ die „Eichendorff-Lieder“ und die „Goethe-Lieder“ liegen bereits vor, es fehlen noch die beiden „Liederbücher“, um diesbezüglich Vollständigkeit erreicht zu haben. Unter chronologischem Aspekt steht nun das „Spanische Liederbuch“ an. Dieses liedkompositorische Werk entstand in den Jahren 1889/90, also nach dem Goethe-Band und vor dem „Italienischen Liederbuch“ (das zu einem späteren Zeitpunkt ebenfalls hier noch vorgestellt werden soll). Wolf zog sich, nachdem er die Komposition der Goethe-Lieder fast abgeschlossen hatte im Oktober 1889 in das Sommerhaus der Familie Werner in Perchtoldsdorf zurück.. Dort entstand am 21. Oktober als letztes Goethe-Lied „Die Spröde“, und schon am 28. Oktober folgte das erste Lied des „Spanischen Liederbuchs“: „Wer sein holdes Lied verloren“.


    Nun ereignete sich das, was ganz typisch für Wolfs Liedkomposition ist: Er vertiefte sich voll und ganz in dieses Vorhaben und schuf in unmittelbarer Folge eine Liedkomposition nach der anderen. Schon früh musste er aber eine Vorstellung vom Inhalt und vom Umfang des Gesamtwerks gehabt haben, denn er schrieb am 12. November, als er erst neun Lieder vertont hatte, dieser neue Liederkreis werde, so habe er sich´s vorgenommen, in summa 44 Lieder umfassen. Bis zum 21. Dezember entstanden 26 Lieder, davon acht „Geistliche“. In der Zeit vom 10. bis zum 15. Januar 1890 komponierte er die beiden Lieder „Müh´voll komm´ ich und beladen“ und „Nun bin ich dein“, dann musste er sich wegen einer Kältewelle und eines grippalen Infekts, den er sich im Zusammenhang damit zugezogen hatte, aus Perchtoldsdorf zurückziehen. Zwei Monate später kehrte er wieder zurück und schloss in der Zeit vom 28. März bis zum 27. April 1890 mit weiteren sechzehn Liedern die Komposition des „Spanischen Liederbuchs“ ab. Für die Publikation konnte er den Mainzer Verleger Schott gewinnen, und es folgten die für Wolf typischen langen und mühevollen Verhandlungen um Details. Gegen seinen Willen erschien das Werk dann im Januar 1891 gestaffelt in sechs Heften. Es kam zum Bruch mit Schott, und Wolf wandte sich an den Mannheimer Verlag Karl Heckel, der das „Spanische Liederbuch“ dann 1896/977 in einer von Wolf revidierten Neuausgabe herausbrachte.


    Soweit die gleichsam vordergründigen Fakten. Das eigentlich Interessante und Bedeutsame sind die Fragen und Probleme, die sich um dieses Werk ranken. Da ist zunächst einmal die Frage nach den Gründen, die Wolf bewogen haben, zu dieser Lyrik-Sammlung „Spanisches Liederbuch“ zu greifen und Gedichte daraus zu vertonen. Eigentlich ist das ja doch höchst verwunderlich. Den vorangehenden Lied-Kompositionen lagen lyrische Werke von höchstem dichterischem Niveau zugrunde. Das 1852 von Emanuel Geibel und Paul Heyse publizierte „Spanische Liederbuch“ mit freien Übertragungen spanischer Lyrik des „siglo de Oro“ , dem Höhepunkt der spanischen Literatur im 16. Und 17.Jahrhundert, ins Deutsche, denen eigene „Nachdichtungen“ im Geist dieser Lyrik beigegeben wurden, ist von einem solchem lyrisch-sprachlichen Niveau, wie es Wolf bei Mörike, Eichendorff und Goethe vorgefunden hatte, weit entfernt. Von Text zu Text mussten ihm abgegriffene lyrische Sprachlichkeit und abgenutzte Reime begegnen. Warum also der Griff danach?


    Vielleicht findet man die Antwort in einem Brief an die Mutter vom 19. September 1891. Dort heißt es: „Welch ein schreckliches Los für einen Künstler, der nichts Neues mehr zu sagen hat.“ Wolf hatte den Goethe-Band abgeschlossen. Er war auf der Suche nach einer neuen lyrischen Quelle für seine Liedkomposition. Die zeitgenössische Lyrik konnte ihm das nicht bieten. In einem Brief an Oskar Grohe (11.8.1890) wertete er sie mit den Worten ab: „Diese verfluchte Tendenzpoesie heutzutage. Sein Freund Friedrich Eckstein war ein Bewunderer der spanischen Literatur und könnte ihn auf diese aufmerksam gemacht haben. Von Franz Zweybrück ist der Bericht überliefert: „Eines Nachmittags trat Eckstein mit Wolf auf mich zu und sagte: Herr Doktor, wüßten Sie vielleicht schöne Lyrik, die noch nicht komponiert ist. Wolf sucht und sucht und findet so wenig, was ihm paßt. Ich antwortete Eckstein nach einigem Nachdenken mit der Frage, ob er denn das Spanische Liederbuch von Heyse und die italienischen Übersetzungen von Geibel, Heyse und Leuthold kenne. Vor allem aber das zuerst genannte Büchlein. (…) Am andern Tage brachte ich Wolf mein Exemplar von Heyses spanischem Liederbuch mit, und das Buch ist sicherlich einige Monate, wenn nicht länger bei ihm geblieben.“


    So ist Wolf also an dieses „Spanische Liederbuch“ geraten. Was aber hat ihn darin angesprochen, so dass er von dessen „weltlichen“ Gedichten rund ein Drittel, also 34, von den dreizehn „geistlichen“ sogar zehn vertonte? Gewiss konnte es nicht die lyrische Sprache gewesen sein. Der große Lyrik-Kenner Wolf dürfte ihren Mangel an Originalität und ihre Epigonalität sehr wohl erfasst haben. Man darf also wohl davon ausgehen, dass es nicht die lyrische Sprache, vielmehr die lyrischen Inhalte waren, die ihn zur Liedkomposition animierten: Die tiefe, wahrer und echter Frömmigkeit entsprungene religiöse Inbrunst der geistlichen Lyrik; und die leidenschaftliche Intensität, mit der das Thema Liebe und Erotik aus der Perspektive emotionaler Betroffenheit, aber auch der des distanzierten Spotts behandelt wird.


    Wolf war sich bewusst, dass er in der liedkompositorischen Auseinandersetzung mit diesen Texten zu einer neuen Liedsprache finden würde. Oskar Grohe gegenüber äußerte er sich diesbezüglich mit den Worten, er habe zurzeit jede Menge zu tun, „mir die Spanier (ein großer Zyklus nach Heyse und Geibel) vom Halse zu schaffen. Sie werden in diesen Gesängen mich von einer ganz neuen Seite kennenlernen; dürfte auch das beste sein, was mir bis jetzt aus meiner Feder geflossen.“ Da die Liedmusik hier primär darauf ausgerichtet ist, die innere Haltung des lyrischen Ichs und die Situation, in der sie sich artikuliert, zu erfassen, reflektiert die melodische Linie weniger die Struktur des lyrischen Textes, als vielmehr deren Semantik. Das führt zu einer engeren Anbindung derselben an den Klaviersatz, der oft zu einer dominanten expressiven Komponente der Liedmusik wird. Wolf hat für diesen Liedtypus einmal den Begriff „charakteristisch“ benutzt. In einem Brief an Engelbert Humperdinck vom 15. November 1890 beklagt er sich: „Tatsächlich werden noch jetzt immer nur die >melodiösen< (Lieder) von mir gesungen. Vor den sogenannten >Charakteristischen< haben die guten Menschen noch große Angst.“


    Auf höchst treffende Weise hat Erik Werba das „Spanische Liederbuch“ charakterisiert:
    „Mystische Visionen und Liebeslyrik höchsten Anspruchs, dazu ironisch-drastische Situationsschilderungen machen dieses >Spanische Liederbuch< zu einem Pandämonium seelischer Spannungen, mögen sie nun auf religiösem oder erotischem Gebiet liegen.“

  • Bei der Vorstellung und Besprechung der Lieder, die selbstverständlich in der von Wolf vorgegebenen Reihenfolge stattfindet, wird jeweils das Datum ihrer Entstehung angegeben. Ferner werden die Namen der spanischen Text-Autoren genannt, soweit sie bekannt sind. Das ist nicht bei allen Texten der Fall, aber immerhin stammen siebzehn von ihnen von mehr oder weniger berühmten Autoren, darunter Lope de Vega, Cervantes, Juan Ruiz, Nicolas Nunez und Lopez de Ubeda.
    Als interpretatorische Hör-Grundlage dienten die folgenden Aufnahmen:


    Hugo Wolf, Spanisches Liederbuch. Elisabeth Schwarzkopf, Dietrich Fischer-Dieskau, Gerald Moore. DG 1967
    Hugo Wolf, Complete Songs, Vol. 6: Spanisches Liederbuch, Geistliche Lieder, und Vol. 7, Weltliche Lieder, Stone Records 2013

    Zuweilen musste ich auch noch auf andere Aufnahmen zurückgreifen, um das jeweilige Lied in der Original-Tonart hören zu können. Das war auch der Grund, weshalb ich die zweite hier angeführte Aufnahme aus der Reihe der „Complete Songs“ heranzog. Die Interpretation von D. Fischer-Dieskau und E. Schwarzkopf bedarf, was das Niveau ihrer Interpretation anbelangt, an sich keiner Suche nach einer sie möglicherweise übertreffenden Aufnahme, aber sie basiert überwiegend auf einer harmonischen Transposition der Lieder. Bei der „Stone Records“-Aufnahme ist das zwar hie und da auch der Fall, aber nicht allzu oft.


    Auf die nachträglichen Kommentare soll, darin abweichend von den bisherigen Gepflogenheiten, dieses Mal weitgehend verzichtet werden. Obgleich die Gründe dafür zum Teil persönlicher Art sind, seien sie, den sachlichen Aspekt darin betreffend, hier angedeutet:
    Auf großes Interesse und große Resonanz ist bei diesem Thread - im Unterschied zu dem gerade beendeten zu den Liedern Gustav Mahlers – wohl nicht zu hoffen. Der Liedkomponist Hugo Wolf stieß von Anfang an nicht auf ein einheitlich positives Urteil unter seiner Hörerschaft, und daran hat sich wohl, wie mir scheint, bis heute grundsätzlich nichts geändert. Hinzu kommt: Diese Lieder besitzen, unabhängig von ihrem liedkompositorischen Rang, nicht den klanglich-melodischen Zauber und den Bekanntheitsgrad etwa der Mörike-Lieder.
    Gleichwohl verdienen sie es, wie ich meine und überzeugt bin, im Tamino-Kunstliedforum vertreten zu sein, und ich hoffe, dass es mir mit der sie in ihrer Faktur beschreibenden und in ihrer musikalischen Aussage reflektierenden Vorstellung gelingt, ihrem singulären liedkompositorischen Niveau in etwa gerecht zu werden…
    …und vielleicht da und dort Interesse an ihnen zu wecken.

  • Lieber Helmut Hofmann,
    Du hast ja noch nicht mit Deinen Analysen begonnen, also wird es nicht stören, wenn ich den einleitenden Beitrag mit etwas Optik unterstütze, denn ich war erst kürzlich in Perchtoldsdorf, wo auch Rita Streich begraben ist und Franz Schmidt seine Spuren hinterlassen hat ...





    Hier, im Innenhof, ist der Eingangsbereich, eine steinerne Wendeltreppe führt hoch ins Museum




  • Die Räume sind thematisch so aufgeteilt:


    Raum 1 - Wesen - Heimat - Anfänge


    Raum 2 - Wege der Entfaltung


    Raum 3 - Schöpferische Entwicklung


    Raum 4 - Ausblicke in die Zeit, Leben und Werk

  • Da hast Du mir aber eine ganz große Freude gemacht, lieber hart, - und überdies dem Thread einen großen Dienst erwiesen!
    Ich danke Dir herzlich dafür!


    Ich war noch nicht in Perchtoldsdorf und kenne das Gebäude nur in einer einzigen Aufnahme von außen. Jetzt aber sehe ich Innenräume und kann mir ein wenig ausmalen, wie Hugo Wolf da gewohnt, gelebt und gearbeitet hat.


    Es ist – für mich jedenfalls – immer sehr wichtig, eine solche Vorstellung vom konkreten Leben des Komponisten zu haben, mit dessen Liedern ich mich gerade beschäftige. Neben musikwissenschaftlicher Literatur ziehe ich deshalb auch immer mehrere Biographien heran.
    Von daher finde ich es höchst verdienstvoll, was Du nun schon seit einiger Zeit mit Deinen großartigen Beiträgen zu den Gedenk- und Grabstätten der Musiker für das Forum leistest.

  • Nun bin ich dein,
    Du aller Blumen Blume,
    Und sing´ allein
    Allstund zu deinem Ruhme;
    Will eifrig sein,
    Mich dir zu weih'n
    Und Deinem Duldertume.


    Frau, auserlesen,
    Zu dir steht all mein Hoffen,
    Mein innerst Wesen
    Ist allezeit dir offen.
    Komm, mich zu lösen
    Vom Fluch des Bösen,
    Der mich so hart betroffen!


    Du Stern der See,
    Du Port der Wonnen,
    Von der im Weh
    Die Wunden Heil gewonnen,
    Eh´ ich vergeh'
    Blick´ aus der Höh,
    Du Königin der Sonnen!


    Nie kann versiegen
    Die Fülle deiner Gnaden;
    Du hilfst zum Siegen
    Dem, der mit Schmach beladen.
    An dich sich schmiegen,
    Zu deinen Füßen liegen
    Heilt allen Harm und Schaden.


    Ich leide schwer
    Und wohlverdiente Strafen.
    Mir bangt so sehr,
    Bald Todesschlaf zu schlafen.
    Tritt du einher,
    Und durch das Meer,
    O führe mich zum Hafen!



    Dieses Lied entstand am 15. Januar 1890 in Perchtoldsdorf. Der zugrundeliegende Text ist wohl der älteste des Spanischen Liederbuches. Er stammt von Juan Ruiz, dem Erzbischof von Hita. Dieser verfasste ihn in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Es weist einen Vierhalbe-Takt auf, und die Vortragsanweisung lautet „Langsam und sehr innig“. Der Lobpreis Mariens, der einhergeht mit einer aus tiefem Schuldbewusstsein kommenden Hoffnung auf Gnade und Erlösung, wird von der Liedmusik mit einem choralartigen Grundton im Klaviersatz und einer von klanglicher Schmerzlichkeit geprägten melodischen Linie aufgegriffen, dies freilich so, dass sich an keiner Stelle ein Abrutschen in schiere Sentimentalität ereignet. Das Lied wahrt in bemerkenswerter Weise das rechte Maß im Bereich von Emotionalität. Ein leiser Hauch von Klage und Wehmut liegt über ihm, und daraus gewinnt es seine so sehr beeindruckende musikalische Aussage.


    Der choralartige Charakter gründet im Klaviersatz. Der besteht durchgehend aus nur einer Grundfigur: Pro Takt einer Folge von je einem Akkord im Wert einer halben Note, zwei Viertel-Akkorden und einem Akkord im Wert einer ganzen Note. Diese Akkorde werden synchron in Bass und Diskant angeschlagen und können dabei den Umfang von sieben Stimmen annehmen. Zuweilen ereignen sich auch Modulationen innerhalb des letzten Akkordes, die rhythmische Grundstruktur des Klaviersatzes bleibt dabei aber durchweg gewahrt. Auf diese Weise entsteht eine Art rhythmisiertes Klangbett, das die Singstimme in all ihren Bewegungen trägt und dadurch, dass es eine Fülle von harmonischen Modulationen durchläuft und dabei auch noch zwischen den beiden Tongeschlechtern hin und her pendelt, die Aussage der melodischen Linie akzentuiert.


    Diese Akzentuierung erfolgt in erster Linie über die Harmonik. Zwar ist F-Dur als Grundtonart vorgegeben, diese Funktion erfüllt sie aber nur in dem Sinne, dass sie in der Fülle der Modulationen, die die Harmonik selbst innerhalb eines Taktes durchläuft, da und dort gestreift wird und erst am Ende als klanglich dominanter Faktor aufzutreten vermag. Die Art und Weise, wie die Harmonisierung der melodischen Linie als Faktor zur Generierung ihrer musikalischen Aussage eingesetzt wird, muss man als hochgradig artifiziell bezeichnen. Chromatik herrscht vor, und das in permanent sich wandelnder Gestalt. Harmonische Reibungen, langes Verharren im Vorhalt und im Quintenzirkel weit ausgreifende Modulationen verleihen dem Lied die Anmutung einer hochmodernen Komposition.


    Es ist nicht möglich, die harmonische Struktur auch nur annähernd in adäquater Weise zu beschreiben. Schon die ersten Takte lassen es in seinem typischen klanglichen Charakter vernehmen. Das Klavier setzt mit seiner Grundfigur ein, und bei dem vierstimmigen Akkord im Wert einer ganzen Note am Taktende beginnt die Singstimme mit der Deklamation der melodischen Linie auf den Worten „Nun bin ich dein“. Diese besteht aus einem Terzfall, der in eine Dehnung mündet. Eine Viertelpause folgt nach, um diesem Geständnis den erforderlichen Nachdruck zu verleihen. Was sich dabei harmonisch ereignet – und die maßgeblichen klanglichen Akzente setzt – kann man getrost als repräsentativ für dieses Lied bezeichnen. Mit einem d-Moll-Akkord setzt das Vorspiel ein. Dieser rückt dann nach B-Dur, danach erfolgt eine Rückung nach einem C-Septakkord. Hier setzt die Singstimme ein. Währende dieser nun die Worte „nun bin ich“ auf einem „A“ in mittlerer Lage deklamiert, hält das Klavier diesen C7-Akkord. Der fungiert aber als Dominant-Septakkord. Man erwartet also nun ein F-Dur. Stattdessen erfolgt bei dem Wort „dein“, dem Terzfall also, eine Rückung nach d-Moll. Und das verleiht der Aussage der melodischen Linie den Akzent einer ganz besonderen ergebungsvollen Innigkeit.


    Dieser höchst subtilen Interpretation des lyrischen Textes durch eine ständig modulierende Harmonisierung der melodischen Linie begegnet man in diesem Lied permanent, - und ist beeindruckt. So steigt die melodische Linie bei den Worten „und sing´ allein allstund zu deinem Ruhme“ in Gestalt von Tonrepetitionen in Sekundschritten langsam in hohe Lage auf, um dort einen Legato-Bogen zu beschreiben, der das Wort „Ruhme“ akzentuiert. Derweilen ereignen sich fünf harmonische Modulationen, bei denen es sich ebenfalls um tonale Aufstiegsbewegungen handelt. Und in der kurzen Pause für die Singstimme, schlägt das Klavier einen F-Dur Akkord an, der nachträglich die Aussage der melodischen Linie mit einem sie bejubelnden Akzent versieht. Und um die Haltung der Ergebenheit des lyrischen Ichs, wie sie in dem Willen ausdrückt, sich dem „Duldertume“ Marias zu weihen, in angemessener Weise musikalisch zum Ausdruck zu bringen, verharrt die melodische Linie zunächst in Gestalt von Dehnungen in hoher Lage und senkt sich dann langsam in drei Legato-Schritten in untere Mittelage ab. Das Wort „Duldertume“ wird dabei durch eine Rückung nach Dis-Dur und zwei weitere nachfolgender Rückungen zusätzlich zu dem melodischen Akzent in besonderer Weise hervorgehoben.


    Um dieses so schöne Lied nicht analytisch zu zerpflücken, sollen nur noch wenige Hinweise auf strukturelle Merkmale gegeben werden, die seinen ganz spezifischen klanglichen Charakter prägen. Was die Struktur der melodischen Linie anbelangt, so ist ein herausragendes Merkmal die permanente Wiederkehr der deklamatorischen Tonrepetition mit nachfolgendem Fall oder Sprung, der mit einer harmonischen Rückung verbunden ist. Auf diese Weise wird der Melodik eine besondere Eindringlichkeit in ihrem innigen und ergebungsvollen Gestus verliehen, und darin fügt sie sich in den geradezu sakral anmutenden choralartigen Klaviersatz ein. Bei den Worten „Frau auserlesen, zu dir steht all mein Hoffen, mein innerst Wesen ist allezeit dir offen“ gliedert sich die melodische Linie in drei Zeilen, die alle die gleiche Grundstruktur aufweisen: Drei- bis vierfache Tonrepetition in hoher Lage mit nachfolgendem Legato-Fall über eine Quarte oder eine Quinte. Hier senkt sich die tonale Ausgangslage bei jeder Zeile um eine Sekunde ab. Dem Lobpreis Mariens wird auf diese Weise besonderer Nachdruck verliehen, zugleich aber bringt das lyrische Ich mit dieser Absenkung der tonalen Lage wieder seine demütige Grundhaltung zum Ausdruck.


    Nur wenn das lyrische Ich auf sich selbst und seine seelische Grundbefindlichkeit zu sprechen kommt, weicht es von diesem Prinzip der Tonrepetition ab. Bei den Worten „Komm, mich zu lösen / Vom Fluch des Bösen,/ Der mich so hart betroffen!“ setzt die Singstimme anfänglich zwar auch damit ein, dann aber ereignet sich ein mehrfaches, mit einer schrittweisen Absenkung der tonalen Lage verbundenes Auf und Ab der melodischen Linie. Auch bei den Worten „Ich leide schwer und wohlverdiente Strafen“ geht die melodische Linie aus einer Fallbewegung in einen verminderten Septsprung zu dem Wort „Strafen“ hin über, und überlässt sich dann wieder einer Fallbewegung in Sekunden. Auf höchst beeindruckende Weise werden beide melodischen Grundfiguren bei den Worten „Mir bangt so sehr, bald Todesschlaf zu schlafen“ kombiniert. Pianissimo deklamiert die Singstimme die Worte „mir bang so sehr“ silbengetreu auf einem „Cis“ in mittlerer Lage. Mit dem Wort „bald“ geht die melodische Linie dann in einem kleinen Sekundfall über, dem ein weiterer folgt, der mit einem Quartfall eingeleitet wird und in der tiefen Lage eines „C“ endet, das gleich zweimal erklingt. Auch diese melodische Bewegung wird von mehreren Modulationen in der Harmonik begleitet und akzentuiert.

  • Die du Gott gebarst, du Reine,
    Und alleine
    Uns gelöst aus unsern Ketten,
    Mach mich fröhlich, der ich weine,
    Denn nur deine
    Huld und Gnade mag uns retten.


    Herrin, ganz zu dir mich wende,
    Daß sich ende
    Diese Qual und dieses Grauen,
    Daß der Tod mich furchtlos fände,
    Und nicht blende
    Mich das Licht der Himmelsauen.


    Weil du unbefleckt geboren,
    Auserkoren
    Zu des ew'gen Ruhmes Stätten -
    Wie mich Leiden auch umfloren,
    Unverloren
    Bin ich doch, willst du mich retten.



    Der Notentext trägt den Vermerk „Perchtoldsdorf, 5.November 1889, Abends“. Bei dem zugrunde liegenden lyrischen Text handelte sich um ein, von Nicolás Nunez verfasstes, an Maria gerichtetes Gebet, in dessen Zentrum der Wille steht, sich „der Reinen“ ganz und gar hinzugeben, auf dass die irdische „Qual“ und das „Grauen“ ein Ende finde. Wolfs Liedmusik reflektiert diesen Geist des Gebets mit einer sich „langsam und sehr innig“ (Anweisung“) bewegenden melodischen Linie, die in ihrem Zweihalbe-Takt in ein für die musikalische Aussage konstitutives Spannungsverhältnis zu dem Sechsviertel-Takt steht, in dem sich der Klaviersatz im Diskant entfaltet.


    Der Grundton des Liedes ist der einer innigen Hingabe. Die melodische Linie entfaltet sich nicht nur in überaus ruhiger Bewegung, sie neigt auch dazu, lange auf der gerade eingenommenen tonalen Ebene zu verharren und von dort allenfalls in Gestalt von Sprüngen über kleine Intervalle abzuweichen. Das geschieht zumeist nur über eine Sekunde. Nur vier Mal ereignet sich ein Fall oder ein Sprung über eine Terz, und einmal nur über eine Quarte. Die vom Gestus her expressivste Stelle findet sich am Schluss des Liedes. Bei den Worten „willst du mich retten“ verleiht die Singstimme durch eine Kombination aus kleinem Quintsprung und großem Quintfall dem Wort „mich“ einen besonderen Akzent.


    Der Klaviersatz ist durchgehend aus der gleichen Figur als Grundbaustein aufgebaut: Pro Takt im Bass ein zumeist dreistimmiger – z.T. auch modulierender – Akkord im Wert einer ganzen Note, und nach einer Viertelpause fünf bitonal-oktavische Viertel. Diese werden z.T. staccato abgeschlagen und variieren in der tonalen Höhe, das heißt sie können sich, immer am Ende freilich, sowohl aufwärts als auch abwärts bewegen. Das ist von großer Bedeutung für die klangliche Akzentuierung der melodischen Linie der Singstimme. Deren an sich ruhige Entfaltung auf der Grundlage des Zweihalbe-Taktes erhält durch die jeweils nach einer Pause einsetzenden Oktav-Repetitionen im Sechsviertel-Takt eine markante Steigerung der Eindringlichkeit der jeweiligen Aussage. Dies auch deshalb, weil die tonale Ebene der Repetitionen ja nicht konstant bleibt, sondern am Ende angehoben oder abgesenkt wird, wobei sich eine harmonische Rückung ereignet. Die Harmonik des Liedes moduliert zwar permanent, die Rückungen erfolgen aber immer wieder vom Tongeschlecht Moll nach Dur hin, wobei die von der Grundtonart a-Moll nach E-Dur eine Dominanz beansprucht.


    Die melodische Linie setzt ohne Vorspiel ein. Wie sich dieses gleichsam dialektische Verhältnis zwischen Melodik und Klaviersatz auf die jeweilige musikalische Aussage auswirkt, kann man gleich am Liedanfang vernehmen. Bei den Worten „Die du Gott gebarst, du Reine“ verharrt die melodische Linie in silbengetreuer und gedehnter Deklamation auf der tonalen Ebene eines „C in mittlerer Lage und senkt sich erst auf der zweiten Silbe des Wortes „gebarst“ um eine Sekunde ab. Bei „“Reine“ ereignet sich dann erneut ein Sekundfall, dieses Mal aber wieder ein gedehnter. Das weist schon von der Melodik her – weil diese trotz eines kleinen Crescendos bei „gebarst im Piano verbleibt - die klangliche Anmutung von still- inniger lobpreisender Ansprache auf. Da aber sich aber die Oktavrepetitionen pro Takt erst von „Dis“ nach „E“ und dann von „E“ nach „F“ anheben, bevor sie sich am Ende wieder zum „E“ hin absenken, erhält dieser Lobpreis Mariens eine starke klangliche Eindringlichkeit, die auf eine tiefe seelische Identifikation des lyrischen Ich damit verweist.


    Die melodische Linie der dritten Strophe ist in ihrer Grundstruktur mit der der ersten bis zu den beiden letzten Versen identisch. Mit den Worten „unverloren bin ich doch“ nimmt sie eine neue Gestalt an: Die bereits erwähnte doppelt bogenförmige Fallbewegung, die auf dem gedehnten Grundton „A“ endet. In der zweiten Strophe spricht das lyrische Ich von den Motiven, die es zu diesem Lobpreis Mariens und der Hinwendung zu ihr bewogen haben. Das hat zur Folge, dass die melodische Linie von dieser Tendenz, lange auf einer tonalen Ebene zu verharren, ablässt und sich immer wieder Fallbewegungen überlässt, denen das Klavier in der Regel mit seinen Oktavrepetitionen folgt. Aber nicht immer. Und diese Fälle sind interessant, zeigen sie doch, dass die musikalische Aussage des Liedes tatsächlich in einem dialektischen Verhältnis von melodischer Linie und Klaviersatz gründet.


    Bei den Worten „Herrin, ganz zu dir mich wende“ geht die melodische Linie, nach der bogenförmigen Dehnung auf dem Wort „Herrin“ in einer Fallbewegung in Sekunden über. Auch die Akkordrepetitionen vollziehen am Ende jeweils einen Sekundfall. Bei dem Wort „wende“ verharrt die melodische Linie am Ende auf der tonalen Ebene eines „H“ in mittlerer Lage, und hier nun beschreibt die Repetetionsfigur einen Sekundschritt nach oben, der mit einer Rückung von a-Mol nach E-Dur verbunden ist. Diesem Entschluss soll ein positiver Nachdruck verliehen werden. Die Worte „daß sich ende diese Qual und dieses Grauen“ werden ebenfalls auf einer in Sekund fallenden melodischen Linie deklamiert. Dem Wort „Grauen“ wird aber dabei dadurch ein besonderer Akzent verliehen, dass die Singstimme nun zu einem der wenigen Terzsprünge in diesem Lied übergeht, das Klavier mit seinen Oktaven aber einen in starkes Chroma gebetteten vermindertes Sekundfall beschreibt.


    Zu einer Steigerung der Expressivität kommt es dann bei dem Wunsch les lyrischen Ichs, dass der Tod es „furchtlos fände“. Die melodische Linie steigt in hohe Lage auf, geht dort nun auch wieder in eine Fallbewegung über, die aber wie gehemmt wirkt, weil sie in gedehnter Weise deklamiert wird, in kleinen Sekunden erfolgt und überdies einmal ein Verharren auf der tonalen Ebene eines hohen „Es“ eingelagert ist. Bei den nachfolgenden Worten „Und nicht blende / Mich das Licht der Himmelsauen“ geht es melodisch zwar wieder in Sekunden abwärts, aber auch hier in gleichsam zögerlicher Weise: In wellenartiger Form mit wiederum eingelagerter Tonrepetition bei den Worten „Licht der“. Diese melodische Linie ist zwar in d-Moll harmonisiert, der triolische Sekundfall mit nachfolgendem Quartfall bei dem Wort „Himmelsauen“ mündet jedoch in ein A-Dur. Dieses Bild ist zu positiv, als es in harmonischen Chroma verharren könnte. Und das Klavier hat auch schon zuvor darauf hingewirkt. Die beiden letzten Repetitionsfiguren weisen am Ende jeweils einen Sekundsprung auf.

  • Nun wandre, Maria,
    Nun wandre nur fort.
    Schon krähen die Hähne,
    Und nah ist der Ort.


    Nun wandre, Geliebte,
    Du Kleinod mein,
    Und balde wir werden
    In Bethlehem sein.
    Dann ruhest du fein
    Und schlummerst dort.
    Schon krähen die Hähne
    Und nah ist der Ort.


    Wohl seh ich, Herrin,
    Die Kraft dir schwinden;
    Kann deine Schmerzen,
    Ach, kaum verwinden.
    Getrost! Wohl finden
    Wir Herberg dort.
    Schon kräh´n die Hähne
    Und nah ist der Ort.


    Wär´ erst bestanden
    Dein Stündlein, Marie,
    Die gute Botschaft,
    Gut lohnt´ ich sie.
    Das Eselein hie
    Gäb ich drum fort!
    Schon krähen die Hähne
    Komm! Nah ist der Ort.



    „Der heilige Josef singt“, so ist das Lied untertitelt, Und es ist in seiner geradezu schubertisch anmutenden Einfachheit wohl eines der schönsten Lieder, die Hugo Wolf komponiert hat. Auf dem Weg nach Bethlehem spricht Joseph Maria, die infolge ihrer Schwangerschaft erschöpft ist, liebevoll zu, sie möge durch durchhalten, die Herberge sei ja doch bald erreicht. Der lyrische Text hat also einen religiösen Gehalt. Bei Hugo Wolf wird daraus ein geradezu zauberhaftes Liebeslied, faszinierend und in Bann schlagend, weil es der Liedmusik gelingt, die liebvolle Zärtlichkeit, die in den Worten Josephs zum Ausdruck kommt, einzufangen und nacherlebbar werden zu lassen.


    „Langsam und ruhig“ soll das Lied vorgetragen werden. Ein Viervierteltakt liegt zugrunde, die Grundtonart ist e-Moll. Die klangliche Faszination, die von dem Lied ausgeht, gründet im Zusammenspiel von melodischer Linie und Klaviersatz, wobei den Rückungen, die sich in der Harmonik ereignen, eine wesentliche Rolle zukommt. Die Haltung des liebevoll-zärtlichen Zuspruchs wird in der Melodik mit einer Figur zum Ausdruck gebracht, der man nahezu durchgehend begegnet. Nur einmal wird davon abgewichen, dort nämlich, wo Joseph einmal von sich selbst spricht und Maria gegenüber bekennt, dass er ihre Schmerzen kaum verwinden könne, Dort erfährt auch das Grundmodell der harmonischen Rückung eine leichte Modifikation.


    Auch wenn das Lied in seiner Klanglichkeit einfach anmutet, so dass man sich ein wenig an Schubert erinnert fühlt, - hier war ein Hugo Wolf am Werk, und ein genauerer Blick auf die kompositorische Faktur verrät ihren hochgradig artifiziellen Charakter. Die musikalische Aussage beruht ganz wesentlich auf der höchst subtilen Binnenspannung zwischen Melodik und Klaviersatz. Die melodische Linie weist eine immer wiederkehrende Grundstruktur auf: Sie verbleibt in silbengetreuer Deklamation mehr oder weniger lang auf nur einer tonalen Ebene und verharrt dort vor einer kurzen Pause entweder dort oder geht mit dem letzten Schritt in einen Fall über. Man empfindet das als melodischen Ausdruck des liebevollen und gutgemeinten, aber doch auch im Gestus der Eindringlichkeit erfolgenden Zuspruchs, wie Joseph ihn an Maria richtet.


    Von großer Bedeutung ist dabei die rhythmische Grundstruktur, und zwar mit Blick auf die des Klaviersatzes. Die melodische Linie ist – mit wenigen, aber deshalb bedeutsamen Abweichungen davon - rhythmisch geprägt von der Aufeinanderfolge von einem Achtel, einem Viertel, zwei Achteln und wieder einem Viertel. Die Liedmusik der ersten Strophe lässt das kompositorische Instrumentarium, mit dem Wolf in diesem Lied arbeitet, in exemplarischer Weise aufzeigen. Die Worte „Nun wandre Maria“ werden – in der Rhythmik „kurz-lang-zweimal kurz-lang“ – zunächst auf einem „H“ in mittlerer Lage silbengetreu deklamiert. Die zweite Dehnung besteht hier aber aus einem doppelten Sekundfall. Bei den Worten „Nun wandre nur fort“ liegt die melodische Grundfigur aber sozusagen in Reinkultur vor, und das gilt auch für die beiden restlichen Verse der Strophe: Die melodische Linie verharrt in ihrer typischen Rhythmisierung zuerst auf einem „D“, dann auf einem „Cis. Eine Fallbewegung macht sie hier nicht. Und achtet man einmal darauf, wo diese Fallbewegungen auftreten, dann ist es immer dort, wo die seelischen Regungen Josephs zum Ausdruck gebracht werden. Das ist bei der der ersten Melodiezeile bei dem Wort „Maria“ der Fall, und es ereignet sich in der ersten Zeile der zweiten Strophe bei dem Wort „Geliebte“ wieder, - erneut in Gestalt eines doppelten Sekundfalls.


    Der hohe Grad an kompositorischer Kunstfertigkeit besteht bei diesem Lied nun darin, dass die in dieser Weise rhythmisierte melodische Linie in ein Spannungsverhältnis zu den im Diskant absolut gleichförmig im Vierviertelakt dahinfließenden Terzen-Parallelen tritt, im Bass aber ebenfalls eine Rhythmisierung vorliegt. Dort nämlich folgt – wiederum fast durchweg - auf einen bitonalen Akkord im Wert eines punktierten Viertels einer im Wert eines Achtels. Die Terzen-Parallelen, deren mal nach oben, mal nach unten gerichtete, mal in wellenförmiger Form erfolgende Aufeinanderfolge zumeist in Sekundschritten erfolgt, prägen das Lied klanglich sehr stark, verleihen ihm den Schmelz, der es so überaus eingängig und anrührend macht. Aber sie sagen noch mehr: Sie suggerieren in ihrem gleichförmigen Dahinfließen, dass da zwei auf dem Weg sind, unablässig weiter wandern müssen, um endlich in der ersehnten Herberge Ruhe zu finden. Und vielleicht sprechen sie klanglich auch von der Liebe und Zärtlichkeit, wie sie in Joseph verkörpert ist.


    Und noch ein Weiteres ist an der Liedmusik der ersten Strophe in exemplarischer Weise zu erkennen: Die Art und Weise, wie Wolf die Harmonik als musikalisches Ausdrucksmittel einsetzt. Im dreitaktigen Vorspiel steigen Moll-Terzen-Parallelen vom Bass in den Diskant auf, und in e-Moll ist auch die melodische Linie am Liedanfang harmonisiert. Wenn Joseph aber die Aufforderung „nun wandre“ wiederholt, ereignet sich eine Rückung nach a-Moll, die vorübergehend sogar das A-Dur streift und als harmonische Aufhellung empfunden wird. Joseph will Maria wohl Mut machen, und deshalb ereignet sich eine solche Rückung am Ende der Strophe noch einmal. Die melodische Linie auf den Worten „Schon krähen die Hähne“ setzt in g-Moll ein. Die Worte „und nah ist der Ort“ sollen überzeugend klingen und Hoffnung wecken. Deshalb ereignet sich hier eine Rückung nach Gis-Dur. Die permanent in Sekunden ansteigenden, dies nur bei den Worten „nah ist“ kurz unterbrechenden Terzen wirken wie eine Vorbereitung und Hinführung auf diese harmonische Aufhellung.


    Durchweg ereignet sich in diesem Lied am Ende der jeweiligen Melodiezeilen eine solche Rückung aus dem das Lied dominierenden Tongeschlecht Moll ins Dur, womit auch eine Rückung in eine andere Tonart verbunden ist. Bei den Worten „und balde wir werden in Bethlehem sein“ zum Beispiel verharrt die melodische Linie zunächst – wie das ja ihre Art in diesem Lied ist – auf der tonalen Ebene eines „D“ in mittlerer Lage, geht danach bei dem Wort „Bethlehem wieder in einen doppelten Sekundfall über und vollzieht dann aber bei dem Wort sein einen Sekundsprung zu einem „H“ hin, das eine Dehnung mit einer Fermate trägt. Die Harmonik rückt hier von g-Moll nach H-Dur, was man im Zusammenhang mit dem Innehalten der melodischen Linie – eine Fermate und nachfolgend eine fast zweitaktige Pause – als Ausdruck eines Wunschs empfindet, der mit einer großen Hoffnung verbunden ist. Von ebenso feiner, stiller Expressivität ist die harmonische Rückung am Ende der Melodiezeile auf den Worten „Schon krähen die Hähne und nah ist der Ort“. Zu dem Wort „nah“ hin hebt sich die tonale Ebene der Tonrepetitionen um eine Sekunde auf ein hohes „E“ an, und die Harmonik rückt von G- nach A-Dur. In dieser Harmonisierung überlässt sich die melodische Linie einer langen Dehnung auf eben dieser tonalen Lage eines „E“, und das wirkt, als sehe Joseph diesen Ort schon ganz nah vor sich und wolle Maria dies vermitteln.


    Bei den ersten vier Versen der dritten Strophe („Wohl seh ich, Herrin, die Kraft dir schwinden…“) weicht die Liedmusik sowohl im Bereich der Melodik, wie auch im Klaviersatz und in der Harmonik von der der übrigen Strophen ab, - in nicht gravierender Form, jedoch deutlich vernehmbar. Joseph spricht von sich selbst, von dem Mitleiden, das er angesichts der Schmerzen Marias empfindet. Die melodische Linie reflektiert dies, indem sie bei den beiden ersten Versen von der üblichen Struktur abweicht und zweimal eine Fallbewegung beschreibt, von denen die zweite sogar aus einem Quintsprung (bei „Kraft dir“) hervorgeht. Zwar geht die melodische Linie bei den beiden folgenden Versen („Kann deine Schmerzen…“) wieder zum Prinzip der Tonrepetition über, aber die nachfolgenden Fallbewegungen nehmen immerhin – was für dieses Lied ungewöhnlich ist – das Intervall einer Quarte ein. Auch der Klaviersatz weist eine Modifikation im Sinne einer Steigerung der Expressivität auf: An die Stelle der bitonalen Akkorde sind nun dreistimmige getreten. Und schließlich ereignet sich am Ende der Melodiezeilen auch nicht die übliche, eine klangliche Aufhellung mit sich bringende Rückung. Die Harmonik rückt bei den ersten beiden Versen von „Fis“ nach „Cis“ und bei den beiden folgenden von „D“ nach „Cis“, und sie bleibt dabei durchweg im Moll-Bereich.


    Das Ende des Liedes atmet dann wieder ganz und gar seinen so zauberhaften Geist. Die melodische Linie, die „wie aus weiter Ferne“ vorgetragen werden soll, verharrt, nachdem das „Komm!“ auf einem lang gedehnten „C“ deklamiert wurde, dem eine Viertelpause folgt, bei den Worten „nah ist der Ort“ wieder in silbengetreuer Deklamation auf nur einer tonalen Ebene. Das ist ein „H“ in mittlerer Lage, und das heißt: Die tonale Ebene ist um eine Sekunde gesenkt, und die Harmonik ist von D-Dur nach e-Moll gerückt. Die Aussage Josephs bekommt auf diese Weise die Anmutung einer leise vorgebrachten Verheißung. Und siehe: Nach der langen, den Takt übergreifenden Dehnung auf dem Wort „Ort“ verstummt die melodische Linie, und die Harmonik rückt von e-Moll nach E-Dur. Josephs Verheißung wird in Erfüllung gehen.

  • Die ihr schwebet
    Um diese Palmen
    In Nacht und Wind,
    Ihr heil´gen Engel,
    Stillet die Wipfel!
    Es schlummert mein Kind.


    Ihr Palmen von Bethlehem
    Im Windesbrausen,
    Wie mögt ihr heute
    So zornig sausen!
    O rauscht nicht also!
    Schweiget, neiget
    Euch leis´ und lind;
    Stillet die Wipfel!
    Es schlummert mein Kind.


    Der Himmelsknabe
    Duldet Beschwerde,
    Ach, wie so müd er ward
    Vom Leid der Erde.
    Ach nun im Schlaf ihm
    Leise gesänftigt
    Die Qual zerrinnt,
    Stillet die Wipfel!
    Es schlummert mein Kind.


    Grimmige Kälte
    Sauset hernieder,
    Womit nur deck´ ich
    Des Kindleins Glieder!
    O all ihr Engel,
    Die ihr geflügelt
    Wandelt im Wind,
    Stillet die Wipfel!
    Es schlummert mein Kind.



    Das Lied entstand am Nachmittag des fünften Novembers 1889 in Perchtoldsdorf. Ein Text von Lope de Vega liegt ihm zugrunde. Es weist einen Viervierteltakt auf, die Grundtonart ist E-Dur, und es soll „ziemlich bewegt“ vorgetragen werden. Innere Bewegtheit ist ihm tatsächlich eigen, macht sein Wesen aus. Maria ist besorgt um ihr schlummerndes Kind, den „Himmelsknaben“, der „das Leid der Erde“ tragen muss und im Schlaf eine Sänftigung seiner Qual erfahren kann. Deshalb fleht sie die Palmen von Bethlehem an, sie möchten doch nicht so „zornig sausen“, ihre Wipfel vielmehr „leise und lind“ bewegen. Auch die „grimmige Kälte“ besorgt sie, und die fleht am Ende die Engel um Hilfe an.


    Wolfs Liedmusik bringt die tiefe Besorgnis Marias in einer Weise zum Ausdruck, die den lyrischen Text interpretiert, indem sie die seelische Befindlichkeit Marias ausleuchtet und eine Komponente herausarbeitet, die er selbst nicht aufweist: Die permanente Steigerung der Sorge, die sich schließlich zu regelrechter Angst auswächst. Die maßgeblichen kompositorischen Mittel sind dabei: Der drängende Gestus der melodischen Linie, die Modifikation der den Klavierbass beherrschenden Grundfigur und die von Strophe zu Strophe, aber auch innerhalb der Strophen sich ereignende harmonische Rückung, die mit einer Anhebung der tonalen Ebene verbunden ist. Wie für Wolfs Liedkomposition typisch, ja geradezu konstitutiv, entfaltet sich ein lebhafter Dialog zwischen Singstimme in Klavier, wobei dieses neben der klanglichen Imagination der Situation – Brausen der Palmen in Nacht und Wind – auch, die Worte Marias aufgreifend, in deren Seele leuchtet. Auf diese Weise entsteht eine Liedkomposition, die bei der Anmutung von klanglicher Schlichtheit, in der sie sich präsentiert, im Grunde ein komplexes musikalisches Gebilde darstellt.


    Der Klaviersatz weist durchgehend nur zwei Grundfiguren auf, die allerdings vielfältige harmonische Modifikationen durchlaufen. Im Diskant folgen permanent vier Gruppen von alterierenden, aus dem Wechsel von bitonalerTerz und darüberlegendem Einzelton bestehenden Sechzehnteln aufeinander. Die bitonalen Terzen können sich dabei zu Sekunden verengen, zu Quarten oder gar Quinten ausweiten und zu dreitönigen Akkorden werden. Man kann diese in ihrem klanglichen Wesen unruhig wirkende und bis zum Ende des Liedes konstant ablaufende Aufeinanderfolge dieser Sechzehntel-Figuren durchaus als klangliche Imagination der Situation empfinden, in der Maria sich befindet: Bedrängt und verängstigst von der unwirtlichen Natur um sie herum. Die Grundfigur im Bass besteht aus einer in Sekundschritten ansteigenden Folge von Achteln, die in zwei Viertel münden, die nun ihrerseits in eine Fallbewegung oder einen Sprung übergehen, allerdings auch zu einer halben Note zusammengezogen werden können. Hierin vermeint man die sich ständig steigernde Intensität der Bitten Marias zu vernehmen, die sie an die Palmen und die Engel richtet.


    Die melodische Linie der Singstimme drückt dieses Anliegen von Anfang an aus und steigert sich permanent darin. Eine wesentliche Rolle spielt in dieser Steigerung der melodischen Expressivität der Refrain „Stillet die Wipfel! Es schlummert mein Kind“, dies vor allem deshalb, weil er sich – wie in einer Reaktion – auf die jeweils vorangegangene lyrische Aussage – in seiner melodischen Gestalt wandelt und darin die seelische Befindlichkeit Marias reflektiert. Die melodische Linie neigt dazu, wie das gleich am Liedanfang vernehmlich wird, einen mit einer harmonischen Rückung verbundenen Sekundschritt zu machen und beim nächsten deklamatorischen Schritt erst einmal zu verbleiben, bevor sie ihre weitere Entwicklung nimmt, - so etwa vor den Worten „schwebet“, „Palmen“, „Nacht“ und „heil´gen“. Darin drückt sich die tiefe Besorgnis Marias aus. Bei den Worten „Stillet die Wipfel“ steigt die melodische Linie in hoher Lage mit einem verminderten Quart- und einem Sekundschritt an und kehrt danach mit einem Terzfall auf dem Wort „Wipfel“ wieder zu ihrem Ausgangspukt zurück. Auch die melodische Linie auf den Worten „es schlummert mein Kind“ ist in ähnlicher Weise bogenförmig angelegt, nur dass dann am Ende kein Terzfall folgt, sondern einer über eine Sekunde, der in die lange Dehnung auf dem Wort „Kind“ mündet. Die Harmonik setzt bei dieser ersten Strophe mit E-Dur ein, streift dann die Tonarten Dis-Dur und Gis-Dur und endet – was die Aussage „es schlummert mein Kind“ so beeindruckend macht – mit einer Rückung nach C-Dur.


    Bei der zweiten Strophe ist die melodische Linie zunächst in Moll harmonisiert (h-Moll und fis-Moll). Bei den ersten vier Versen verbleibt sie in silbengetreuer Deklamation auffällig lange auf der gerade eingenommenen – hohen – tonalen Ebene und beschreibt dort nur jeweils einen deklamatorischen Schritt um eine Sekunde nach unten, um alsbald wieder in die Ausgangslage zurückzukehren. Es ist die vorwurfsvolle Ansprache an die „Palmen von Bethlehem“, die sich darin ausdrückt, und die harmonischen Rückungen verleihen ihr auch hier den erforderlichen Nachdruck. Überdies sind die aufsteigenden Achtel im Bass nun als bitonale Oktaven ausgelegt, und die Dynamik steigert sich vom Piano ins Forte. Erst bei der Fortsetzung der melodischen Linie auf den Worten „O rauscht nicht also“, die nach einem fast zweitaktige Zwischenspiel erfolgt, kehrt sie wieder ins Piano zurück, und die Harmonik moduliert von fis-Moll nach Fis-Dur. Die Worte „Schweiget, neiget euch leis´ und lind“ gewinnen durch die in Sekunden fallende melodische Linie, die am Ende mit einem Quartsprung in eine lange Dehnung mündet, bei der sich eine Rückung nach Gis-Dur ereignet, eine hohe Eindringlichkeit. Und dies setzt sich in der Deklamation der melodischen Linie auf Refrain fort. Zwar hat sie hier die gleiche Struktur wie am Ende der ersten Strophe, durch die Rückung nach Gis-Dur ist die tonale Ebene aber um eine Sekunde angehoben, und das Klavier lässt die alterierenden Sechzehntel-Figuren nun im Oktavbereich des Diskants erklingen.


    Die melodische Linie des Refrains am Ende der dritten Strophe weist eine andere Struktur auf. Zuvor beschreibt sie wieder die für das Lied so typische Bewegung: Sekundabstieg in hoher Lage, verbunden mit einer harmonischen Rückung, Verharren dort im nächsten deklamatorischen Schritt, anschließend ein Fall über eine Sekunde oder ein größeres Intervall. Maria spricht hier von „Leid der Erde“, von dem der Knabe so müde geworden sei. Die Fürsorglichkeit, die aus ihren Worten klingt, schlägt sich in der melodischen Linie auf den Worten „Ach nun im Schlaf ihm leise gesänftigt die Qual zerrinnt“ nieder: Sie beschreibt wieder eine bogenförmige Bewegung mit einem lang gestreckten Fall am Ende. Auf „Stillet die Wipfel“ liegt dieses Mal ebenfalls eine Fallbewegung über zwei Sekunden und sogar ein Quarte. Es ist, als wolle Maria die, die sie hier anspricht, darum bitten, ebenfalls Mitgefühl zu zeigen. Aus diesem Grund ist die Dehnung, die auf dem Wort „Kind“ liegt, besonders lang: Sie erstreckt sich über eineinhalb Takte. Bemerkenswert auch: Die nach oben steigenden Achtel im Bass erklingen bei diesen letzten vier Versen der dritten Strophe im Diskantbereich und bewirken im Einklang mit den alterierenden Figuren dort eine ganz besondere klangliche Eindringlichkeit. Die harmonische Rückung nach G-Dur bei dem Wort „Kind“ steht im Einklang damit.


    Bei der letzten (vierten) Strophe, die mit den Worten „Grimmige Kälte“ einsetzt, entfaltet die Liedmusik hohe Expressivität. Die melodische Linie beschreibt nun forte mehrfach Sprung- und Fallbewegungen über ein großes Intervall, im Klaviersatz steigen die Achtel nun als bitonale Oktaven auf, und das versehen mit der Anweisung „sfp“. H-Moll herrscht vor. Bei der direkten Ansprache der Engel („O all ihr Engel…“) bleibt die hohe Eindringlichkeit der melodischen Linie in Gestalt eines aus der Tonrepetition hervorgehenden Sekundfalls, der mit einer Rückung von h-Moll nach c-Moll verbunden ist und im Wechsel der Dynamik zwischen Forte und Piano erfolgt, zunächst erhalten. Erst bei den Worten „wandelt im Wind“ geht die melodische Linie mit einem Decrescendo zum Piano über.


    Auf dieser dynamischen Stufe setzt auch, in Gis-Dur harmonisiert, die melodische Linie auf dem letzten Refrain ein. Sie ist bei „Stillet die Wipfel“ identisch mit der am Ende der ersten Strophe, erklingt jedoch – infolge des Gis-Dur – auf einer tonal höheren Ebene. Dazu gehört auch, dass die Figuren der Begleitung, die normalerweise im Bass-Schlüssel stehen, nun wieder in den Diskant gerückt sind. Die melodische Linie auf den Worten „Es schlummert mein Kind“ mutet wie ein wunderbarer Ausklang der Worte Marias an. Auf dem Wort „schlummert“ liegt ein lang gedehnter Quartfall, und der geht, verbunden mit einer Rückung der Harmonik von A-Dur nach E-Dur, in einen Terzfall bei den Worten „mein Kind“ über. Das „Gis“ in tiefer Lage, auf dem das Wort „Kind“ deklamiert wird, erstreckt sich, pianissimo vorgetragen und von den in hoher Lage silbrig erklingenden Figuren des Klaviers begleitet, über die Taktgrenze.
    Das achttaktige Nachspiel vernimmt man als ein langsames zärtliches Verklingen des Liedes in diesen Figuren.

  • Lieber Helmut, ganz kurz off-topic. Ich werde in diesem thread, anders als bei Mahler, keine Kommentare machen, aus dem einfachen Grund, dass ich Hugo Wolf nichts abgewinnen kann. Wir haben mal ein paar Chöre gesungen, die schwer, aber nicht schlecht waren. Meine Sottise über Hugo Wolf ging so: Was verbindet Hugo Wolf und Johannes Brahms? Beide haben keine Oper geschrieben, die von Wolf heißt "Der Corregidor". Ich muss gleich dazu sagen, dass das so nicht stimmt, denn ich kenne den "Corregidor" sehr gut und halte ihn auch in Ehren. Aber mit den Liedern kann ich nichts anfangen. Du weißt natürlich, dass das nur ein unwichtiges statement von dr. pingel ist. :untertauch:

    Schönheit lässt sich gerne lieben...

    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

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  • Das wusste ich doch, lieber dr.pingel. Du hattest es ja im Mahler-Thread schon angedeutet, und ich habe das nicht vergessen. Nett aber, dass Du dich hier nochmal erklärst.


    Mir war von vornherein bewusst, dass ich mit diesem Thread auf nur geringe Resonanz stoßen würde, denn die Lieder Hugo Wolfs finden ja allgemein keine breit gestreute Wertschätzung, und bei diesen, dem „Spanischen Liederbuch“, dürfte das noch stärker ausgeprägt sein. Sie sind längst nicht so bekannt wie etwa die Mörike-Lieder, sie sprechen im „weltlichen“ Teil, aber besonders im „geistlichen“ nicht jeden ohne weiteres an, und ihre Liedsprache ist zumeist klanglich herber und weniger eingängig, als dies bei den Mörike-Liedern der Fall ist.
    Du bist übrigens in guter Gesellschaft mit Deinem Bekenntnis, dass Du „mit Hugo Wolf nichts anfangen“ kannst (wofür ich volles Verständnis habe). Th. W. Adorno war geradezu ein Wolf-Verächter. Er warf diesem vor, dass er „die Gedichte, die ihm gefielen, noch einmal machen wollte, ohne von der Ursprungsdialektik zwischen Wort und Lied auch nur zu ahnen.“

  • Also - zumindest das Italienische Liederbuch mit seiner Doppelbödigkeit und seinem abgründigen Witz spricht mich sehr wohl an und zumindest vom einmaligen Hören kenne ich einige der Lieder nach Goethe respektive Keller. Noch nicht bekannt ist mir das Spanische Liederbuch. Das lässt sich alles ändern - beste Voraussetzungen werden hier ja geschaffen. :)


    :hello: Wolfgang

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!

  • Ich überlege gerade, ob ich mich Wolfgang nicht doch anschließen soll. Dazu, lieber Helmut, hätte ich gerne eine Aufnahmeempfehlung von beiden Zyklen. Bei mir ist es immer wichtig, von neuen Werken gleich eine sehr gute Aufnahme zu haben, weil die mich oft ein Leben lang prägt. Z.B. die Messe de Nostre Dame von Machaut höre ich nur in der Deller-Aufnahme (unser Joseph II. übrigens auch).

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    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • Du sagst, lieber Wolfgang: "das Italienische Liederbuch mit seiner Doppelbödigkeit und seinem abgründigen Witz spricht mich sehr wohl an", und damit triffst Du ein Wesensmerkmal dieses Liederbuchs, das es zu einem faszinierenden Hörerlebnis werden lässt. Das "Spanische Liederbuch" ist von anderer Art, ganz einfach deshalb, weil die zugrundeliegende Lyrik eine andere ist. Aber auch darin, nämlich in der großen Gruppe der "Weltlichen Lieder" finden sich Witz, Doppelbödigkeit und Hintergründigkeit, - in der Art und Weise vor allem, wie Frauen über Männer sprechen. Freilich gibt es hier auch die ernste, die religiöse Thematik, und gerade in diesem Teil des Spanischen Liederbuchs begegnet man den schönsten und bedeutsamsten Liedern. Kompositionen wie die gerade besprochenen "Nun wandre Maria" und "Die ihr schwebet" sind große Liedmusik. Eigentlich seltsam, denn Wolf war nicht sonderlich religiös, und von daher ist es erstaunlich, wie intensiv er sich in die Welt des spanischen Katholizismus der damaligen Zeit einfühlen konnte.


    Was Deine Frage nach einer passablen Aufnahme dieser Lieder anbelangt, lieber dr. pingel, so zögere ich keine Sekunde, die Interpretation der Lieder durch D. Fischer-Dieskau und Elisabeth Schwarzkopf, begleitet von Gerald Moore, zu empfehlen, Sie erschien 1967 als LP-Kassette bei der Deutschen Grammophon und wurde später als Doppel-CD neu herausgegeben. Sie ist im Handel noch erhältlich und auch herunterladbar.



    Als Alternative käme aus meiner Sicht noch die Aufnahme mit Anne Sophie von Otter und Olaf Bär in Frage, erschienen 2002 bei EMI


  • Ich möchte dann, wie dr. pingel, auch kurz meinen Senf dazugeben: Bis heute kann ich dem Liedgesang nichts abgewinnen, obwohl ich selbst einige wichtige Liederzyklen im Regal habe. Hugo Wolf ist jedenfalls nicht dabei. Immer dann, wenn Gespräche (oder wie hier: Themen) über Lieder von Hugo Wolf angeschnitten werden, muss ich an die sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts denken. Damals habe ich einem väterlichen Freund gegenüber, von Beruf Kapellmeister am Hagener Stadttheater, meine Interessenlosigkeit an den Liedschöpfungen großer Komponisten - speziell auch Hugo Wolf, dessen "Musiksprech" mir nicht gefiel - geäußert und wurde regelrecht abgekanzelt. Wenn ich an die Musik des "Corregidor" denke, geht es mir wie dr. pingel, sie gefällt mir. Vielleicht sollte ich den Sprung ins kalte Wasser der Wolfschen Liedkompositionen einfach mal wagen? Helmut hat ja Hinweise gegeben...


    ?(;(:D:thumbsup:

    .


    MUSIKWANDERER

  • Versuch den Sprung doch einfach einmal, lieber musikwanderer. Wolfs Liedmusik ist kein "kaltes "Wasser". Ich gebe allerdings zu: Man muss seine Lieder vom lyrischen Text her hören und ein gewisses Interesse daran entwickeln, was die Musik mit diesem macht. Die weit und kantabel phrasierte melodische Linie gibt es bei Wolf zwar auch, aber nur dort, wo der Text sie zulässt. Der nachfolgende Beitrag ist in diesem Sinne zu verstehen.

  • Dieser lyrische Text, der im Original übrigens von Lope de Vega stammt, wurde auch von Johannes Brahms vertont, und zwar als Nummer zwei in seinen „Zwei Gesängen für eine Altstimme mit Viola und Klavier“, op.91.
    Nicht nur aus formalen Gründen möchte ich darauf hinweisen, sondern vor allem deshalb, weil man, hört man die beiden Vertonungen im Vergleich miteinander, auf höchst beeindruckende Weise die spezifische Eigenart des jeweiligen Umgangs mit dem lyrischen Text, das zugrundeliegende liedkompositorische Konzept also, vernehmen und erfassen kann.


    Während es Wolf darum geht, die seelischen Regungen Marias in ihrer tiefen Besorgnis um ihr Kind in allen ihren Formen liedmusikalisch auszuloten, wobei er dem lyrischen Text eine musikalisch-semantische Dimension hinzufügt, die er als solcher nicht aufweist, setzt Brahms die Liedmusik dazu ein, die Situation mit klanglichen Mitteln zu erfassen und auszumalen, in der Maria sich befindet, wobei er auf das alte Weihnachtslied „Joseph, lieber Joseph mein“ zurückgreift, es von der Bratsche im Vorspiel vortragen lässt und ihm im kompositorischen Konzept eine maßgebliche Rolle zuweist. Heraus kommt dabei, wie es der Titel ja benennt, ein „Wiegenlied“ geistlichen Inhalts, bei dem der Refrain, anders als bei Wolf, dem es ja um ein Seelenporträt Marias geht, die immer gleiche, darin allerdings hohe klangliche Suggestivität entwickelnde kompositorische Gestalt hat. Die nach einer Bogenbewegung langsam fallende melodische Linie auf den Worten "Es schlummert mein Kind" vergisst man nicht mehr, wenn man sie einmal gehört hat.


    Denjenigen, die diesen Hör-Vergleich anstellen möchten, empfehle ich die beiden zweifellos herausragenden Interpretationen der beiden Lieder durch Elisabeth Schwarzkopf und Jessye Norman. Sie sind beide bei YouTube zugänglich. Hier die entsprechenden Links:


    https://www.youtube.com/watch?v=rLL1WbzzHy0
    https://www.youtube.com/watch?v=H48SBId3CMQ

  • Führ mich, Kind, nach Bethlehem!
    Dich, mein Gott, dich will ich sehn.
    Wem geläng´ es, wem,
    Ohne dich zu dir zu gehn!


    Rüttle mich, dass ich erwache,
    Rufe mich, wird so will ich schreiten;
    Gib die Hand mir, mich zu leiten,
    Daß ich auf den Weg mich mache.


    Dass ich schaue Bethlehem,
    Dorten meinen Gott zu sehn.
    Wem geläng´ es, wem,
    Ohne dich zu dir zu gehn!


    Von der Sünde schwerem Kranken
    Bin ich träg und dumpf beklommen.
    Willst du nicht zu Hülfe kommen,
    Muß ich straucheln, muß ich schwanken.


    Leite mich nach Bethlehem,
    Dich, mein Gott, dich will ich sehn.
    Wem geläng´ es, wem,
    Ohne dich zu dir zu gehn!


    Wolf komponierte dieses Lied am 15. Dezember 1889 in Perchtoldsdorf. Es steht in A-Dur als Grundtonart, weist einen Viervierteltakt auf und soll „ziemlich langsam“ vorgetragen werden. Der liebevoll-zärtliche Ton, in dem das lyrische Ich (Maria oder Joseph) seine Ansprache an „das Kind“ richtet, erinnert ein wenig an „nun wandre, Maria“, und hier wie dort ist der Klaviersatz von Terzen-Parallelen geprägt, die der Liedmusik, weil permanent zwischen den Tongeschlechtern modulierend, die Anmutung von wehmütig-flehentlicher Bitte verleihen. Sie sollen „dolce“ vorgetragen werden. In seinem Wesen ist der lyrische Text ein Hilferuf, eine an das Jesuskind gerichtete Bitte um Hilfe, Leitung und Führung aus dem Bewusstsein einer in der eigenen Sündhaftigkeit gründenden Hilfsbedürftigkeit. In dieser Duplizität von Bitte und Bekenntnis wurzelt die klangliche Ambivalenz des Liedes: Das Neben- und Ineinander von eindringlicher Ansprache und schmerzlich angehauchter Klage.


    Diese Ambivalenz ist nicht nur eine gleichsam immanente der Liedmusik generell. Sie manifestiert sich auch in der Abfolge der einzelnen Strophen, denn diese heben sich in ihrem klanglichen Grundcharakter, bedingt durch die jeweilige lyrische Aussage, recht deutlich voneinander ab. Die Strophen eins, drei und fünf weisen große strukturelle Ähnlichkeiten auf: Sowohl in der melodischen Linie, wie auch im Klaviersatz herrscht weitgehende strukturelle Identität. Hier entfalten die Terzen-Parallelen ihre starke klangliche Wirkung. Bei den Strophen zwei und vier weist die melodische Linie eine etwas stärkere, von Sprüngen geprägte Bewegtheit auf, und der Klaviersatz ist klanglich mächtiger angelegt. Hier finden sich zwar auch Terzen, die sind aber eingebunden in dreistimmige oktavische Akkorde, und vor allem sind sie auf den Diskantbereich beschränkt, während sich im Bass bitonale Oktaven entfalten. Das lyrische Ich bekennt in diesen beiden Strophen seine Sündhaftigkeit und seine Hilfsbedürftigkeit, was zur Folge hat, dass die Liedmusik höhere Expressivität entfaltet und die Dynamik ins Forte, vorübergehend gar ins Fortissimo ausbricht.


    In den drei Strophen, in denen das lyrische Ich seine Bitten an das Jesuskind richtet („Führ´ mich“, „Leite mich“) weist die melodische Linie im wesentlichen die gleiche Grundstruktur auf. Sie verharrt zunächst mehr oder weniger lang in silbengetreuer Deklamation auf nur einer tonalen Ebene in mittlerer oder hoher Lage und geht danach in eine Fallbewegung über, die mit einer harmonischen Rückung verbunden ist. Innerhalb der Zeilen ereignen sich zudem permanent Modulationen im Tongeschlecht. So setzt die melodische Linie auf einem „Cis“ in mittlerer Lage ein, und sie verbleibt dort bis zur ersten Silbe des Wortes „Bethlehem“. Auf diesem beschreibt sie dann einen dreifachen Sekundfall der auf einem „Gis endet. Die Harmonik setzt mit A-Dur ein, aber schon bei dem Wort „Kind“ ereignet sich eine Rückung in die Moll-Subdominante, und darin verbleibt die Harmonisierung dann bis zum Ende dieser ersten kleinen Melodiezeile, der eine Viertelpause nachfolgt.


    Bei der nächsten Melodiezeile auf den Worten „Dich, mein Gott, will ich sehn“ beschreibt die melodische Linie eine ähnliche Bewegung. Hier nun aber ereignet sich im Klaviersatz das, was dem Lied seinen so großen klanglichen Zauber und seine Eindringlichkeit verleiht. Während bei der ersten Zeile die melodische Linie auf der Ebene des „Cis“ verharrte, senkte sich die Terzfolge im Diskant in Sekundschritten an. Dort aber, wo sie in die Fallbewegung überging, stiegen die Terzen in Sekundschritten wieder an. Nun aber, beim Einsatz der zweiten Melodiezeile, wiederholen die Terzen wie in einem Echo die Bewegung der melodischen Linie der ersten Zeile in Kurzfassung noch einmal: Eine Terzenfolge auf einer tonalen Ebene, und anschließend ein dreischrittiger Fall in Sekunden. Und dies wiederholt sich dann am Ende der zweiten Melodiezeile im Übergang zur dritten („Wem geläng´es“) noch einmal: Das Klavier wiederholt die melodischen Schritte mit Terzen in Kurzfassung.


    Die refrainartig sich wiederholenden Worte „Wem geläng´ es, wem, / Ohne dich zu dir zu gehn!“ weisen – mit Ausnahme der leichten Modifikation am Liedende – die gleiche melodische Struktur auf. Um der Aussage Nachdruck zu verleihen, ist die Melodiezeile durch Pausen, bzw. eine Dehnung untergliedert. Bei dem Wort „geläng´“ beschreibt die Vokallinie einen Sextfall, dem eine Achtelpause folgt. Das wiederholte Wort „wem“ wird auf einem einsamen, weil durch Pausen eingegrenzten gedehnten hohen „E“ deklamiert. Auch das Wort „dich“ trägt eine Dehnung und wird auf diese Weise akzentuiert. Und am Ende ereignet sich, wiederum aus Gründen der melodischen Akzentuierung, bei den Worten „zu gehen“ ein aus einem Sekundfall hervorgehender Quintsprung, der in eine Dehnung mündet. Auch hier wiederholt das Klavier mit seinen Terzen die Tonrepetition mit nachfolgendem Sextfall in komprimierter Gestalt, und in der Harmonik ereignet sich eine ausdrucksstarke Rückung von h-Moll nach fis-Moll und am Ende eine nach Cis-Dur.


    Auch bei der zweiten Strophe setzt die melodische Linie mit Tonrepetitionen ein, und das ist auch angebracht, haben die ersten drei Verse doch Aufforderungscharakter: „Rüttle mich“, „Rufe mich“, „Gib die Hand mir“. Das Klavier verleiht diesen an das Jesuskind gerichteten Bitten Nachdruck durch eine klangliche Erweiterung der Terzen im Diskant in dreistimmige oktavische Akkorde und ein Ersetzen der Terzen im Bass durch bitonale Oktaven. Überdies geht es vom Piano ins Forte, ja bei den Worten „rufe mich“ gar ins Fortissimo über. Dort aber, wo das lyrische Ich von sich selbst spricht, dass es „schreiten“ wolle und sich „auf den Weg machen“, geht die melodische Linie zu etwas lebhafter sich entfaltenden und bogenförmig angelegten Achtel-Figuren über. Dabei moduliert die Harmonik zunächst zwischen cis-Moll und fis-Moll, geht aber dort, wo der Entschluss bekundet wird, sich auf den Weg zu machen dann zu Fis-Dur über.


    Bei der vierten Strophe ist die Dominanz von Moll Harmonik (gis-Moll) noch stärker ausgeprägt. Weil das lyrische Ich bekennt, dass es „von der Sünde Kranken“ „träg und dumpf“ geworden sei und dieses Mal seinen Worten jeglicher Aufforderungscharakter fehlt, stattdessen nur die Bitte um „Hülfe“ geäußert wird, fehlen hier die für die melodische Linie so typischen Tonrepetitionen. Sie beschreibt ein permanentes Auf und Ab mit eingelagerten, bestimmte Worte („schwerem“, „Kranken“, „träg“, „dumpf“) akzentuierenden Dehnungen und einem Sextfall bei dem Wort „beklommen“. Bei der Bitte um Hilfe steigt sie in höhere Lage auf, geht aber dann bei „muß ich straucheln, muß ich schwanken“ in eine langsam Fallbewegung über. An deren Ende rückt die Mol-Harmonik nach E-Dur, - als sei das lyrische Ich erfüllt von der Hoffnung, dass ihm die ersehnte Hilfe gewährt werde. Und dies drückt ja auch die Modifikation der melodischen Linie aus, die der Refrain am Ende des Liedes erfährt: Statt wie sonst bei den Worten „zu gehen“ einen Quintsprung mit Rückung nach Cis-Dur zu beschreiben, geht die melodischen Linie nun in einen Sekundfall über, der in eine lange, das Taktende überschreitende Dehnung um dem Grundton mündet. Und die Harmonik rückt von fis-Moll nach A-Dur.

  • Ach, des Knaben Augen sind
    Mir so schön und klar erschienen,
    Und ein Etwas strahlt aus ihnen,
    Das mein ganzes Herz gewinnt.


    Blickt´ er doch mit diesen süßen
    Augen nach den meinen hin!
    Säh´ er dann sein Bild darin,
    Würd´ er wohl mich liebend grüßen.
    Und so geb´ ich ganz mich hin,
    Seinen Augen nur zu dienen,
    Denn ein Etwas strahlt aus ihnen,
    Das mein ganzes Herz gewinnt.


    Es ist eine wunderbar zarte, in ihrem melodischen Gestus von großer Innigkeit geprägte Liebeserklärung, was man in diesem Lied vernimmt. Es entstand am 21.Dezember 1889 in Perchtoldsdorf, weist einen Sechsvierteltakt auf und steht in F-Dur als Grundtonart. Der zugrundeliegende lyrische Text stammt von Lopez de Ubeda. Auch hier dominieren Terzen-Parallelen im Klaviersatz, und man gewinnt den Eindruck, dass sie die melodische Linie der Singstimme noch stärker klanglich umschmeicheln, als dies bei vorangehenden Lied der Fall ist. Bemerkenswert auch: Moll-Harmonik gibt es nicht. Zwar ereignen sich, wie bei Wolf nicht anders zu erwarten, viele harmonische Modulationen, einmal sogar eine überraschende Rückung nach As- und Des-Dur, aber das Tongeschlecht Moll bleibt dabei ausgeklammert. Warum sollte es sich auch in die Harmonisierung der melodischen Linie hineindrängen? Diese drückt in der Art und Weise, wie sie sich entfaltet, schieres, von keinerlei Zweifeln und Ungewissheiten getrübtes Entzücken aus, und der zugrundeliegende Sechsvierteltakt beflügelt es mit seinem sanft wiegenden Rhythmus.


    Der klangliche Zauber, den das Lied ausstrahlt, geht nicht von den ganz und gar in Dur-Harmonik gebetteten Terzen-Parallelen aus, die melodische Linie hat einen ganz wesentlichen Anteil daran. Was sie auszeichnet, ihr klangliches Wesen also, ist gleich an der ersten, die beiden ersten Verse umfassenden Melodiezeile zu erfassen. Dass sie lange in silbengetreuer Deklamation auf nur einer tonalen Ebene verharrt, ist nichts Ungewöhnliches. Das hat sie mit dem vorangehenden Lied gemein. Was sie davon unterscheidet, ist zweierlei, - und es ist für dieses Lied typisch: Die eingelagerten Dehnungen verbleiben auf dieser Ebene, was die Anmutung eines Schwebens bewirkt; und die Abweichungen davon erfolgen über minimale Intervalle, wobei die aufwärts gerichtete Bewegung deutlich dominiert. Hier, bei der ersten Melodiezeile, setzt die melodische Linie auf einem „C“ in oberer Mittellage ein, und dort verbleibt sie auch, von dem gedehnten Sekundsprung-Melisma abgesehen, bis zu dem Wort „Augen“.


    Das Bemerkenswerte ist aber nun, dass die Fallbewegung über eine große und eine kleine Sekunde, die hier erfolgt, sich nicht fortsetzt, sondern zum Anlass genommen wird, die tonale Ebene um eine Sekunde anzuheben (auf ein „D“). Und als wäre das der Aufwärtstendenz nicht genug, erfolgt bei dem Wirt „erschienen“ nicht etwa – wie man erwarten würde – ein Sekundfall, sondern ein Sekundschritt nach oben. Aber dabei bleibt es nicht: Die Harmonik macht eine – ebenso unerwartete und durchaus klanglich expressive – Rückung von C-Dur nach A-Dur. Das ist wirklich musikalischer Ausdruck tiefen Beseligt-Seins, den die nächste Melodiezeile fortsetzt, ja sogar noch steigert. Bei den Worten „Und ein Etwas strahlt aus ihnen, das mein ganzes Herz gewinnt“ wird die tonale Ebene sogar noch um eine Sekunde angehoben, geht bei „ihnen“ in einen Legato-Sekundfall über, der sich dann am Ende in Gestalt von zwei eingelagerten Dehnungen fortsetzt, wobei die melodische Linie auf einem „A“ in mittlerer Lage endet. Auch hier bringt die harmonische Rückung nach G-Dur eine Steigerung der Expressivität mit sich, und das Klavier unterstreicht die Zartheit des Bekenntnisses am Ende mit einer Folge von in hohe Lage emporsteigenden Sexten und Terzen, die erst, nachdem die Singstimme eine kurze Pause einlegt, in eine Fallbewegung übergehen.


    Auch bei den ersten beiden Versen der zweiten Strophe („Blickt er doch…“) verharrt die melodische Linie in ihrer durch eingelagerte Dehnungen im Sinne des Sechsvierteltakts rhythmisierten Bewegung lange auf nur einer tonalen Ebene, bevor sie dann am Ende einen nach oben gerichteten kleinen Bogen von einer kleinen und einer großen Sekunde beschreibt. Mit einer aufsteigenden Folge von Terzen leitet das Klavier zu den beiden nächste Versen über: „Säh´ er dann sein Bild darin…“. Hier setzt die melodische Linie, nun in As-Dur harmonisiert, in der tiefen Lage eines „Es“ an, verbleibt in ihrem gewohnten Gestus auch zunächst dort, bis sie dann – überraschenderweise - bei den Worten „Bild darin“ eine nun aus diesem Gestus ausbrechende Kombination aus Sextsprung und Quintfall mit eingelagerte Dehnung beschreibt, der mit einer Rückung nach Des-Dur verbunden ist.


    Eine Viertelpause folgt. Auf die für Wolf ganz typische Weise hebt die Liedmusik die Besonderheit der lyrischen Aussage hervor: Die Tatsache, dass sie in den Konjunktiv gesetzt ist, der auf die Bedeutsamkeit der nachfolgenden Aussage verweist. Bei den Worten „mich liebend grüßen“ beschreibt die melodische Linie einen aus einem doppelten Sekundanstieg in hoher Lager hervorgehenden Quintfall, der in eine Dehnung in mittlerer Lage mündet, aus der aber dann wieder eine Aufstiegsbewegung hervorgeht. Man empfindet die melodische Figur als Ausdruck großer Zärtlichkeit, - auch deshalb, weil sie mit einer Rückung von As- nach C-Dur verbunden ist.


    Die Liedmusik auf den letzten vier Versen („Und so geb´ ich ganz mich hin…“) ist weitgehend identisch mit der auf den ersten vier, - mit zwei bemerkenswerten Ausnahmen. Die melodische Linie auf den Worten „Und so geb´ ich ganz mich hin“ weist im Unterschied zum Liedanfang eine wellenartige melismatische Verzierung auf, die den Willen zur Hingabe auf beeindruckende Weise zum Ausdruck bringt. Ähnlich ist dies dann auch bei der Wiederholung der Worte „das mein ganzes Herz gewinnt“ am Ende des Liedes. Auf dem Wort „ganzes“ liegt hier ein es akzentuierender doppelter Sekundanstieg in hohe Lage, und danach bewegt sich die melodische Linie über einen Quintfall und zwei Sekundschritte hinunter zum Grundton. Das wirkt wie eine tief beseelte Bekräftigung dessen, was das lyrische Ich am Anfang dieses dritten Liedteils zum Ausdruck brachte. Und das Klavier stimmt im zweitaktigen Nachspiel mit in Diskant und Bass auseinander laufenden und am Ende in einen F-Dur-Akkord mündenden Terzen zu.

  • Mühvoll komm´ ich und beladen,
    Nimm mich an, du Hort der Gnaden!


    Sieh, ich komm´ in Tränen heiß
    Mit demütiger Gebärde,
    Dunkel ganz vom Staub der Erde.
    Du nur schaffest, daß ich weiß
    Wie das Vließ der Lämmer werde.
    Tilgen willst du ja den Schaden
    Dem, der reuig dich umfaßt;
    Nimm denn, Herr, von mir die Last,
    Mühvoll komm´ ich und beladen.


    Lass mich flehend vor dir knie'n,
    Dass ich über deine Füße
    Nardenduft und Tränen gieße,,
    Gleich dem Weib, dem du verzieh'n,
    Bis die Schuld wie Rauch zerfließe.
    Der den Schächer du geladen:
    "Heute noch in Edens Bann
    Wirst du seine!“ O nimm mich an,
    Nimm mich an, du Hort der Gnaden!



    Wolf komponierte dieses Lied am 10. Januar 1890 in Perchtoldsdorf. Der Text, der ihm zugrundeliegt, ist keine Übersetzung aus dem Spanischen, sondern ein eigenständiges Werk Emanuel Geibels, das allerdings ganz aus der Einfühlung in die Religiosität der Lyrik des Spanischen Liederbuchs hervorgegangen ist. Wolf hat sich seinerseits so intensiv in das den „Hort der Gnaden“ hier ansprechende lyrische Ich eingefühlt, dass man meinen möchte, es sei er selbst, der da flehentlich darum bittet, dass „die Last“ von ihm genommen werde. Die Liedmusik vermag in der Art und Weise, wie die melodische Linie sich deklamatorisch entfaltet und wie sie harmonisiert ist, die seelische Befindlichkeit des „mühvoll und beladen“ Daherkommenden auf höchst beeindruckende Weise zum Ausdruck zu bringen.


    Sie vermag das vor allem dadurch, dass sich zwischen Klaviersatz und melodischer Linie der Singstimme bei aller Eigenständigkeit, mit der sie sich artikulieren, immer wieder eine Synthese einstellt, und zwar an den Stellen, an denen das lyrische ich von der seelischen Not spricht und die flehentliche Bitte um Gnade äußert. Die Rhythmik, die in der melodische Grundfigur der melodische Linie auf den Worten „Mühvoll komm´ ich und beladen“ liegt, kehrt in der Aufeinanderfolge von Akkorden im Klaviersatz immer wieder und wird zum zentralen, die liedmusikalische Aussage konstituierenden strukturellen Merkmal von Melodik und Klaviersatz: Auf einen Akkord im Wert eines Viertels folgen vier Achtel-Akkorde, und daraus entwickelt sich im nächsten Takt eine rhythmisch ebenso angelegte, aber nun durch ein eingelagertes Sechzehntel aufgelockerte Folge von nicht auf der tonalen Ebene verbleibenden bitonalen Oktaven.
    Das ist die gleiche Rhythmik, die auch der ersten Melodiezeile zugrundeliegt und die Grundstruktur der melodischen Linie maßgeblich prägt. Diese verbleibt fast bis zum Ende auf nur einer tonalen Ebene, wobei auf „mühvoll“ eine Dehnung liegt und sich am Ende, nach der Achtelfolge, wie sie auch die Figur des Klaviersatzes aufweist, eine Fallbewegungen in kleinen und großen Sekunden ereignet. Die Tonrepetition ist dabei als nachdrückliches Bekenntnis der eigenen Seelenlage zu verstehen, die Fallbewegung am Ende bringt zum Ausdruck, wie schwer und drückend die Last der Sünden ist. Bemerkenswert ist dabei die Harmonisierung. Das Lied setzt zwar im zweitaktigen Vorspiel mit der Grundtonart g-Moll ein, aber noch vor dem auftaktigen Einsatz der Singstimme ereignet sich eine Modulation nach A-Dur, und danach moduliert die Harmonik bei der ersten Melodiezeile zwischen Fes- und Ces-Dur. Das ist typisch für das ganze Lied. Die Harmonik moduliert sehr stark, und die zwei „B“, die vorgegeben sind, werden nur an einer Stelle über mehrere Takte eingelöst, und am Ende erklingt der Schlussakkord dann noch einmal in B-Dur. Die harmonischen Rückungen erweisen sich als ein wesentlicher Faktor zur Steigerung der Expressivität der melodischen Linie. So ist sie bei den Worten „nimm mich an“ in es-Moll harmonisiert, um den flehentlichen Ton zu unterstützen. Die nachfolgenden Worte „du Hort der Gnaden“ stehen, da es sich hierbei um eine lobpreisende Ansprache Jesu handelt, bei der die melodische Linie in höhere Lage emporsteigt und sich dort einer Dehnung überlässt, in Dur-Harmonik (Ges und Fes).


    Die melodische Linie auf den Worten „Sieh, ich komm´ in Tränen heiß / Mit demütiger Gebärde, / Dunkel ganz vom Staub der Erde“ weist die für das Lied so typische Struktur auf: Tonrepetition mit nachfolgender Fallbewegung in Sekunden, dabei ganz und gar in Moll-Harmonik gebettet. Das lyrische Ich stellt sich in all seiner Sündhaftigkeit und Erlösungsbedürftigkeit vor und zeigt die Demut, die in diesem Fall die einzig angebrachte Haltung ist. Die melodische Linie weist hier eine stark ausgeprägte Anmutung von schmerzlicher Klage und flehentlicher Bitte auf. Die Worte „demütig“ und „dunkel“ tragen Dehnungen in hoher Lage, und die zweimal sich ereignende Fallbewegung lässt die Schwere der Bedrückung auf beeindruckende Weise sinnfällig werden. Weil diese Melodiezeile gleichsam unmittelbar aus dem Herzen und der Seele des lyrischen Ichs zu kommen scheint, kehrt sie ähnlicher Gestalt am Beginn der zweiten noch einmal wieder, bei den Worten „Lass mich flehend vor dir knie'n, / Dass ich über deine Füße / Nardenduft und Tränen gieße“ nämlich.


    Seinen Höhepunkte hat das Lied dort, wo der „Herr“ in direkter Ansprache um Hilfe angefleht wird. Dort bricht die Liedmusik ins Fortissimo aus und entfaltet hohe Expressivität. Das ist bei den Worten „Nimm denn, Herr, von mir die Last“ der Fall. Die melodische Linie steigt mit einem verminderten Terzsprung in hohe Lage auf, senkt sich aber bei dem Wort „Herr“ wieder um eine Sekunde ab, um in eine lange Dehnung überzugehen. Zu dem Wort „Last“ hin geht sie eine Sekundfallbewegung über und überlässt sich wieder einer langen Dehnung. Das Wort „Herr“ erhält auch deshalb einen klanglich so strahlenden Akzent, weil hier die Harmonik aus all ihren Moll-Modulationen heraus ins reine C-Dur rückt.


    Noch einmal ereignet sich ein solcher Ausbruch in hohe Expressivität bei dem Ruf „O nimm mich an“. Er ereignet sich in melodischer Isolation: Eine anderthalbtaktige Pause geht voraus, und eine im Wert eines Viertels folgt nach. Die Worte werden auf einer tonalen Ebene eines „F“ in hoher Lage deklamiert, wobei sich bei „mich“ eine Anhebung um eine Sekunde ereignet, die verbunden ist mit einer harmonischen Rückung, was eine starke Akzentuierung zur Folge hat. Auch da herrscht reine Dur-Harmonik, - die Grundtonart B-Dur nämlich, und das Klavier begleitet mit seiner Grundfigur.


    Bei der Wiederholung dieser Worte „nimm mich an“ zieht sich die melodische Linie wieder in den innig-flehentlichen Gestus zurück, und das Forte wird zum Piano. Auf dem Wort „Gnaden“ liegt dann eine ungewöhnlich lange, sich über mehr als zwei Takte erstreckende Dehnung in Gestalt einer erst sich anhebenden und dann wieder fallenden melodischen Linie.

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  • Ach, wie lang die Seele schlummert!
    Zeit ist´s, daß sie sich ermuntre.


    Dass man tot sie wähnen dürfte,
    Also schläft sie schwer und bang,
    Seit sie jener Rausch bezwang,
    Den in Sündengift sie schlürfte.
    Doch nun ihrer Sehnsucht Licht
    Blendend ihr ins Auge bricht:
    Zeit ist´s, daß sie sich ermuntre.


    Möchte sie gleich taub erscheinen
    Bei der Engel süßem Chor:
    Lauscht sie doch wohl zag empor,
    Hört sie Gott als Kindlein weinen.
    Da nach langer Schlummernacht
    Solch ein Tag der Gnad´ ihr lacht,
    Zeit ist´s, daß sie sich ermuntre.



    Wolf komponierte dieses Lied am 19. Dezember 1889. Ein Viervierteltakt liegt zugrunde. Zwar weist der Notentext drei „B“ als Vorzeichen auf, die Harmonik streift ein Es-Dur oder c-Moll aber nur flüchtig. Sie ist derart instabil und greift mit ihren dissonanten Modulationen derart weit aus, dass man von einer zu Wolfs Zeiten geradezu kühnen Komposition sprechen kann. Das betrifft auch das Verhältnis zwischen melodischer Linie und Klaviersatz. Beide entfalten sich in völliger Eigenständigkeit, und häufig stellt sich der Eindruck ein, dass die gefühlte Harmonisierung der melodischen Linie mit der Harmonik des Klaviersatzes an dieser Stelle gar nicht übereinstimmt und sich das harmonische Zusammenkommen erst später oder gar nicht einstellt.


    Die Liedmusik reflektiert mit dieser ihrer spezifischen Eigenart die Ambivalenz des lyrischen Textes. Die Seele schlummert noch einen Schlaf, der „schwer und bang“ ist. Es ist der Schlaf der sich aus dem „Schlürfen“ des „Sündengifts“ ergab. Aber sie lauscht, vernimmt „der Engel süßen Chor“ und den „Tag der Gnade“, den er verkündet. Das wird empfunden wie ein Geblendet-Werden von „der Sehnsucht Licht“ und führt zu dem Entschluss, sich zu „ermuntern“, auszubrechen aus dem Sündenschlaf. Es ist die Situation des Aufbruchs aus der alten Sündenwelt, den die Liedmusik reflektiert. Aber nicht des wirklich schon vollzogenen, sondern die des Appells dazu. Die beiden ersten Verse umreißen gleichsam die Situation, in der das Lied sich ereignet: Das Schlummern der Seele mit all seinen Folgen ist noch ganz gegenwärtig, aber der Appell „Zeit ist´s“, sich zu ermuntern, und die Antizipation dessen, was daraus hervorgeht, gehört ebenfalls dazu.


    Melodische Linie und Klaviersatz bringen diese Ambivalenz auf beeindruckende Weise zum Ausdruck, wobei dem Faktor der harmonischen Modulation eine große Bedeutung zukommt. Während bei den ersten sechs Versen die melodische Linie zumeist in tiefer Lage verharrt und dort nach längeren deklamatorischen Tonrepetitionen auf nur einer tonalen Ebene auch noch oft in eine Fallbewegung übergeht, wobei sich die Harmonik im tiefen B-Bereich („As“, „Fes“, „Ces“, „Ges“) bewegt und nur schwer aus dem Tongeschlecht Moll heraus zu kommen scheint, ereignet sich mit dem „Doch“, mit dem der siebte Vers einsetzt („Doch nun ihrer Sehnsucht Licht…“) so etwas wie der Einbruch von klanglicher Helligkeit. Die melodische Linie steigt in hohe Lage empor, und das Klavier begleitet sie mit seinen akkordischen Legato-Figuren nun in reinem Ces-Dur. Und das ereignet sich am Ende des Liedes noch einmal, einsetzend mit den Worten „Da nach langer Schlummernacht“.


    Die melodische Linie, mit der das Lied ohne Vorspiel einsetzt, ist in ihrer Struktur typisch für diese immer noch gegenwärtige Welt des „schweren und bangen Schlummers“ im „Rausch des Sündengifts“. Sie setzt mit einem zweimal repetierenden „As“ in mittlerer Lage ein und fällt dann langsam in „schweren“ (Anweisung) Sekundschritten zu einem tiefen „C“ hin ab. Diese deklamatorischen Tonrepetitionen ereignen sich bei allen nachfolgenden Melodiezeilen des Liedabschnitts der ersten sechs Verse. Und nur zwei Mal ereignet sich am Ende keine Fallbewegung. Bei den Worten „Zeit ist´s, daß sie sich ermuntre“ nämlich, hier endet die melodische Linie in einem Terzsprung mit nachfolgender Dehnung; und bei den Worten „Also schläft sie schwer und bang“: Sekundsprung mit nachfolgender Dehnung. Und in beiden Fällen ist dies von der lyrischen Aussage her schlüssig. Der Appell zu Ermunterung verträgt keinen melodischen Fall, und bei dem Wort „bang“ dient der Sekundsprung der Akzentuierung seiner Semantik.


    Bei den Worten „Doch nun ihrer Sehnsucht Licht / Blendend ihr ins Auge bricht: / Zeit ist´s, daß sie sich ermuntre“ kommt Emphase in die melodische Linie. Sie beschreibt zunächst eine bis zum einem hohen „As“ aufsteigende Bogenbewegung. Die Worte „Zeit ist´s“ werden dann mit einem von zwei Pausen eingegrenzten Oktavfall in markanter Weise hervorgehoben, und danach geht sie zu einem in tiefer Lage ansetzenden Sekundanstieg über, der in ein kleines bogenförmiges Melisma auf dem Wort „ermuntre“ mündet. Durchweg ist sie in Dur harmonisiert. Und nicht nur das verleiht dieser Passage des Liedes einen eigenen Ton, es ist auch die Tatsache dass es hier zu einem Zusammenspiel zwischen der melodischen Linie und dem Klaviersatz kommt, der so weit geht, dass sie sogar (bei „Auge bricht“ und „ermuntre“) dessen typischen rhythmischen Gestus übernimmt: Die Aufeinanderfolge eines langen, eines kurzen und wieder eines langen Notenwertes. Am Ende ereignet sich Ungewöhnliches: Die Worte „daß sie sich ermuntre“ kommentiert das Klavier mit einer klanglich regelrecht lieblich wirkenden Figur aus akkordischen Sexten und Terzen.


    Wie kühn dieses Lied in Harmonik und Melodik konzipiert ist, kann man in der Liedmusik zu den ersten drei Versen der dritten Strophe („mochte sie gleich taub erscheinen…“) vernehmen. Bei den Worten „bei der Engel süßem Chor“ steigt die melodische Linie in Schritten von kleinen und großen Sekunden von einem tiefen „Es“ aus langsam an. Bei dem Wort „Chor“ ereignet sich eine höchst ungewöhnliche Rückung von e-Moll nach Ges-Dur, die klanglich sinnfällig macht, dass der Engels-Chor nicht dieser Welt angehört, in der das lyrische Ich sich mit seinen Seelenqualen abmüht. Und bei den Worten „Lauscht sie doch wohl zag empor““ wird eben dieses Zaghafte des Lauschens durch den – wiederum ungewöhnlichen – melodischen Sprung von einem repetierenden tiefen „C“ zu einem „Ais“ zum Ausdruck gebracht.


    Auch wenn die melodische Linie, dem Erfassen der Aussage des lyrischen Textes verpflichtet und immer wie von schwerer Lasst bedrückt, mit deklamatorischer Tonrepetition in tiefer und mittlerer Lage verharrt, die Vision eines „Tags der Gnad´“ scheint sie doch zu beflügeln, sich in höhere Lagen aufzuschwingen und sich einem Anflug von klanglicher Lieblichkeit hinzugeben. Nach dem Wort „Schlummernacht“ steigt sie mit einem Septsprung zu einem hohen „Es“ auf, von dem aus sie bei den Worten „Tag der Gnad´“ eine Kombination aus Sekundsprung und –fall beschreibt. Und danach erklingt noch einmal die schon bekannte Liedmusik auf den Worten „Zeit ist´s, daß sie sich ermuntre“ mit den terz- und sextbetonten Es-Dur-Akkorden im Nachspiel. Mit ihnen schließt das Lied dann auch.

  • Herr, was trägt der Boden hier,
    Den du tränkst so bitterlich?
    »Dornen, liebes Herz, für mich,
    Und für dich der Blumen Zier. «


    Ach, wo solche Bäche rinnen,
    Wird ein Garten da gedeihn?
    »Ja, und wisse! Kränzelein,
    Gar verschiedne, flicht man drinnen. «


    O mein Herr, zu wessen Zier
    Windet man die Kränze? sprich!
    »Die von Dornen sind für mich,
    Die von Blumen reich´ ich dir. «


    Siebenundzwanzig Takte nur umfasst dieses Lied, aber man hat den Eindruck, darin einem ganzen Kosmos musikalischer Lyrik zu begegnen. Es ist eine der ganz großen Liedkompositionen Wolfs, die in höchst beeindruckender Weise erkennen lässt, was er aus einem im Grunde schlichten lyrischen Text liedmusikalisch zu machen vermag. Das Lied entstand am 24. November 1889, ein Viervierteltakt liegt ihm zugrunde, die Grundtonart ist e-Moll, und es soll „Langsam und ruhig“ vorgetragen werden.


    Der zugrunde liegende lyrische Text eines anonymen spanischen Dichters weist eine dialogische Grundstruktur auf. In den beiden ersten Versen der Strophen richtet ein vor dem Kreuz stehender mitleidender Mensch eine Frage an Jesus, die dieser in den beiden folgenden Versen beantwortet. Im Aufgreifen zentraler Begriff bzw. Bilder des Fragenden, entfalten die Antworten eine reiche christologische Metaphorik. Wolfs Liedmusik reflektiert sowohl die dialogische Grundstruktur des Textes, als auch leuchtet sie interpretierend dessen semantische Dimensionen aus, und dies so tiefgreifend, dass Fischer-Dieskau mit Recht feststellen konnte: „in siebenundzwanzig Takten breitet sich als ein erschütternder Dialog der ganze Golgatha vor uns aus.“


    Die Liedmusik der Fragen hebt sich deutlich von der der Antworten ab, gleichwohl bilden beide eine musikalische Einheit. Die melodische Linie des Fragenden bewegt sich auf einer höheren tonalen Ebene als die des Antwortenden, und sie beschreibt dort eine Fallbewegung, die allerdings am Ende, um dem Fragecharakter Nachdruck zu verleihen, in einen mehr oder weniger ausgeprägten Aufwärtssprung mündet. Der kann von einer kleinen Sekunde (bei „bitterlich“) bis zu einer großen Quinte (bei „gedeih´n“) und einer kleinen (bei „sprich“) reichen. Die melodische Linie des Antwortenden entfaltet sich hingegen in ruhigen deklamatorischen Schritten auf mittlerer und tiefer Lage, neigt dabei zu Tonrepetitionen und beschreibt nur einmal eine Fall- und Sprungbewegung über ein größeres Intervall: Am Ende nämlich, wo der Fragende mit den Worten „reich ich dir“ unmittelbar angesprochen wird.


    Auch der Klaviersatz ist jeweils unterschiedlich strukturiert. Beim Fragenden ist er stark von einem Seufzer-Motiv geprägt. Es setzt jeweils pro Takt nach einer Viertelpause ein, nachdem die melodische Linie bereits eingesetzt hat, und entfaltet dadurch eine rhythmisch-klanglich besonders starke akzentuierende Wirkung. Es besteht aus einer Kombination von einem lang gehaltenen septimenbetonten dissonanten Akkord, einer nachfolgenden fallenden Achtel-Sechzehntel-Figur und einem dreistimmigen Sextakkord im Wert eines Viertels. Das alles wird legato artikuliert und entfaltet, weil ganz und gar in Moll- und verminderte Harmonik gebettet (e-Moll, b-Moll- fis-Moll), eine intensive klangliche Schmerzlichkeit.


    Bei der Liedmusik zu den Antworten Jesu ist das anders. Am Beispiel der Worte „Dornen, liebes Herz, für mich, / Und für dich der Blumen Zier“ sei das einmal in exemplarische Weise dargestellt. Die melodische Linie verharrt zunächst in silbengetreuer Deklamation auf einem „A in mittlerer Lage, senkt sich dann in zwei Sekundschritten ab, um anschließend aber wieder zu diesem „A“ zurückzukehren und bei „Zier“ am Ende nach einem Sekundsprung einen leicht schmerzlich anmutenden kleinen Sekundfall zu einem „Ais“ zu beschreiben. Das Klavier lässt dazu, wieder nach einer Viertelpause, je drei Akkorde (fünfstimmig bis siebenstimmig) erklingen, und zwar in der leicht rhythmisierten Abfolge eines punktierten Viertels, eines Achtels und eines Viertels. Die Schmerzlichkeit der Seufzer-Figuren gibt es also nicht. Und vor allem: Die Harmonik moduliert in diesem Fall von d-Moll (über eine Zwischenstufe von g-Moll) nach D-Dur und am Ende Fis-Dur.


    Schließlich unterscheiden sich Frage- und Antwortpassagen des Liedes auch in ihrer Dynamik. Beim lyrischen Ich, das seine Worte an den Gekreuzigten richtet und dabei aus seinem Mitfühlen heraus in starker seelischer Erregung ist, ist sie instabil und schlägt bei der zweiten und der dritten Strophe gar ins Forte aus. Auch der Klaviersatz weist diese Instabilität auf. In jedem Takt ist die Seufzer-Figur mit einem Decrescendo versehen: Von Forte (bzw. Mezzoforte) zu Piano. Ganz anders bei den Strophenpaaren, in denen der Gekreuzigte antwortet. Melodische Linie und Klaviersatz verbleiben durchweg im Bereich des Pianissimos. Seine Worte sind die eines Sterbenden und tragen doch eine an die ganze Menschheit gerichtete Botschaft. Gerade weil das so ist, entfalten sie in der Stille und der Verhaltenheit, mit der die Liedmusik sie zum Ausdruck bringt, tief berührende Expressivität.


    Gerade bei der letzten Strophe wird das besonders sinnfällig. Die melodische Linie setzt forte, wie immer beim Fragenden, in hoher Lage ein, bewegt sich mit vielen Tonrepetitionen hinab in untere Mittellage und beschreibt bei dem Wort „sprich“ einen Quintfall, der zwar eine Bitte und eine Aufforderung zum Ausdruck bringt, da es aber ein verminderter ist und er zudem im Piano deklamiert wird, große Scheu und Demut vor dem Gekreuzigten vernehmen lässt. Das Klavier begleitet mit seinen dissonanten septenbetonten Seufzerfiguren. Bei „sprich“ ereignet sich dann eine Rückung von a-Moll nach H-Dur.


    Der Gekreuzigte antwortet in Gestalt einer melodischen Linie, die zunächst in repetierender Deklamation auf einem „G“ in mittlerer Lage verbleibt, dann zwar mit einem Terzsprung bei „Blumen“ sogar bis zu einem „C“ emporsteigt, aber nur, um danach mit einer Kombination aus Oktavfall und vermindertem Sextsprung den Worten „reich´ ich dir“ starken Nachdruck zu verleihen. Das Klavier begleitet hier wieder mit seinen vier- bis sechsstimmigen Akkorden, wobei sich die Harmonik fast durchweg im Dur-Bereich bewegt. Sie moduliert von G, nach E, Ais, C,F, E und H. An zwei Stellen aber ereignet sich harmonisch Ungewöhnliches. Bei dem Wort „mich“ schlägt das Klavier einen E-Dur-Akkord an. Die Singstimme aber deklamiert ein dazu höchst dissonant wirkendes „Ais“. Die Dornen schmerzen. Und bei dem Wort „dir“ erklingt, bevor das eintaktige Nachspiel mit einem reinen E-Dur-Akkord zu Ende geht, ein lang gehaltener cis-Moll-Akkord.


    Was will das Lied da sagen? Vielleicht, dass die Blumenkränze dem Menschen vor dem Kreuz zwar in Liebe, aber doch unter Schmerzen überreicht werden, - dass das Heilsgeschenk an die Menschheit also über den Kreuzestod erfolgte.

  • Wunden trägst du, mein Geliebter,
    Und sie schmerzen dich;
    Trüg´ ich sie statt deiner, ich!


    Herr, wer wagt´ es so zu färben
    Deine Stirn mit Blut und Schweiß?
    "Diese Male Sind der Preis,
    Dich, o Seele, zu erwerben.
    An den Wunden muß ich sterben,
    Weil ich dich geliebt so heiß."


    Könnt´ ich, Herr, für dich sie tragen,
    Da es Todeswunden sind.
    "Wenn dies Leid dich rührt, mein Kind,
    Magst du Lebenswunden sagen:
    Ihrer keine ward geschlagen,
    Draus für dich nicht Leben rinnt."


    Ach, wie mir in Herz und Sinnen
    Deine Qual so wehe tut!
    "Härtres noch mit treuem Mut
    Trüg´ ich froh, dich zu gewinnen;
    Denn nur der weiß recht zu minnen,
    Der da stirbt vor Liebesglut. "


    Wunden trägst du, mein Geliebter,
    Und sie schmerzen dich;
    Trüg´ ich sie statt deiner, ich!


    Das dem Lied zugrunde liegende Gedicht von José de Valdivielso (1565-1638) ist dem mit dem Titel „Herr, was trägt der Boden hier“ in der Thematik und seiner dialogischen Grundstruktur verwandt. Und auch zwischen den beiden Liedern meint man eine gewisse Verwandtschaft zu vernehmen. Dieses Lied hat aber nicht den Bekanntheitsgrad des vorangehenden erreicht. Man spricht gern davon, dass es in dessen „Schatten“ stehe. Dem ist aber nicht so. Das vorangehende ist die bedeutendere Komposition, und dies deshalb, weil die situative Verdichtung im lyrischen Text eine Beschränkung und Konzentration der liedkompositorischen Mittel verlangt, was Wolf auf meisterhafte Weise gelungen ist.


    Auch hier hebt sich die Liedmusik auf die Worte, mit denen der mitleidende Mensch den Gekreuzigten anspricht, von der ab, die auf dessen Antworten liegt. Der Kontrast ist freilich nicht so stark ausgeprägt, vor allem deshalb, weil dieses Mal im Klaviersatz die Seufzerfiguren fehlen und durchweg sechs akkordische Viertel aufeinanderfolgen, die allerdings partiell zu Akkorden im Wert einer halben Note zusammengezogen werden können. In ihrer Struktur, ihrer Harmonisierung und ihrer Dynamik hebt sich die melodische Linie auf die Worte des Gekreuzigten auch hier wieder deutlich von der ab, die auf den Ansprache-Passagen liegt.


    In diesen ist die Liedmusik wieder von einem schmerzlichen Klageton geprägt, der den häufigen Fallbewegungen in großen und kleinen Sekunden der melodischen Linie und ihrer dominanten Moll-Harmonisierung entspringt. Sie neigt auch in diesem Lied dazu, sich auf höherer tonaler Ebene zu bewegen als dies bei den Worten des Gekreuzigten der Fall ist, und sich von dort in tiefere Lage abzusenken. Das zweitaktige Vorspiel setzt den für das Lied maßgeblichen klanglichen Akzent: Ein ais-Moll-Quartakkord erfährt zwei Mal eine Verminderung um eine kleine Sekunde, was ihm eine starke Schmerzlichkeit verleiht. Die nachfolgende Liedmusik auf den drei Versen der ersten Strophe hat eine gleichsam programmatische Funktion, denn Wolf wiederholt sie am Ende des Liedes noch einmal, was für ihn ungewöhnlich ist.


    Die melodische Linie senkt sich zunächst, in h-Moll harmonisiert, um eine Sekunde ab, kehrt aber wieder auf die Ausgangsebene zurück, um dem Wort „Geliebter“ mittels einer Kombination aus Quartfall und Terzsprung, der am Ende in Cis-Dur mündet, einen besonderen Akzent zu verleihen. Die Worte „und sie schmerzen dich“ werden auf einer in fis-Moll harmonisierten melodischen Linie deklamiert, die über eine Terz in eine fallende Bewegung in kleinen und großen Sekunden übergeht. Auch das Wort „dich“ erhält dabei einen Akzent: Der kleine Sekundfall mündet in eine Dehnung und wird forte deklamiert. Das Klavier begleitet mit aus tiefer in hohe Lage aufsteigenden dreistimmigen Moll-Akkorden im Diskant. Bei den Worten „trüg ich sie statt deiner, ich“ verbleibt die melodische Linie in h-Moll-Harmonisierung bei silbengetreuer Deklamation auf einem „Cis“ in oberer Mittellage, beschreibt dann aber am Ende einen Terzsprung, um das Wort „ich“ hervorzuheben.


    Bei den ersten Worten des Gekreuzigten verbleibt die melodische Linie zwar ganz und gar im Bereich des Pianissimos, durchläuft aber leichte mehrfach aufeinanderfolgende Crescendi und Descrescendi. Das geschieht auf den vielen kleinen, jeweils einen Takt einnehmenden Melodiezeilen, in die sie untergliedert ist. Der Gekreuzigte ist dem Tode nahe, er spricht leise und stockend, verleiht aber dem, was er zu sagen hat, mit letzter Kraft dennoch Nachdruck. Vor den deklamatorischen Schritten der melodischen Linie liegt pro Takt eine Viertelpause. Die einzelnen kleinen Zeilen, die sich dabei herausbilden, setzen meist mit kurzen Tonrepetitionen ein und gehen dann in einen Fall oder Sprung über, der zumeist mit einer harmonischen Rückung verbunden ist.


    Die Harmonik bewegt sich zwar hauptsächlich im Bereich des Tongeschlechts Dur (D-, C-, B-Dur), immer wieder aber ereignet sich eine kurze Rückung ins Moll, was Ausdruck des schmerzlichen Leidens ist. Erst am Ende, bei den Worten „weil ich dich geliebt so heiß“, wird die melodische Linie nicht mehr durch eine Pause unterbrochen. Sie senkt sich langsam, nach Repetitionen auf einem hohen „D“, zu einem „Ais“ in mittlerer Lage ab, das eine Dehnung trägt und deshalb, weil hier eine Rückung von B-Dur nach „Fis-Dur erfolgt, dem Wort „heiß“ einen starken Akzent verleiht. Beim letzten Vers, der dieses Bekenntnis der Liebe enthält, begleitet das Klavier mit Akkorden in Oktav-Diskantlage.


    Die Vierer-Versgruppe der dritten Strophe, in der wieder der Gekreuzigte spricht, ist liedmusikalisch ähnlich angelegt. Zwar ist die melodische Linie in größere, nämlich zwei Takte umfassende Zeilen untergliedert, ihre jeweilige Struktur darin gleicht aber der, die sie bei der entsprechenden Versgruppe der zweiten Strophe aufweist, und auch die Harmonisierung in dominantem Dur (D-, F,- B-Dur) kehrt hier wieder. Am Ende, bei der gedehnt in Sekunden fallenden melodischen Linie auf den Worten „Leben rinnt“, ereignet sich auch wieder die Rückung nach Fis-Dur.


    Bei den letzten Worten des Gekreuzigten in der vierten Strophe (Verse 3-6:„Härtres noch mit treuem Mut…“ ) kommt ein leicht angewandelter Ton in die die Liedmusik auf den Worten des Gekreuzigten Nun setzt die melodische Linie in Moll-Harmonisierung (h-Moll) ein, rückt zwar mehrmals nach Dur (Cis, A), um aber dann wieder ins Moll zurückzufallen. Zunächst verbleibt sie mit ihren Tonrepetitionen wieder in mittlerer Lage und durchläuft in ihrem Piano zwei Mal ein Crescendo-Descrescendo. Dann aber, bei den Worten „dich zu gewinnen“ wird die Dynamik nicht mehr zurückgenommen, und sie steigt in höhere Lage auf, wo die Worte „der weiß recht zu minnen“ silbengetreu auf nur einem Ton, einem hohen „D“, deklamiert werden. Danach beschreibt sie bei den Worten „der da stirbt vor Liebesglut“ einen leicht gewölbten und klanglich zärtlich wirkenden Bogen, der auf einem lang gedehnten „A“ in mittlerer Lage endet. Hier ist das a-Moll, das gerade noch dominierte, verlassen, und ein Fis-Dur ist an seine Stelle getreten. Der Gekreuzigte hat seine Liebe zu den Menschen bekannt, und der kann das Kreuz nichts anhaben.

  • Klinge, klinge, mein Pandero,
    Doch ein andres denkt mein Herz.


    Wenn du, muntres Ding, verständest
    Meine Qual und sie empfändest,
    Jeder Ton, den du entsendest,
    Würde klagen meinen Schmerz.


    Bei des Tanzes Drehn und Neigen
    Schlag´ ich wild den Takt zum Reigen,
    Daß nur die Gedanken schweigen,
    Die mich mahnen an den Schmerz.


    Ach, ihr Herrn, dann will im Schwingen
    Oftmals mir die Brust zerspringen,
    Und zum Angstschrei wird mein Singen,
    Denn an andres denkt mein Herz.


    Wolf komponierte dieses Lied am Nachmittag des 20. November 1889. Ein Dreivierteltakt liegt ihm zugrunde, aus dem sich ein leicht beschwingter Tanzrhythmus entfaltet. Im lyrischen Text von Alvaro Fernandez de Almeida geht es schließlich um „des Tanzes Drehn und Neigen“. Die allerdings, die hier mit dem „Pandero“, einer spanischen Schelltrommel, „wild“ den Takt zum Reigen schlägt, hat ein schweres Herz. Was es ist, das den seelischen Schmerz auslöst, sagt der Text nicht, wohl aber, dass er so tief sein muss, dass „zum Angstschrei“ das Singen wird und die Brust zerspringen will.


    Diese polare Spannung zwischen dem Tanz und Frohsinn der Außenwelt und der seelischen Innenwelt des lyrischen Ichs ist der eigentliche Gegenstand der Liedkomposition. Und sie wird ihm gerecht, indem sie die melodische Linie der Singstimme und den Klaviersatz in ein klangliches Spannungsverhältnis setzt und sich darin entfalten lässt. Während von der melodischen Linie die Anmutung schmerzlicher Klage ausgeht, weil sie aus einer insistierenden Tonrepetition immer wieder in eine in Moll harmonisierte Fallbewegung übergeht, entfaltet das Klavier tänzerische Rhythmen, indem es im Bass mit Tremoli und Arpeggien durchsetzte Figuren erklingen lässt, die die Taktschläge des Panderos klangmalerisch aufgreifen, und im Diskant permanent Sechzehntel-Ketten auf und ab laufen, sich in die Höhe schwingen und sich im Kreis drehen lässt. Und weil es im Lied um fröhlichen Tanz und Herzeleid zugleich geht, moduliert die Harmonik zwar im Bereich des Tongeschlechts Moll, und dies unter Orientierung an der Grundtonart g-Moll, sie greift jedoch immer wieder in den Dur-Bereich aus, und das in durchaus in tonartlich weit ausholender, sowohl Kreuz- als auch B-Tonarten berücksichtigender Weise.


    Nach einem zweitaktigen Vorspiel, in dem sich genau das ereignet, was Grundbestandteil des Klaviersatzes ist, eine nach oben laufende Sechzehntel-Kette im Diskant und Pandero-Rhythmen im Bass, setzt die Singstimme in der für sie typischen Weise der deklamatorischen Tonrepetition (hier auf einem hohen „D“) ein, die in der Regel in eine langsame Fallbewegung übergeht, hier aber in einem Quintfall endet. Diese Frau fordert zwar ihr Pandero auf zu klingen, aber sie tut es nicht freudig. Und warum, das sagt die nächste Melodiezeile. Auch sie verharrt wieder zunächst auf nur einer tonalen Ebene (einem „H“) und geht dann in einen Fall über. Dieser besteht nun aber aus einem doppelten Auf und Ab um eine Sekunde, und weil dies in gedehnter Form erfolgt, mutet es müde an. Die Harmonik moduliert hier von einem anfänglichen Es-Dur über ein Moll nach A-Dur am Ende, was den Eindruck einer inneren Müdigkeit noch verstärkt.


    Als wolle das Klavier sich davon lösen und darauf pochen, dass hier getanzt werden soll, lässt es in einem sechstaktigen Zwischenspiel aus tiefer Diskantlage Sechzehntel-Figuren in hohe emporsteigen, die dort in ein Auf und Ab übergehen und am Ende über einen eintaktigen Triller in einen argpeggierten Akkord münden. Es behält diesen Fluss der Achtelketten im Diskant auch bei, während die Singstimme ihre Ansprache an den Pandero fortsetzt. Dies erneut in Gestalt einer anfänglichen Tonrepetition auf den Worten „Wenn du muntres Ding ver-…“, die dieses Mal aber nicht rhythmisiert ist sondern in der gleichförmigen Aufeinanderfolge eines „H“ erfolgt. Zu dem Wort „Qual“ hin steigt die melodische Linie nun aber in Sekunden an und überlässt sich dann einer langen Dehnung, um diesem Wort einen Akzent zu verleihen. Das geschieht auch bei den Worten „und sie verständest“, dieses Mal aber in Gestalt einer geradezu überraschenden, weil mit einer Rückung nach Es-Dur verbundene Sprungbewegung von einem tiefen „Des“ aus zu einem „C“ in mittlerer Lage, - Ausdruck der Tatsache, dass dieses lyrische Ich nicht an ein solches Verstehen zu glauben vermag. Und so geht denn auch die melodische Linie am Ende der nachfolgenden Melodiezeile bei den Worten „meinen Schmerz“ in eine Fallbewegung hinab zu einem tiefen „G“ über und ist dabei in g-Moll harmonisiert.


    Auch hier ging das Klavier – wie zum Trotz – mit seinen Achtelketten in extrem hohe Diskantlage über, ließ im Bass seine Akkorde nun in arpeggierter Form erklingen und setzte das Ganze im nun allerdings nur eintaktigen Nachspiel mit einem Wirbel von Sechzehnteln in hoher Lage fort. Bei den Versen der dritten Strophe bewegt sich die melodische Linie ähnlich wie in der vorangehenden. Auch hier wieder die Tonrepetitionen, der Anstieg in höhere Lege und der in tiefer Lage ansetzende und mit einer harmonischen Rückung verbundene Sprung bei dem Wort „Reigen“, der nun sogar über eine Sexte erfolgt. Nach dem in eine Dehnung mündenden Sekundfall bei dem Wort „Schmerz“ hebt das Klavier erneut zu dem schon bekannten sechstaktigen und mit einer Kombination aus Triller und arpeggiertem Akkord endenden Zwischenspiel an. Diese Figur erklingt dieses Mal sogar noch länger, so dass sich wieder der Eindruck einstellt, dass das Klavier sich ganz bewusst in einen Gegensatz zur Aussage der melodischen Linie bringen will.


    Auch bei der neuerlichen, in eine lange Dehnung auf einem tiefen „G“ mündenden Fallbewegung der melodischen Linie auf den Worten „andres denkt mein Herz“ steigt das Klavier unter Begleitung von Arpeggien im Bass mit seiner Achtelkette wieder in die Oktavlage des Diskants auf. Nun aber, im achttaktigen Nachspiel ereignet sich Bemerkenswertes: Wie müde wirkend und vielleicht von dem seelischen Schmerz des lyrischen Ichs berührt, lässt das Klavier seine Achtelkette langsam aus ihrer hohen Lage in tiefe abfallen, - langsam, weil dies wie zögerlich erfolgt, mit einem kurzen neuerlichen Aufstieg dazwischen. Die Harmonik ist dabei das g-Moll der melodischen Linie. Aber dieses Mitfühlen ist nur von kurzer Dauer. Nach vier Takten setzt erneut der Aufschwung in hohe Lage ein, dem am Ende der lange Triller mit dem arpeggierten Akkord folgt, der das Lied beschließt. Es ist freilich einer in g-Moll.

  • In dem Schatten meiner Locken
    Schlief mir mein Geliebter ein.
    Weck´ ich ihn nun auf? - Ach nein!


    Sorglich strählt´ ich meine krausen
    Locken täglich in der Frühe,
    Doch umsonst ist meine Mühe,
    Weil die Winde sie zerzausen.
    Lockenschatten, Windessausen
    Schläferten den Liebsten ein.
    Weck 'ich ihn nun auf? - Ach nein!


    Hören muß ich, wie ihn gräme,
    Dass er schmachtet schon so lange,
    Dass ihm Leben geb´ und nehme
    Diese meine braune Wange.
    Und er nennt mich seine Schlange,
    Und doch schlief er bei mir ein.
    Weck´ ich ihn nun auf? - Ach nein!


    Das ist wohl das bekannteste und beliebteste der weltlichen Lieder dieses Zyklus, - und das mit Recht. Das ist eine der großen Liedkompositionen Wolfs, - die er übrigens in seine Oper „Der Corregidor“ aufnahm. Sie entstand am Nachmittag des 17. November 1889. Der lyrische Text eines unbekannten spanischen Dichters lässt das Verhältnis der hier als lyrisches Ich sich artikulierenden Frau und ihrem Geliebten in der Schwebe. Sie scheint ihm nicht abgeneigt zu sein, er aber hält ihr die Zurückhaltung vor, die sie ihm gegenüber übt. Oder ist das nur Koketterie, was das lyrische Ich hier an den Tag legt? Auf jeden Fall fängt Wolfs Liedkomposition eben diese Unbestimmtheit in der Haltung des lyrischen Ichs in meisterhafter Weise ein und bezieht gerade daraus ihren klanglichen Reiz und ihre Größe als musikalisches Kunstwerk.


    Es sind gleich mehrere liedkompositorische Faktoren, die dabei zum Einsatz kommen. Die auf der Grundlage eines Dreivierteltaktes sich entfaltende tänzerisch-verspielte Rhythmik, die in ihrer lebhaften Entfaltung immer wieder innehaltende melodische Linie und die in ihren Modulationen von der Grundtonart B-Dur gleichsam schweifend ausbrechende Harmonik. Der tänzerische Gestus wird in dem nur eintaktigen Vorspiel, in dem die Singstimme auftaktig einsetzt, mit einer Figur vorgegeben, die den ganzen Klaviersatz prägt. Es ist eine Folge von sechs Achteln, die nach dem ersten Achtel durch eine Sechzehntel-Pause unterbrochen wird, so dass aus dem zweiten Achtel ein Sechzehntel werden muss. Die Harmonik rückt dabei in die Subdominante, - hier also nach Es-Dur. Das ereignet sich dann gleich auch wieder zwei Mal bei der Begleitung der ersten Melodiezeile auf den Worten „In dem Schatten meiner Locken / Schlief mir mein Geliebter ein“. Am Ende aber rückt dann die Harmonik nach der Dominante F-Dur.


    In der Liedmusik auf die erste Strophe ereignet sich auch dieses Innehalten, das so sehr den Charakter des Liedes prägt und bestimmt. Nach einem zweimaligen, lebhaft deklamierten Auf und Ab der melodischen Linie, geht diese bei dem Wort „Geliebter“ in einen triolischen Fall über und hält, verbunden mit einer Rückung nach F-Dur auf einem gedehnten tiefen „F“ inne. Auch das Klavier lässt von seiner Grundfigur ab und artikuliert hier einen über den ganzen Takt gehaltenen sechsstimmig arpeggierten F-Dur-Akkord. Eine eintaktige Pause folgt für die Singstimme, in der das Klavier im dreifachen Piano wieder seine Grundfigur erklingen lässt. Die Worte „Weck´ ich ihn nur auf?“ werden auf einer melodischen Linie deklamiert,, die nach einer viermaligen Tonrepetition einen Quartsprung mit nachfolgender langer Dehnung beschreibt, der dann eine fast zweitaktige Pause folgt. Dadurch, und durch die Tatsache, dass hier eine Rückung nach D-Dur stattgefunden hat, wird die Frage, die sich das lyrische Ich stellt, in markanter Weise hervorgehoben. Und das gilt ebenso, und in vielleicht noch stärkerem Maße, für die Antwort darauf. Denn diese wird auf einem – wiederum von zwei Pausen eingegrenzten - verminderten Terzfall deklamiert, den das Klavier mit einem über den ganzen Takt gehaltenen sechsstimmigen Akkord begleitet. Und das ist einer in Ges-Dur.


    Eine Rückung von D- nach Ges-Dur, - das ist eine geradezu kühner Akt der Harmonisierung einer winzigen Melodiezeile. Und sein Reiz besteht darin, dass dadurch die Ungewissheit, wie denn diese Antwort, die das lyrische Ich sich selbst gibt, zu verstehen sei, noch gesteigert wird. Es bleibt in diesem Lied höchst unklar, was diese Frau für ihren „Geliebten“ wirklich empfindet und in welchem Verhältnis sie zu ihm steht. Die Tatsache, dass das „Nein“ mit der Klagepartikel „ach“ versehen ist und Wolf dies mit einem verminderten Terzfall aufgreift und zudem die Melodiezeile in dieser Weise harmonisch exponiert, verleiht ihr eine herausragende Stellung in diesem Lied. Sie kehrt ja noch zweimal wieder. Jede Strophe endet mit ihr und der Frage, die ihr vorausgeht. Im Grunde laufen alle Aussagen der drei Strophen auf diesen einen Vers am Ende zu. Und Wolf hat dies berücksichtigt, indem er die liedmusikalische Struktur beibehält und diesen beiden kleinen Melodiezeilen damit Refrain-Charakter verleiht. Es gibt nur eine Änderung in der melodischen Linie: Bei der zweiten Frage wird der Quartsprung bei „nun auf“ zu einem Sextsprung. Überdies ändert sich die Harmonisierung: Die Harmonik rückt hier von B- nach Des-Dur.


    In der für ihn charakteristischen Weise folgt Wolf mit der melodischen Linie der Struktur des lyrischen Textes und lotet dabei seine Semantik aus. Wenn das lyrische Ich bekennt „Sorglich strählt´ ich meine krausen / Locken täglich in der Frühe“ setzt die melodische Linie mit je einer Dehnung auf der Silbe „sorg“- und dem Wort „strählt“ in hoher Lage an und bewegt sich dann lebhaft abwärts zu einem tiefen „F“ und von dort wieder über eine ganze Oktave zu einem hohen, um bei „Frühe“ dann eine Septfall zu beschreiben. Hierin drückt sich die Aktivität aus, die mit diesen Verrichtungen verbunden ist. Bei den mit den Worten „doch umsonst“ eingeleiteten beiden nächsten Versen wirkt die melodische Linie jedoch durch Dehnungen, Fall- und Sprungbewegungen wie in innere Unruhe versetzt, und zudem rückt die Harmonik von dem F-Dur zuvor nach des-Moll. Ärger und Enttäuschung drücken sich darin aus. Und wenn davon die Rede ist, dass „Lockenschatten“ und „Windessausen“ den Liebsten einschläferten, geht die melodische Linie aus der Repetition eines „B“ in mittlerer Lage über eine Triole in eine Fallbewegung über, die auf einem tiefen gedehnten „D“ endet. Das Klavier begleitet hier mit einer Folge von arpeggierten g-Moll-Akkorden und lässt am Ende einen siebenstimmig arpeggierten D-Dur-Akkord erklingen.


    Die ersten vier Verse der dritten Strophe („Hören muss ich, wie ihn gräme…“) deklamiert die Singstimme auf einer melodischen Linie, die drei Mal in der gleichen Weise mit Tonrepetitionen auf einem hohen „Es“ ansetzt und dann in eine Fallbewegung übergeht. Die Harmonik vollzieht dabei die ebenfalls drei Mal gleiche Rückung von der Subdominante F- zur Dominante C-Dur. Auf eindringliche Weise wird hier die Empörung des lyrischen Ichs über die Vorwürfe zum Ausdruck gebracht, die der Geliebte gegen sie erhebt. Und was sie dabei von sich selber hält, lässt der lang gedehnte verminderte Quintfall vernehmen, der am Ende auf dem Wort „Wange“ liegt. Hier ereignet sich eine ausdrucksstarke Rückung von D-Dur nach Ges-Dur:


    Auf höchst reizvolle Weise ist der Schluss des Liedes gestaltet. Auf den Worten „Und er nennt mich seine Schlange, / Und doch schlief er bei mir ein“ liegen zwei kleine Melodiezeilen, die durch eine Viertelpause voneinander getrennt sind. Beide setzen mit einem Quartsprung ein, und danach erfolgt eine Tonrepetition auf einem „B“ in mittlerer Lage. Aber während bei den Worten „seine Schlange“ die melodische Linie nach einer auf der tonalen Ebene verbleibenden Triole einen doppelten Sekundsprung nach oben macht, geht sie bei den Worten „bei mir ein“ erst in einen triolischen Fall über und beschreibt dann einen Quartsprung mit nachfolgender Dehnung. Das ist für das lyrische Ich bedeutungsvoller, als dass es sich als „Schlange“ bezeichnet und charakterisiert sieht. Das ist ohnehin nicht ernst zu nehmen. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang: Die kleine Melodiezeile auf den Worten „und doch schlief er bei mir ein“ soll piano und „sehr zurückhaltend“ vorgetragen werden. Ist das stille, heimliche Freude, was sich da artikuliert? Die Gestalt der melodischen Linie und ihre Harmonisierung in B-Dur legt diese Deutung nahe.
    Und so gewinnt denn der noch einmal erklingende Refrain, nun wieder mit der Rückung von D- nach Ges-Dur, am Schluss des Liedes eine weitere semantische Dimension.

  • Seltsam ist Juanas Weise.
    Wenn ich steh´ in Traurigkeit,
    Wenn ich seufz´ und sage: heut,
    "Morgen", spricht sie leise.


    Trüb´ ist sie, wenn ich mich freue;
    Lustig singt sie, wenn ich weine;
    Sag´ ich, daß sie hold mir scheine,
    Spricht sie, daß sie stets mich scheue.


    Solcher Grausamkeit Beweise
    Brechen mir das Herz in Leid -
    Wenn ich seufz´ und sage: heut,
    "Morgen", spricht sie leise.


    Heb´ ich meine Augenlider,
    Weiß sie stets den Blick zu senken;
    Um ihn gleich empor zu lenken,
    Schlag´ ich auch den meinen nieder.


    Wenn ich sie als Heil'ge preise,
    Nennt sie Dämon mich im Streit,
    Wenn ich seufz´ und sage: heut,
    "Morgen", spricht sie leise.


    Sieglos heiß 'ich auf der Stelle,
    Rühm´ ich meinen Sieg bescheiden;
    Hoff´ ich auf des Himmels Freuden,
    Prophezeit sie mir die Hölle.


    Ja, so ist ihr Herz von Eise,
    Säh´ sie sterben mich vor Leid,
    Hörte mich noch seufzen: heut,
    "Morgen" spräch´ sie leise.


    Wolf komponierte dieses Lied am Nachmittag des 14. November 1889. Ein Dreivierteltakt liegt ihm zugrunde, und es soll „mäßig“ vorgetragen werden. Zwar ist als Grundtonart g-Moll vorgegeben, die Harmonik moduliert jedoch sehr stark. Schon bei den ersten beiden, auf den Versen eins und zwei liegenden Melodiezeilen ereignen sich Rückungen von g-Mol nach D-Dur am Ende, die Modulationen greifen aber weit in beide Regionen des Quintenzirkels aus. Das lyrische Ich, der Liebhaber oder Verehrer von Juana reiht ja Klage an Klage. Von der Standard-Beschwerde „Wenn ich seufz´ und sage heut,…“ einmal abgesehen, sind es insgesamt sieben Beispiele von „seltsamem“ Verhalten, die der Geselle hier vorbringt. Für das Lied hat das zur Folge, dass die melodische Linie stark deklamatorisch ausgerichtet und angelegt ist und ihre Harmonisierung fast mit jeder Beschwerde zu einer neuen Tonart übergeht. So ist weist auch der Refrain keineswegs durchgehend eine identische melodische Gestalt und Harmonisierung auf. Nur die Grundstruktur wiederholt sich: Die melodische Linie macht nach wellenartigem Anlauf einen Sprung, hält kurz inne (Achtelpause) und geht dann mit einen Fall in wellenartige Bewegung in tiefer Lage über.


    Klanglich herausragend wird dieser Refrain aber durch die harmonischen Rückungen, die sich innerhalb und zwischen beiden kleinen Melodiezeilen ereignen. Im ersten Fall ist es eine von g-Moll nach F-Dur und von B-Dur nach g-Moll. Bemerkenswert ist auch, wie Wolf den Klaviersatz hier gestaltet. Am Anfang der ersten Zeile erklingt ein sechsstimmiger Akkord im Wert eines Achtels. Für den Rest der Zeile hat das Klavier dann Pause, d.h. die Singstimme deklamiert wie Worte „wenn ich seufz´ und sage heut“ ohne Begleitung, was den temporalen Konditional der Aussage markant hervortreten lässt und eine Erwartungshaltung aufbaut. Dann lässt das Klavier zwei siebstimmig arpeggierte Akkorde erklingen, und zwar am Ende dieser Melodiezeile zu dem Wort „heut“) und in der Achtelpause, was diese Erwartungshaltung noch steigert, überdies aber auch noch nachträglich einen Akzent auf die Aussage dieses lyrischen Ichs legt. Das gibt sich durchweg ein wenig wehleidig, bringt seine Klagen gleichsam mit Lautenklang-Begleitung vor. Durchweg erklingen in diesem Lied arpeggierte Akkorde. Und achtet man einmal darauf, wo das der Fall ist, dann stellt sich heraus: Immer dann, wenn das lyrische Ich von seiner beklagenswerten Situation und den seelischen Folgen spricht, die sie für seine Seelenlage hat, artikuliert das Klavier Arpeggien, spricht es aber vom Verhalten Juanas und zitiert indirekt gar Worte von ihr, dann begleitet das Klavier die melodische Linie mit durch Pausen voneinander getrennten, also klanglich hart wirkenden Achtel-Akkorden.


    Der klangliche Reiz des Liedes geht von der Art und Weise aus, wie die Liedmusik die einzelne lyrische Aussage, den Inhalt der jeweiligen Klage und Beschwerde des lyrischen Ichs also reflektiert. Bei den Worten „Trüb ist sie, wenn ich mich freue“ geht die melodische Linie aus hoher Lage in eine Fallbewegung über, beschreibt aber am Ende, bei dem Wort „freue“, einen Quintsprung, der mit einer harmonischen Rückung nach Dur verbunden ist, Bei „lustig singt sie, wenn ich weine“ setzt sie hingegen mit einem Terzsprung ein und geht am Ende, bei „weine“, in einen Quintfall über, bei dem sich ebenfalls eine Rückung von dem vorangehenden Moll nach Ges-Dur ereignet. Das Klavier begleitet hier durchweg mit arpeggierten Akkorden, wobei es, wie es das zumeist tut, nach dem ersten Akkord am Anfang der kleinen Melodiezeile für den Rest des Taktes erst einmal eine Pause einlegt, und die Singstimme sich selbst überlässt. Bei den Worten „Solcher Grausamkeit Beweise / brechen mir das Herz in Leid“ kommt das lyrische Ich auf die schweren Schäden zu sprechen, die diese Juana in seiner Seele anrichtet. Infolgedessen verharrt die melodische Linie zwei Mal in Gestalt von Tonrepetitionen lange auf nur einer tonalen Ebene und geht am Ende dann jeweils in einen Fall über, der mir einer Rückung von E-Dur nach e-Moll verbunden ist. Hier lässt das Klavier von seinen Arpeggien ab und geht zur Artikulation von Akkorden über.


    Die Melodiezeilen umfassen jeweils einen Vers und sind durch eine Viertelpause voneinander abgehoben. Von der vierten Strophe an („Heb´ ich meine Augenlieder…“) weisen sie die gleiche melodische Grundstruktur auf: Eine mehr oderweniger lange deklamatorische Tonrepetition, danach entweder eine Sprungbewegung nach oben oder ein Fall, verbunden jeweils mit harmonischer Rückung. Nur der Refrain weicht von diesem Modell ab und außerdem die Verse „Nennt sie Dämon mich im Streit“ (fünfte Strophe“) und „Hoff´ ich auf des Himmels Freuden“ (sechste Strophe). Erstaunlich dabei ist, dass sich trotz dieser strukturellen Ähnlichkeit der Melodiezeilen nicht der Eindruck von Gleichförmigkeit der musikalischen Aussage einstellt. Man begegnet immerzu neuen Formen der Klage und Beschwerde.


    Das hängt ganz wesentlich damit zusammen, dass sich am Ende der Melodiezeilen sowohl melodisch als auch harmonisch stets Neues ereignet. Bei den Worten „Ja, so ist ihr Herz von Eise“ senkt sich die melodische Linie nach fünfmaliger Tonrepetition in einer kleinen und einer großen Sekunde in tiefe Lage ab. Die nachfolgenden Worte „Säh´ sie sterben mich vor Leid“ werden hingegen auf einer nach zweimaliger Tonrepetition um eine Terz ansteigenden, wieder fallenden und dann am Ende einen verminderten Quartsprung mit Dehnung beschreibenden melodischen Linie deklamiert. Hier verzichtet das Klavier wieder auf seine Arpeggien und lässt normale Akkorde erklingen. Es ist schließlich ein gar harter Vorwurf, der hier gegenüber Juana erhoben wird.

  • Treibe nur mit Lieben Spott,
    Geliebte mein;
    Spottet doch der Liebesgott
    Dereinst auch dein!


    Magst an Spotten nach Gefallen
    Du dich weiden;
    Von dem Weibe kommt uns Allen
    Lust und Leiden.
    Treibe nur mit Lieben Spott,
    Geliebte mein;
    Spottet doch der Liebesgott
    Dereinst auch dein!


    Bist auch jetzt zu stolz zum Minnen,
    Glaub´, o glaube:
    Liebe wird dich doch gewinnen
    Sich zum Raube,
    Wenn du spottest meiner Not,
    Geliebte mein;
    Spottet doch der Liebesgott
    Dereinst auch dein!


    Wer da lebt im Fleisch, erwäge
    Alle Stunden:
    Amor schläft und plötzlich rege
    Schlägt er Wunden.
    Treibe nur mit Lieben Spott,
    Geliebte mein;
    Spottet doch der Liebesgott
    Dereinst auch dein!


    Der lyrische Text von einem anonymen spanischen Autor hat mit dem vorangehenden einiges gemeinsam: Wieder eine Ansprache eines lyrischen Ichs in Gestalt eines Mannes an eine Frau, die in ihrem Eigensinn nicht das Verhalten an den Tag legt, das dieser in Sachen Liebe von ihr erwartet. Und es gibt auch wieder einen Refrain, der gleichsam alles, was da an Vorwürfen erhoben wird – hier vor allem das Spott-Treiben mit dem Lieben und dem „Geliebten“ - , gleichsam auf den Punkt bringt. Nur: Dieses lyrische Ich ist ein anderes. Kein jämmerlich klagender Liebhaber, sondern einer mit deutlich stärker ausgeprägtem Selbstbewusstsein, der sich im Refrain gar zu einer Drohung versteigt: Der Liebesgott werde gleichsam Rache üben.


    Auch Wolfs Lied zeigt formale Ähnlichkeiten mit dem vorangehenden: Die Grundtonart ist ebenfalls g-Moll, wieder liegt ein Dreivierteltakt zugrunde, der der melodischen Linie eine gewisse Beschwingtheit verleiht, du auch die dem Refrain vorgelagerte Liedmusik wiederholt sich in ihrer Grundstruktur. Aber da ist ein Hugo Wolf am Werk gewesen, und so reflektiert denn auch die Liedmusik, bei all den Parallelen zum vorangehenden Lied, in sehr markanter und beeindruckender Weise den Charakter dieses lyrischen Ichs, und die melodische Linie folgt in ihrer deklamatorischen Entfaltung der Struktur des lyrischen Textes und lotet dabei dessen semantische Dimensionen aus.


    Bemerkenswert ist schon einmal, dass das Klavier auch hier, gleich im Vorspiel drei Mal und danach noch einmal zum Einsatz der melodischen Linie, arpeggierte Akkorde erklingen lässt. Aber hier werden sie nicht zum Regelfall, sie erklingen nur noch drei weitere Mal, und zwar jeweils am Anfang des Refrains, also zur Akzentuierung des Worte „treibe“, bzw. „wenn“ (beim modifizierten Refrain der dritten Strophe). Der klangliche Akzent sieht so aus, dass das Klavier nach der Artikulation dieses siebenstimmig arpeggierten Akkords, der immer einer in g-Moll ist, erst einmal eine Achtelpause macht, bevor es dann mit einer staccato angeschlagenen Folge von in der tonalen Ebene ansteigenden Achtelakkorden die Begleitung der melodischen Linie fortsetzt.


    Das ist typisch für die Grundstruktur des Klaviersatzes, und er unterscheidet sich darin deutlich von dem des vorangehenden Liedes. Hier artikuliert sich melodisch kein jammernder Weichling. Infolgedessen bewegt sich die melodische Linie nicht nur lebhafter – der Refrain setzt mit einer Tonrepetition von Sechzehnteln ein -, sie weist auch keine starke Prägung durch eine fallende Linie auf, vielmehr stehen den beiden Melodiezeilen des Refrains, die nach der Tonrepetition in eine solche übergehen, in den vorgeschalteten Liedpassagen aufsteigende und sich danach lebhaft auf und ab bewegende melodische Linien gegenüber. Und dem passt sich der Klaviersatz an. Er besteht hier nicht aus wie statisch wirkenden Akkordfolgen, wie im vorangehenden Lied, sondern entfaltet sich in lebhaften Figuren, die zum Teil aus der Kombination von Achteln mit Sechzehnteln bestehen.


    Staccato angeschlagene Akkorde finden sich in einer die Begleitung der Singstimme prägenden Weise nur im Refrain. Und dies in der Funktion einer Akzentuierung dessen, was die melodische Linie zum Ausdruck bringt. Bei „Treibe nur mit Lieben Spott“ beschreibt diese nach der viermaligen Tonrepetition eine auf einem hohen „D“ ansetzende chromatische Fallbewegung, die nach einem kurzen Melisma auf dem Wort „Geliebte“ auf einem „As“ in mittlerer Lage endet. Das Klavier setzt dem chromatisch ansteigende Staccato-Achtel-Akkorde entgegen. Nach einer Viertel-Pause macht die melodische Linie nach einer neuerlichen viermaligen Tonrepetition, nun aber in tiefer Lage, einen energisch anmutenden Sextsprung und geht nun in einen Fall in großen Sekunden über, der bei den Worten „einst auch dein“ in eine spanische Triole übergeht. Man kann das durchaus als Ausdruck einer spöttischen Haltung des lyrischen Ichs interpretieren.


    Der Liedmusik auf den vier Versen, die in den Strophen zwei bis vier dem Refrain vorgelagert sind, ist gemeinsam, dass die melodische Linie jeweils zwei Mal wie in einem kurzen Anlauf in Gestalt von Tonrepetitionen in einen in der Expressivität sich steigernden Aufstieg übergeht, dem das Klavier mit Figuren aus einer Kombination aus Achteln und Sechzehnteln folgt, so dass diese ansteigende Bewegung einen fast dramatischen Anflug bekommt. So verharrt sie bei den Worten „Magst an Spotten nach Gefallen“ jeweils deklamatorisch zweimal auf einer in Sekunden von einem tiefen „Es“ an sich hebenden tonalen Ebene und geht dann in ein lebhaftes Auf und Ab über, das mit einem aus einer langen Dehnung in hoher Lage hervorgehenden Quintfall bei dem Wort „leiden“ endet. Das Klavier begleitet diese lebhaft sich entfaltende melodischen Linie mit ebenfalls lebhaften Achtel-Sechzehntelfiguren, wobei sich zweimal pro Takt eine harmonische Rückung ereignet, was dem, was die melodische Linie zum Ausdruck bringt, eine starke Expressivität verleiht.


    Das ist kein in jammervoller Klage sich ergehendes lyrisches Ich, das sich hier melodisch artikuliert, wie das im vorangehenden Lied der Fall ist; es ist eines, dessen lebhaft und selbstbewusst vorgebrachte Vorwürfe gegenüber der Frau am Ende immer wieder in die Warnung münden: Spotte du nur meiner, der Liebesgott wird am Ende deiner spotten, denn die Liebe wird dich doch gewinnen.

  • Auf dem grünen Balkon mein Mädchen
    Schaut nach mir durchs Gitterlein.
    Mit den Augen blinzelt sie freundlich,
    Mit dem Finger sagt sie mir: Nein!


    Glück, das nimmer ohne Wanken
    Junger Liebe folgt hienieden,
    Hat mir Eine Lust beschieden,
    Und auch da noch muß ich schwanken.
    Schmeicheln hör´ ich oder Zanken,
    Komm´ ich an ihr Fensterlädchen.
    Immer nach dem Brauch der Mädchen
    Träuft ins Glück ein bißchen Pein:
    Mit den Augen blinzelt sie freundlich,
    Mit dem Finger sagt sie mir: Nein!


    Wie sich nur in ihr vertragen
    Ihre Kälte, meine Glut?
    Weil in ihr mein Himmel ruht,
    Seh´ ich Trüb und Hell sich jagen.
    In den Wind gehn meine Klagen,
    Daß noch nie die süße Kleine
    Ihre Arme schlang um meine;
    Doch sie hält mich hin so fein -
    Mit den Augen blinzelt sie freundlich,
    Mit dem Finger sagt sie mir: Nein!


    Der Zauber, der von dem einleitenden Bild ausgeht, prägt den Charakter dieses Liedes, das seinerseits mit seiner beschwingten Melodik und seinem von Lauten- oder Panderoklang geprägten und beflügelten Klaviersatz zu bezaubern und in Bann zu schlagen vermag. Es entstand am 12. Dezember 1889 in Perchtoldsdorf, steht in A-Dur als Grundtonart, und ein Zwölfachteltakt liegt ihm zugrunde. „Leicht bewegt, anmutig“ soll es vorgetragen werden.


    Das Lied weist eine deutlich ausgeprägte Binnengliederung auf. Auf eine von kantabler Melodik geprägte und in Dur harmonisierte Passage folgt eine, in der die melodische Linie in lebhafteren Bewegungen einen größeren tonalen Raum durchläuft, wobei Moll-Harmonik dominiert. Und das wiederholt sich dann noch einmal. Die Liedmusik auf den ersten vier Versen kehrt in identischer Form bei der Versgruppe 7 bis 10 der zweiten Strophe wieder („Immer nach dem Brauch der Mädchen…“), und diejenige, die auf den letzten drei Versen liegt („Doch sie hält mich hin so fein…“) weicht in der Struktur der Melodik zwar vom Liedanfang (Vers 1-4) ab, greift aber deren Gestus auf und auch den des Klaviersatzes. Auch die Harmonik ist eine andere: Zwar herrscht auch hier wieder das Tongeschlecht Dur vor, allerdings nicht wie in beiden Vers-Vierergruppen A-Dur, das über Cis Dur nach E-Dur moduliert, sondern die Harmonik setzt mit H-Dur ein und moduliert über D-Dur nach A-Dur.


    In dieser Binnenstruktur reflektiert das Lied die Grundhaltung des lyrischen Ichs, wie sie sich in den drei Strophen artikuliert. Es ist ein Hin- und Her-Gerissen-Sein zwischen „Glück“ und „Pein“, zwischen eigener „Glut“ und der „Kälte“, die vermeintlich von dem „Mädchen“ ausgeht. Das lyrische Ich sieht „Trüb´ und Hell sich jagen“, und seine Klagen darüber, dass „die süße Kleine“ noch nie ihre Arme um seine schlang, fruchten nichts. Schon die so stark prägende, weil sich ja wiederholende Liedmusik auf den ersten vier Versen lässt dieses „Dilemma“ des lyrischen Ichs vernehmen. Nach einer achtmaligen Repetition eines „Cis“ in mittlerer Lage geht die melodische Linie in ein Auf und Ab über und beschreibt am Ende, bei dem Wort „Gitterlein“ einen Quintfall, dem eine Sieben-Achtel-Pause folgt. Das Klavier hat schon vor der Singstimme mit der Artikulation seiner für dieses Lied so typischen Figuren eingesetzt: Arpeggierte Akkorde im Bass und eine Folge von Achteln und Sechzehntel, die sich wellenartig auf und ab bewegen und in die Triolen eingelagert sind. Daraus schält sich eine melodische Linie heraus, die dem Klaviersatz – und das ist ein wesentliches Merkmal dieses Liedes- eine hohe Eigenständigkeit verleiht. Das Klavier entfaltet seine Begleitung in völlig autonomer Weise, und nicht nur bei dieser Versgruppe, sondern auch bei den sechs, bzw. sieben Versen der Strophen zwei und drei, die sich in ihrer Klanglichkeit davon abhebt, wiederholt das Klavier bestimmte melodische Figuren, die eben diese Eigenständigkeit des Klaviersatzes besonders hervorheben.


    Bei den Worten „Mit den Augen blinzelt sie freundlich“ geht die melodische Linie in eine Aufwärtsbewegung über und läuft am Ende wellenartig aus. Der Sekundfallt auf dem Wort „blinzelt“ wird dabei mit einem Vorschlag deklamiert. Das Klavier begleitet hier ausschließlich mit nach oben laufenden Achteln und Sechzehnteln, wobei nun an die Stelle des anfänglichen A-Durs ein Cis-Dur getreten ist. Die Worte „mit dem Finger sagt sie mir: Nein“ werden silbengetreu auf einem hohen „Eis“ deklamiert, das zu einem „E“ abfällt. Am Ende macht die melodische Linie nach einer kleinen Dehnung bei dem Wort „sagt“ eine Kombination aus kleinem Terzsprung und großem Quintfall mit Dehnung auf dem Wort „Nein“. Hier rückt die Harmonik nach E-Dur, zuvor aber hat sie – eben weil die Liedmusik die Situation des lyrischen Ichs reflektiert- bei den Worten „mit dem Finger“ das Tongeschlecht Moll gestreift. Gleichwohl wirkt die Liedmusik auf diesen vier Versen überaus anmutig: Hier artikuliert sich ein Liebender in kantabler Melodik, und das Klavier begleitet mit lautenhaft anmutenden und spanischen Sardana-Klang imaginierenden Figuren.


    Nach einem zweitaktigen Zwischenspiel, in dem das Klavier wieder seine sich aus den Achtel-Sechzehntel-Figuren herausschälende Melodie erklingen lässt, nimmt die melodische Linie mit den Worten „Glück, das nimmer ohne Wanken“ einen neuen Ton an. Sie wird nun forte deklamiert und ist vorwiegend in Moll (cis-Moll hauptsächlich) harmonisiert, das aber immer wieder einmal kurz nach Dur rückt. Die melodische Linie bewegt sich in nun lebhafteren Schritten über größere tonale Räume auf und ab, wobei ihr allerdings der zugrundeliegende Zwölfachtel-Rhythmus eine gewisse Weichheit verleiht. Bei den für die lyrische Aussage wichtigen Worten kommt es zu Aufgipfelungen und Tonrepetitionen in hoher Lage, so bei „Glück“, „junger Liebe“, „eine Lust“ und „Schmeicheln“. Am Ende, bei dem Wort „Fensterlädchen“, beschreibt die melodische Linie aus einer Art Achtel-Anlauf heraus einen lang gedehnten Sekundsprung in hoher Lage, der auf der letzten Silbe des Wortes in einen veritablen Oktavfall übergeht, der überdies, um die Expressivität zu steigern und zum nächsten Liedteil überzuleiten (der aus der Wiederholung des Anfangs besteht), mit einer Rückung von Moll nach A-Dur verbunden ist. Das Klavier setzt seinerseits in diesem Teil des Liedes immer wieder einen Akzent durch einen Sechzehntel-Anlauf, der in einen arpeggierten Akkord mündet.


    Auch am Ende des Liedteils auf den ersten sieben Versen der dritten Strophe mündet die melodische Linie wieder in eine lange Dehnung. Und das ist auch verständlich, geht es doch hier um den Wunsch des lyrischen Ichs, dass die Geliebte ihre Arme um seine schlingen möge. Die Dehnung liegt ausschließlich auf dem Wort „meine“ und besteht aus einem sich über mehr als einen Takt erstreckenden kleinen Sekundfall, der wieder um eine Sekunde ansteigt um schließlich in deine doppelte Sekundfallbewegung überzugehen, Auch hier ereignet sich wieder eine Rückung nach Dur, denn es folgte der letzte Teil des Liedes, bei dem die melodische Linie in H-Dur harmonisiert ist.


    Er setzt mit den Worten ein „Doch sie hält mich hin so fein.“ Auf den ersten beiden Versen liegt je eine Melodiezeile, allerdings ist die auf den Worten „mit den Augen blinzelt sie freundlich“ durch eine mehr als halbtaktige Pause von der ersten abgesetzt. Dieses Verfahren, einer melodischen Aussage größeres Gewicht zu verleihen, indem sie durch eine Pause exponiert wird, steigert Wolf noch beim letzten Vers. Auf den Worten „mit dem Finger“ liegt eine kleine, mit einem doppelten Sekundsprung ansteigende Melodiezeile. Eine Dreiachtelpause folgt. Die Worte „sagt sie mir“ werden dann auf einem lang gehaltenen hohen „Cis“ deklamiert, das am Ende (bei „sie mir“) in eine Kombination aus Sekund- und Quintfall übergeht. Nach einer neuerlichen Pause deklamiert die Singstimme das Wort „Nein“ auf einem lang gehaltenen „A“ in mittlerer Lage. Es erhält auf diese Weise großes Gewicht, erklingt allerdings im Piano.
    Das Klavier begleitet bei diesem Schlussteil des Liedes die melodische Linie wieder mit seinen Achtel-Sechzehntel-Folgen über arpeggierten Akkorden im Bass. Und darin ergeht es sich auch im viertaktigen Nachspiel.

  • Wenn du zu den Blumen gehst,
    Pflücke die schönsten, dich zu schmücken.
    Ach, wenn du in dem Gärtlein stehst,
    Müsstest du dich selber pflücken.


    Alle Blumen wissen ja,
    Daß du hold bist ohne gleichen.
    Und die Blume, die dich sah -
    Farb´ und Schmuck muß ihr erbleichen.


    Wenn du zu den Blumen gehst,
    Pflücke die schönsten, dich zu schmücken.
    Ach, wenn du in dem Gärtlein stehst,
    Müsstest du dich selber pflücken.


    Lieblicher als Rosen sind
    Die Küsse, die dein Mund verschwendet,
    Weil der Reiz der Blumen endet,
    Wo dein Liebreiz erst beginnt.


    Wenn du zu den Blumen gehst,
    Pflücke die schönsten, dich zu schmücken.
    Ach, wenn du in dem Gärtlein stehst,
    Müsstest du dich selber pflücken.


    Man kann wohl guten Gewissens sagen, dass es sich bei diesem Lied um eines der schönsten Liebeslieder handelt, die je komponiert wurden Die melodische Linie vor allem der dreimal auftretenden Hauptstrophe wirkt volksliedhaft einfach und erschließt sich dem näheren Hinblick als liedmusikalisch höchst kunstvolles Gebilde, vor allem wenn sie im Kontext des Klaviersatzes betrachtet wird. Darin erweist sich das Lied als Werk eines Hugo Wolf. Er komponierte es am Nachmittag des ersten November 1889. Es steht in A-Dur-als Grundtonart, weist einen Vierachteltakt auf und soll „Anmutig fließend, in sehr mäßigem Tempo“ vorgetragen werden.


    Erik Werba sieht in diesem Lied das „Gegenstück zu dem feminin empfundenen Ausgangslied des Italienischen Liederbuchs >Auch kleine Dinge können uns entzücken<“. Das kann man durchaus so sehen, haben doch beide Lieder die sich in lieblicher Schlichtheit entfaltende und den daneben eigenständigen melodisch konturierten Klaviersatz gemeinsam. Man möchte aber meinen, dass hier dieses Zusammenspiel von melodischer Linie und Klaviersatz aus dem Gestus der Eigenständigkeit heraus noch kunstvoller gestaltet ist.


    Der Aufbau der Komposition ist so angelegt, dass sich eine Anmutung von Strophenlied einstellt. Dies deshalb, weil die Liedmusik auf der nicht nur den Rahmen bildenden, sondern in der Liedmitte noch einmal erklingenden Eingangsstrophe weitgehend identisch ist. Nur in ihrer Rolle als Schlussstrophe weicht sie – aus Kadenz-Gründen – beim letzten Vers von der Faktur der beiden anderen Strophen ab. Auch dies ist ein strukturelles Merkmal, das das Lied in die Nähe zur Volksliedhaftigkeit rückt, ebenso wie die Harmonik. Denn diese bewegt sich in ihren Modulationen, von kleinen Ausnahmen abgesehen, im wesentlichen zwischen Tonika, Dominante und Subdominante.


    Wie immer ist es im Grunde nicht möglich den klanglichen Zauber, der vor allem von der Liedmusik der Hauptstrophe ausgeht, mit Worten zu fassen. Man kann nur auf strukturelle Merkmale verweisen, die möglicherweise als Quelle in Frage kommen. Da ist eine Melodik, die in den beiden Zeilen, aus denen sie sich zusammensetzt, so angelegt ist, als halte die melodische Linie in ihren behutsamen Bewegungen erst einmal inne, bevor sie zu lebhafterer und mit kleinen Melismen angereicherter Bewegung übergeht, - und in diesem Gestus das temporal-konditionale sprachliche „wenn“ reflektiert. Gleichzeitig greifen die beiden Zeilen wieder so ineinander, dass sie zusammen eine Einheit bilden, und das deshalb, weil die erste auf der Dominante endet und die melodische Linie bei der zweiten ohne Pause anschließt. Das Wort „Blumen“ erhält durch eine bogenförmige Sechzehntelfigur einen zarten Akzent, und dem geistvollen Witz, der in der Metapher vom „Sich-selber-Pflücken“ steckt, wird die melodische Linie dadurch gerecht, dass sie auf dem Wort „müßtest“ lange innehält, um danach mit einem Sechzehntel-Sekundfall in eine wellenartige Bewegung überzugehen, die in tiefer Lage endet.


    Einen ganz wesentlichen Anteil an dem klanglichen Zauber dieser Strophe hat auch das Klavier. Im Diskant und im Bass lässt es eine eine fließende Folge von Sechzehnteln und Achteln erklingen, die sich ganz und gar eigenständig, zum Teil gar gegenläufig entfaltet. Aber bei aller Eigenständigkeit des Klaviersatzes: Er nimmt keine Kontraposition zur melodischen Linie ein, folgt dieser vielmehr oft andeutungsweise in ihren Bewegungen und bettet sie behutsam in seine reizvolle Klanglichkeit ein. Bei den Anfangsworten folgt er den Sekundschritten der melodischen Linie mit Terz- und Quartsprüngen im Diskant und setzt dann bei dem Wort „Blumen“ ihre Fallbewegung fort, wenn sie bei dem Wort „Gehst“ kurz in Gestalt einer Viertelnote innehält. Bei der auf einem hohen „E“ ansetzenden und dann in eine Fallbewegung übergehenden melodischen bei den Worten „Ach, wenn du in dem Gärtlein stehst…“ folgt das Klavier ebenfalls dieser Bewegung, es verleiht dem Wort „Ach“ aber einen besonderen klanglichen Akzent, indem es auf einem sehr hohen zweigestrichenen „E“ einsetzt.


    Die Strophen zwei und vier weisen eine je eigene Liedmusik auf, der allerdings gemeinsam ist, dass sich die melodische Linie nicht nur lebhafter bewegt als in der Hauptstrophe, sondern dabei auch größere tonale Räume durchmisst. Die Nähe zur lyrischen Sprache, die für Wolfs Liedmusik so typisch ist, macht dies erforderlich, denn in diesen Strophen findet sich nicht nur eine größere Fülle an lyrischen Aussagen, sie sind teilweise auch nicht-metaphorisch angelegt, - wie etwa das konstatierende „Alle Blumen wissen ja, / Daß du hold bist ohne gleichen“. Auch der Klaviersatz weist eine leicht modifizierte Struktur auf: Zwar dominieren auch hier die Sechzehntel- und Achtelfolgen, sie sind jedoch nicht nur stärker mit bitonalen Akkorden durchsetzt und wirken f damit klanglich komplexer, der Klaviersatz weist auch stärkere Eigenständigkeit auf, indem er der melodischen Linie zwar auch hier teilweise folgt, jedoch auch dort in seinen Bewegungen fortfährt, wo sie eine kurze Pause macht oder sich einer Dehnung überlässt.


    Die hingebungsvolle Verehrung, die der lyrische Text zum Ausdruck bringt, hat Wolf dazu veranlasst, den ohnehin schon so zarten und lieblichen Ton des Liedes am Ende noch zu steigern. Bei den Worten „Müsstest du dich selber pflücken beschreibt die melodische Linie, darin abweichend von den beiden anderen Strophen, auf dem Wort „müsstest“ einen aus einer Dehnung in hoher Lager erfolgenden Septfall, der sofort wieder in einen Sextsprung mit langer Dehnung auf dem Wort „du“ übergeht. Auch auf dem Wort „selber“ ereignet sich noch einmal ein Sextfall mit nachfolgendem Terzsprung und Dehnung auf dem Wort „pflücken“. Der geistvolle Witz dieses Bildes erfährt auf diese Weise noch eine Hervorhebung. Auf dem Wort „pflücken“ liegt eine lange Dehnung in Gestalt des Grundtons „A“., von der sich die melodische Linie kurz mit einem Doppel-Sekundschritt erhebt, um dann wieder zurückzufallen. Diese melismatische Geste der Melodik übernimmt auch das Klavier, und dies in klanglich höchst reizvoll- lieblicher Art: Aus einem sich zu einer Quinte verengenden bitonalen Sechzehntel-Akkord, der drei Mal erklingt, leuchtet eine hohe bitonale Terz auf, die in eine Fallbewegung von Einzeltönen übergeht. Sie fügt dem Bild auf höchst reizvolle, weil als klanglicher Schimmer sich ereignende Anmutung von Zärtlichkeit hinzu. Und über eine terzenbetonte Akkordfolge klingt das Lied dann auch im zweitaktigen Nachspiel aus.

  • Die Versuchung war groß, eben weil es sich hier um ein klanglich faszinierendes Lied ("eines der zartesten, poetischsten Liebesbekenntnisse, die jemals gesungen worden sind", wie Reclams Liedführer meint) handelt, das sich im Raum des „Spanischen Liederbuches“ ein wenig fremd ausnimmt, weil es eigentlich Mörike-Lieder-Geist atmet, ausnahmsweise einen Link zu einer herausragenden gesanglichen Interpretation herzustellen. Es ist die von Elisabeth Schwarzkopf, begleitet von Gerald Moore.


    https://www.youtube.com/watch?v=cpNf4uCq_uo


    Ich konnte dieser Versuchung nicht widerstehen, weil gerade in diesem Fall die Hoffnung übermächtig wurde, dass es vielleicht doch, anlässlich dieses besonderen Liedes, aus Kreisen des Forums einen Kommentar geben könnte.

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